Читать книгу Scarlett Taylor - Stefanie Purle - Страница 6
Kapitel 4
ОглавлениеMit dem Karton auf dem Beifahrersitz fahre ich in meinem schwarzen Panther zurück zu Chris´ Haus. Ich bin gerade in den Wald hineingefahren, als ich im Augenwinkel einen weißen Fleck in den Baumwipfeln entdecke. Lächelnd halte ich an und blicke nach oben zu meinem Eichhörnchen Queenie. Es klettert im Zickzack den Baumstamm herunter und bleibt alle paar Meter stehen, um in meine Richtung zu blicken. Ich stelle den Motor ab und steige aus. Vogelgezwitscher begleitet mich auf meinem Gang durch die kniehohen Büsche und ein paar Gnome blicken mich grinsend aus ihren Kastaniengesichtern an.
„Hey Queenie“, begrüße ich mein Schutztier, als ich vor dem Baumstamm stehenbleibe.
Es klettert zuckend hinab und verharrt auf meiner Augenhöhe. Seine kleinen rosa Augen blinzeln und blicken abwechselnd von meiner Hand in mein Gesicht.
„Du willst eine Nuss haben, stimmt´s?“, flüstere ich leise und greife in meine Manteltasche, die ich seit ein paar Monaten immer wieder mit Nüssen auffülle.
Ich reiche ihr eine Erdnuss, die sie mit ihren winzigen rosa Pfötchen entgegennimmt. Während sie mit dem Aufknacken der Schale beschäftigt ist, streiche ich mit zwei Fingerspitzen zart über ihr struppiges Rückenfell. Es hat gedauert, bis ich sie berühren durfte, aber seit ein paar Wochen lässt sie es zu. Ein paar Momente bleibt sie auf Augenhöhe, doch als sie die Nuss in ihre Backentaschen gestopft hat, flitzt sie wieder den Stamm empor.
Ich blicke ihr nach und schaue zu, wie sie im Zickzack hochklettert, als ein weiterer weißer Fleck in den Baumwipfeln meine Aufmerksamkeit erregt.
Angestrengt blinzle ich gegen die Mittagssonne und versuche auszumachen, um was es sich handelt. Als ich es endlich erkenne, falle ich fast rückwärts hin vor Schreck!
Queenie krabbelt auf den Ast direkt unter dem weißen Tier und blickt zu mir herunter, als ob sie sichergehen will, dass ich ihre neue Freundin auch sehe.
„Matilda“, flüstere ich und schirme meine Augen von der Sonne ab. „Matilda, bist du es wirklich?“
Die weiße Fledermaus über Queenie antwortet mir natürlich nicht, aber ihre schwarzen Knopfaugen sind auf mich gerichtet. Sie breitet langsam ihre Schwingen aus und hebt ab. Hoch über mir verharrt sie mit kräftigen Flügelschlägen und schaut auffordernd zu mir herab.
„Soll ich dir folgen?“, rufe ich ihr verdutzt entgegen, woraufhin sie zu kreisen beginnt.
Ich verabschiede mich hastig von Queenie und renne zurück zu meinem Auto. Aus der Windschutzscheibe kann ich die weiße Fledermaus kreisen sehen und in mir macht sich die Hoffnung breit, dass Roberta sie geschickt hat. Mit zitternden Händen starte ich den Motor und fahre los, wobei ich immer wieder gen Himmel schaue, wo sich der weiße Fledermauskörper vom Grau des Himmels abzeichnet.
Nach ein paar hundert Metern komme ich mit meinem Wagen nicht mehr weiter. Ich steige aus und laufe der Fledermaus zu Fuß hinterher. Sie steigt höher und gleitet dann im Sinkflug wieder in die Tiefe. Nachdem sie dieses Manöver zum dritten Mal wiederholt hat, ist sie aus meinem Blickfeld verschwunden.
Tief inmitten des Waldes stehe ich nun, drehe mich suchend um meine eigene Achse und rufe immer wieder nach Matilda und Roberta. Aber keiner von beiden antwortet oder taucht auf. Ich suche die Gegend ab, doch außer Büschen und Bäumen kann ich nichts entdecken.
Je länger ich dort verloren stehe, umso mehr Zweifel kommen in mir hoch. War das überhaupt Matilda, das Schutztier von Roberta? Ich habe sie vorher noch nie gesehen, kennen nur die Erzählungen meiner Tante. Vielleicht war es bloß eine gewöhnliche Gespenster-Fledermaus und ich habe sie selbst verscheucht, indem ich sie minutenlang verfolgt habe.
Selbst wenn es Matilda war, so hat sie mich dann doch nur zu einem leeren Waldstück geführt, auf dem sich kein Anzeichen magischer Aktivität befindet.
Enttäuscht trete ich den Rückzug an, wobei ich allerdings immer weiter Ausschau nach Matilda, Roberta oder irgendeiner magischen Spur halte. Doch ich begegne nichts von alledem.
Ich wende meinen Wagen und fahre zurück zu Chris´ Haus. Sein Transporter steht nicht auf der Einfahrt, also bin ich eine Zeitlang allein. Meinen Karton trage ich in das Büro im Erdgeschoss, wo Chris mir Platz für meine vielen magischen Bücher gemacht hat. Sie liegen in Stapeln auf dem riesigen Schreibtisch und verbreiten einen muffigen Geruch. Wo auch immer mein Vater diese Bücher all die Jahrhunderte versteckt hat, es hat dort nicht sonderlich gut gerochen. Ich stelle den Pappkarton aus meiner Wohnung in eine Ecke und gehe auf den Schreibtisch zu. In einige der alten Bücher kleben haufenweise neonfarbene Klebezettel von mir. Sie markieren Dinge und Themen, die ich noch weiter recherchieren möchte. Ich fahre mit dem Finger über die Buchrücken, auf der Suche nach einem ganz bestimmten Buch. Umständlich ziehe ich eines der unteren Bücher heraus und setze mich damit vor den Schreibtisch.
Auf dem Einband steht: „Schutztiere und Schutzgeister.“ Ich schlage es auf und blättere mich durch die zerknitterten, vergilbten Seiten. Die ersten Kapitel befassen sich mit den verschiedenen Arten von Schutztieren. Jedes Albinotier kann das Schutztier einer weißen Hexe werden, aber nicht nur die, sondern auch Tiere, die von Natur aus weiß oder hellgrau sind. Zum Beispiel Polarfüchse, weiße Katzen oder Tauben. Aber auch die Gespenster-Fledermaus, so wie Matilda.
Auf der Seite, die sich mit Gespenster-Fledermäusen befasst, finde ich keine brauchbaren Informationen, nur eine Liste mit weißen königlichen Hexenblütlern, die in der Vergangenheit dieses Tier als Schutztier hatten. Ganz unten steht Robertas Name und das Jahr, in dem sie geboren wurde. Je länger ich mir die Zeichnung dieser Fledermaus-Gattung besehe, umso sicherer bin ich mir, dass das Tier, welches ich im Wald gesehen habe, wirklich eine Gespenster-Fledermaus war. Die langen, spitzen Ohren, und das hervorstehende Nasenblatt, das fast wie ein Stachel oder Horn wirkt, sind unverwechselbar.
Ich hole mein Handy hervor und gebe „Fledermaus“ in die Bildersuche ein, aber keines davon hat Ähnlichkeit mit dem Tier aus dem Wald.
Wieder blättere ich in dem Buch, bis ich endlich an eine Stelle komme, die den Tod der weißen Hexe behandelt.
„Stirbt das weiße Hexenblut, so stirbt auch das Schutztier. Der Zeitpunkt des Todes der Hexe, ist auch der Zeitpunkt des Todes des Schutztieres. Die Hexe schenkt dem Schutztier die Lebenskraft. Mit ihrem Tode erlischt sie.“
Wieder und wieder lese ich diesen Absatz. Mein zukünftiges Ich hatte also doch recht, auch wenn Elvira mir nicht glauben will! Matilda lebt, also lebt auch Roberta! Und der Beweis dafür zog vor ein paar Minuten noch ihre Kreise in den Lüften über meinem Kopf!
Zwar weiß ich nicht, wie das möglich sein kann, da ich selbst Zeuge war, wie mein Vater Roberta mit einem schwarzen Blitz getötet hat, aber Matilda ist der Beweis! Ich spüre förmlich, wie all die Zweifel von mir abfallen und Platz für neue Hoffnung machen.
Wenn Roberta also noch lebt, dann besteht die Chance, dass sie meine Mutter aus dem Wachkoma holen kann! Und nicht nur das, Roberta könnte mir sicherlich helfen, Mario zu finden. Vielleicht weiß sie auch, wie wir das Schloss meines Vaters aufspüren und ob ich das, was ich in den alten Büchern darüber gelesen habe, richtig verstanden habe.
Ich brauche Roberta! Sie ist meine Tante, meine Mentorin und Freundin! Auch wenn ihre schroffe und unberechenbare Art nicht immer leicht war, so ist sie doch ein Stück meiner kleinen Familie.
Also klappe ich das Buch zu, ziehe mir meinen Mantel wieder über und renne erneut nach draußen. Ich flitze in den Wald, husche um die Baumstämme und winde mich durch die hohen Büsche, bis ich wieder an der Stelle angelangt bin, wo ich Matilda verloren habe. Nun, da ich ganz sicher bin, dass es sich wirklich um Matilda gehandelt hat, rufe ich sie erneut. Ich rufe und rufe, bis meine Stimme kratzig und heiser wird, wobei ich hin und herlaufe und nach etwas suche, worauf Matilda mich vielleicht aufmerksam machen wollte.
Suchend und rufend stapfe ich durch den Wald, bis die Abenddämmerung einsetzt und ein warmes Gefühl auf meinem Brustbein mir verrät, dass Chris nach mir sucht. Wenige Sekunden später klingelt auch schon mein Handy in meiner Hosentasche. Natürlich ist es Chris.
„Hey Scarlett, wo bist du?“, fragt er.
Ein wenig außer Atem und mit den Augen weiter die Baumwipfel absuchend antworte ich: „Im Wald. Ich habe Matilda gesehen, kann sie aber nicht wiederfinden.“
Kurz ist Stille am anderen Ende. „Wo genau bist du, ich komme und helfe dir suchen.“
„Nein, das brauchst du nicht extra“, wiegele ich ab, doch Chris besteht darauf.
„Es wird langsam dunkel, Scarlett. Und außerdem habe ich noch immer den Geruchssinn eines Wolfes. Wenn dir also einer helfen kann, dann ich. Also, wo bist du ungefähr?“
Ich blicke mich um und suche die Sonne. „Westlich vom Haus im Wald.“
„In Ordnung, ich bin gleich bei dir“, sagt er und legt auf.
Ich stecke das Handy zurück in meine Hosentasche und lehne mich an einen Baumstamm. Vielleicht ist es gar keine so schlechte Idee, dass mein Mannwolf mir bei der Suche hilft. Einerseits will ich ihn nicht damit belasten, da er gewiss andere Dinge zu erledigen hat, als einer Fledermaus hinterherzujagen, aber ich weiß auch, dass er meinem zukünftigen Ich genauso viel Glauben schenkt, wie ich.
Es dauert nur wenige Minuten und Chris erscheint in seiner Mannwolfgestalt neben mir. Anstatt mich, wie sonst auch, zur Begrüßung zu küssen, lächelt er mich bloß an. Er denkt noch immer, dass ich seine Mannwolfgestalt abstoßend finde. Aber das stimmt nicht. Ich lege die Hände um seinen Nacken und ziehe ihn zu einem kratzigen Kuss herab. Er ist mein Gefährte und ob nun in menschlicher oder in Mannwolfgestalt, ich liebe ihn.
Chris reckt die Nase und beginnt zu riechen. Tiefe Atemzüge heben und senken seine Brust, bis er schließlich nickt.
„Hier ist ein Tier, welches nicht in diesen Wald gehört. Ich kann es riechen.“