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2.1 Literatur und Geschichtsschreibung im 18. Jahrhundert

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In seinem Versuch einer Critischen Dichtkunst entwirft Johann Christoph Gottsched unter Berufung auf Aristoteles ein Mimesis-Konzept, das den Poeten als »geschickte[n] Nachahmer aller natürlichen Dinge« begreift.1 Dieser wirklichkeitsimitierende Charakter der Dichtung, so Gottsched, dürfe jedoch nicht voreilig zu einer Gleichsetzung von Dichter und Geschichtschreiber verleiten, denn:

Ein Geschichtsschreiber soll nicht nachahmen, was die Menschen zu thun pflegen oder wahrscheinlicher Weise getan haben koennten, thun sollten, oder thun wuerden, wenn sie in solchen Umstaenden befindlich waeren: sondern man fordert von ihm, daß er getreulich dasjenige erzaehlen solle, was sich hier und da, fuer Begebenheiten zugetragen haben.2

Hier schließt sich ein Vergleich des Dichters mit dem Geschichtsschreiber an, der um eine deutliche Aufwertung der Poesie bemüht ist, da diese, wie Gottsched bereits in seiner Schauspiel-Rede (1729) betont, gerade aufgrund der ihr inhärenten Möglichkeit, Begebenheiten hinzuzuerfinden, »noch lehrreicher als die bloße Historie« sei.3 Wie annähernd sämtliche Dichtungstheoretiker des 18. Jahrhunderts beruft sich auch Gottsched auf die aristotelische Poetik und die dort vorgenommene Differenzierung von Geschichtsschreibung und Dichtung:

Aufgrund des Gesagten ist auch klar, dass nicht dies, die geschichtliche Wirklichkeit <einfach> wiederzugeben, die Aufgabe des Dichters ist, sondern etwas so <darzustellen>, wie es gemäß <innerer> Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit geschehen würde, d.h., was <als eine Handlung eines bestimmten Charakters> möglich ist.

Denn ein │Historiker und ein Dichter unterscheiden sich nicht darin, dass sie mit oder ohne Versmaß schreiben […], der Unterschied liegt vielmehr darin, dass der eine darstellt, was geschehen ist,│der andere dagegen, was geschehen müsste. Deshalb ist die Dichtung auch philosophischer und bedeutender als die Geschichtsschreibung. Die Dichtung nämlich stellt eher etwas Allgemeines, die Geschichtsschreibung Einzelnes dar.4

Gottsched unterstreicht die Aufwertung der Dichtkunst durch Aristoteles und verbindet dessen Urteil mit der eigenen Poetik der Nachahmung und dem Wirkungspostulat moralischer wie sittlicher Besserung. Während die Geschichtsschreibung dem »großen Haufe der Menschen viel zu mager und zu trocken« sei, vergegenwärtige die Dichtung gerade das »Mittel zwischen einem moralischen Lehrbuche, und einer wahrhaftigen Geschichte«, und ist, mit Gottsched »so erbaulich, als die Moral und so angenehm, als die Historie; sie lehret und belustiget, und schicket sich fuer Gelehrte und Ungelehrte«.5 Die Historie, bei Gottsched in ihrer zeitgenössisch typischen Bedeutung von ›Geschichtsschreibung, Geschichtsforschung, Geschichtsphilosophie und -theorie‹ verwendet,6 erzähle hingegen

lauter besondre Begebenheiten, die sich das tausendstemal nicht auf den Leser schicken; und wenn sie sich gleich ohngefaehr einmal schickten; dennoch viel Verstand zur Ausdeutung bey ihm erfordern wuerden.7

Deutlich wird, dass Gottsched hier von einem eng gefassten Geschichtsbegriff ausgeht, der Geschichte als die Summe einzelner Geschichten begreift – »lauter besondre Begebenheiten« eben, die noch auf keinen übergeordneten kohärenzstiftenden Kollektivbegriff verweisen, sondern das subjektiv Erfahrene lediglich aneinanderreihen.

Die deutliche Bevorzugung der Dichtung vor der Geschichtsschreibung entspricht einem zeitgenössischen Konsens: Einen informativen Überblick über die anerkanntesten Poetiken des 18. Jahrhunderts (Gottsched, Bodmer, Breitinger, Batteux/Ramler, Lessing) stellt Michael Meyer seiner Dissertation zur Entstehung des historischen Romans voran. Er untersucht deren Abgrenzungsversuche von der zeitgenössischen Geschichtsschreibung und kommt zu dem Ergebnis, dass die Dichtung insgesamt als die der Historiografie überlegene Gattung bewertet wird, sowohl in poetischer wie auch in moralischer und philosophischer Hinsicht. Während sich die Autoren, so Meyer, meist einig seien in ihrer Ablehnung einer ›poetischen‹ Form’ der Geschichtsschreibung, räumen sie der Dichtung durchaus die Möglichkeit ein, ihrerseits historische Stoffe zu verwenden.8

Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang, wie Gottsched mit der Einsicht umgeht, dass Geschichte und Literatur durch die sie jeweils ausmachenden narrativen Strukturen unweigerlich verbunden sind. Er fasst die unter Umständen durchaus ›poetisch‹ anmutenden Eigenarten der Geschichtschreibung explizit nicht als Merkmal derselben auf, sondern wertet sie gleichsam als ›Fremdanleihen‹ aus der Dichtkunst, denn: »[N]icht alles, was ein Geschichtsschreiber thut; das thut er als ein Geschichtsschreiber.«9 Zwar müsse der Historiograf nach Gottsched auch die »Regeln der Sprachkunst« berücksichtigen, dies aber nicht, weil die Rhetorik tatsächlich »zum Wesen der Historie« gehöre, sondern die Geschichtsschreibung auf eine ihrem Wesen genuin fremde Grammatik angewiesen sei, die wie die Dichtkunst bestimmten Regeln unterliege.10 Gerade »Bilder und erdichtete[] Reden, so in Geschichtsbüchern vorkommen« sind nach Gottsched keineswegs selbstverständlicher Bestandteil der Historie, sondern vielmehr »poetische Kunststuecke, die ein Geschichtsschreiber nur entlehnet, um seine trockene [sic] Erzaehlungen dadurch ein wenig anmuthiger zu machen.«11 Geschichtsschreibung, so lautet die Schlussfolgerung Gottscheds, ist qua natura nicht poetisch – sollte sie dennoch versuchen es zu sein, belege dies nur ihre erneute Unterlegenheit der Dichtkunst gegenüber, da der Historiker offenbar »einer andern Kunst Huelfe braucht, seine Arbeit zur Vollkommenheit zu bringen.«12 Dieses Streben nach poetischer Vollkommenheit bleibt mit Gottsched ausschließlich dem Dichter vorbehalten, »weil es einem aufrichtigen Verfasser historischer Nachrichten nicht zusteht; das geringste in den wahren Begebenheiten zu aendern, auszulassen oder hinzuzusetzen.«13

Hier fällt Gottsched ein Urteil, das ihn – ungeachtet ihrer Auseinandersetzungen in poetologischen und wirkungsästhetischen Fragen – mit Gotthold Ephraim Lessing verbindet, der in seinem 52. Literaturbrief (1759) ebenfalls Dichter und Geschichtsschreiber voneinander abgrenzt:

Ich kann Ihnen nicht Unrecht geben, wenn Sie behaupten, daß es um das Feld der Geschichte in dem ganzen Umfange der deutschen Litteratur, noch am schlechtesten aussehe. Angebauet zwar ist es genug; aber wie? – Auch mit Ihrer Ursache, warum wir so wenige, oder auch wohl gar keinen vortrefflichen Geschichtschreiber aufzuweisen haben, mag es vielleicht seine Richtigkeit haben. Unsere schönen Geister sind selten Gelehrte, und unsere Gelehrte selten schöne Geister. Jene wollen gar nicht lesen, gar nicht nachschlagen, gar nicht sammlen [sic!]; kurz, gar nicht arbeiten: und diese wollen nichts, als das. Jenen mangelt es am Stoffe, und diesen an der Geschicklichkeit ihrem Stoffe eine Gestalt zu erteilen.

Unterdessen ist es im Ganzen recht gut, daß jene sich gar nicht damit abgeben, und diese sich in ihrem wohlgemeinten Fleiße nicht stören lassen.14

Geschichte meint mit Lessing das vergangene Geschehen (res gestae), das als Sujet einer Erzählung unweigerlich zum »Umfange der deutschen Literattur« gezählt werden müsse. Die Differenzierung zwischen wissenschaftlich-historischen und historisch-fiktionalen Texten geht bei ihm in dem der Dichtung zugeordneten Begriff der Erzählung auf. Dennoch ist auch Lessing, hierin Gottsched folgend, um eine Ausdifferenzierung eines literarischen im Gegensatz zu einem historischen Erzählen bemüht: Diese mündet schließlich in der Erkenntnis, dass der Geschichtsschreiber den Quellen verpflichtet sei und jegliche subjektive Ausgestaltung der historischen Fakten vermeiden müsse. Entscheidend ist für Lessing, dass der »vollkommene[] Geschichtschreiber[]« die Treue den Quellen gegenüber bewahre, welche zudem nicht »so verderbt und unrein« sein dürfen,

daß man sich aus ihnen zu schöpfen scheuen muß; hier, wo man erst hundert Widersprüche zu heben und hundert Dunkelheiten aufzuklären hat, ehe man sich nur des kahlen, trokkenen Factums vergewissern kann […].15

Lessing warnt vor eben jenem Geschichtsschreiber, der die mangelnden oder unzuverlässigen Quellen durch poetisches Talent und eigene Erfindungen zu ersetzen gedenkt und seine »Vermutungen für Wahrheiten« verkaufe:

O weg mit diesem poetischen Geschichtschreiber! Ich mag ihn nicht lesen; Sie mögen ihn auch nicht lesen, als einen Geschichtschreiber wenigstens nicht; und wenn ihn sein Vortrag noch so lesenswürdig machte!16

Lessings wie Gottscheds Ausführungen belegen exemplarisch das Verhältnis von Literatur und Geschichtsschreibung in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts: Die Einsicht, dass Geschichte und Literatur gleichermaßen durch die narrative Form ihrer Repräsentation bestimmt und damit einander durchaus verwandt sind, wird als Angriff auf eine der ›Wahrheit‹ verpflichteten Historiografie wie auf den poetischen Zuständigkeitsbereich literarischer Texte gewertet. Entsprechend kommt es zu einer Idealisierung frühaufklärerischer Formen der Geschichtsschreibung, die chronikalisch arbeitet und ihre »vornehmste Aufgabe in der Erarbeitung von Herrschergenealogien, Kirchen- und Fürstengeschichten« erkennt.17 Darüber hinaus unterliegt die Historie, wie auch die Dichtkunst, wenn sie Geschichte (be-)schreibt, geltenden poetologischen Regeln – Ansprüche an Formen und Inhalte der Dichtkunst werden auf den Gegenstand der Geschichtsschreibung übertragen und verantworten ein Konkurrenzverhältnis zwischen historischer und dichterischer Darstellung, wie Gottsched und Lessing es stellvertretend beschreiben.

Aus diesem die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts noch dominierenden Konkurrenzverhältnis von Literatur und Geschichtsschreibung entwickelt sich sukzessive ein Ringen um die Selbständigkeit beider Disziplinen, die im Verlauf des 18. Jahrhunderts und endgültig erst im 19. Jahrhundert zu eigenständigen, nun auch wissenschaftlich differenzierten Fächern ausgebildet werden. Die zunächst fehlende Trennschärfe zwischen Geschichte und Dichtung macht sich insbesondere im akademischen Bereich bemerkbar, wo die Fächer nicht nur, wie etwa im Stundenplan der Jesuiten, zusammengehören, sondern die ersten Lehraufträge für Geschichte von Poetik-Professoren übernommen werden.18 Wesentliche Impulse für das Entstehen einer modernen Geschichtswissenschaft gehen dabei von der Reformuniversität Göttingen aus, die bereits in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts bekannte zeitgenössische Historiker wie August Ludwig von Schlözer, Ludwig Thimoteus Spittler, Arnold Hermann Ludwig Heeren oder Johann Christoph Gatterer versammelt und einen geschichtswissenschaftlichen Forschungsschwerpunkt entwickelt. Andernorts jedoch dominieren nach wie vor die Fächer Theologie und Jurisprudenz die akademische Ausbildung und kann sich die im universitären Betrieb als selbständiges Fach lediglich als Hilfswissenschaft etablieren.19

Als erklärtes Ziel spätaufklärerischer Historik erweist sich daher die Entwicklung fachspezifischer Methoden, insbesondere im Bereich der Quellenkritik und der Quellenedition. Zugleich wird der Geschichtsbegriff neu formuliert – im Sinne eines überzeitlichen Prozesses, der nicht in der chronikalischen Auflistung einzelner Begebenheiten, sondern in kohärenzstiftenden Erzählungen vermittelt wird. Im Übergang von der alteuropäischen zur modernen Gesellschaft kommt es dabei fachübergreifend zu einer Etablierung innovativer Begrifflichkeiten, die eine Vielzahl verstreuter Erscheinungen nun »als kontinuierliches Ganzes« präsentieren, sprachlich in Form von Kollektivsingularen erfasst. Darunter fällt auch der Geschichtsbegriff, der bis weit in das 18. Jahrhundert hinein wie bei Gottsched noch in der (zumindest gedachten) Pluralform dominiert und die moderne, polyvalente Bedeutung erst einer grundsätzlichen Neuausrichtung im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts verdankt.20 Reinhart Koselleck, der die Wandlung des Geschichtsbegriffes im Detail nachvollzogen hat, unterstreicht dessen semantische Neuorientierung, die auf dem Weg von ›den Geschichten‹ zur ›Geschichte‹ mit einem gestiegenen Abstraktionsgrad einhergeht. Das vom Subjekt individuell Erfahrene, bei Gottsched noch unter die »hier und da« zugetragene Begebenheit gefasst, verliert sukzessive an Bedeutung im Gegensatz zu einem entindividualisierten und überzeitlichen Begriff der Geschichte als

das weite Feld menschlicher Fähigkeiten, als Raum von Handel und Wandel, von tastenden und entschiedenen Versuchen, sich aus der ›selbstverschuldeten Unmündigkeit‹ (Kant) herauszuarbeiten und unter der Weisung der Vernunft den höchstmöglichen Grad an Vervollkommnung, an Perfektibilität des Menschengeschlechts zu erreichen.21

Erst der Kollektivsingular schreibt der Geschichte einen bis zu diesem Zeitpunkt kaum berücksichtigten prozesshaften Charakter ein – durch den Wandel der einzelnen Geschichte(n) zur »Geschichte überhaupt« avanciert die Geschichte vom Objekt, noch einmal mit Koselleck, »zu ihrem eigenen Subjekt«.22

Mit der Einsicht, dass Geschichte von der Form ihres Erzähltwerdens abhängig ist, gerät die narrative Form der Geschichtserzählung nun unweigerlich in den Fokus geschichtswissenschaftlicher Aufmerksamkeit. Entsprechend wird gerade der Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert als Schwellenzeit für den modernen Geschichtsbegriff wie das akademische Fach erkannt und mit der Frage nach der Repräsentation von Geschichte und ihren textuellen Verfahren eben hier angesetzt.23 Beispielhaft problematisiert Johann Martin Chladenius, durch Koselleck als »Vorbote der Neuzeit« hinreichend gewürdigt,24 in seinem Werk Allgemeine Geschichtswissenschaft, worinnen der Grund zu einer neuen Einsicht in allen Arten der Gelahrtheit gelegt wird (Leipzig 1752) die reziproke Verschränkung von Geschichte und Erzählung:

§ 16. Geschichte und Erzehlungen gehören zusammen.

Weil historische Sätze, Erzehlungen und Nachrichten nicht stattfinden, wo nicht die dadurch ausgedruckten Begebenheiten und Geschichte vorausgesetzt werden (§ 15.): hingegen Begebenheiten und Geschichte, die uns nicht vorgestellt werden, auch kein Vorwurff unserer Betrachtung seyn können; so gehören zum Begebenheiten auch Erzehlungen und Nachrichten und wiederum zum Erzehlungen und Nachrichten gehören Geschichte. Mithin gehören diese Dinge so zusammen, daß eins ohne das andere nicht seyn kan. Sie müssen aber dennoch voneinander unterschieden werden; weil die historischen Schwierigkeiten bald aus der Geschichte und Begebenheit selbst, bald aber aus den Nachrichten und Erzehlung entspringen.25

Einmal mehr dokumentieren die Ausführungen Chladenius’, wie deutlich die Narrativität historischen Wissens bereits zu Beginn der Fachgeschichte einen Gegenstand disziplininterner Reflexionen darstellt. Darüber hinaus bereitet die hier noch versuchte Differenzierung zwischen den Begriffen der Geschichte (als den stattgefundenen Begebenheiten) und der Erzählung bzw. der Nachricht (als den Berichten von den Begebenheiten) auf die entscheidende semantische Neueinschreibung im auslaufenden 18. Jahrhundert vor, die an die Seite der bereits skizzierten Ausweitung des nun als Kollektivsingular etablierten Geschichtsbegriffs tritt. Geschichte, ursprünglich – von Lessing zu Chladenius – als res gestae (die vergangenen Ereignisse) verstanden, meint nun zunehmend auch die historia rerum gestarum (historische Beschreibungen der vergangen Ereignisse), bezieht sich damit gleichzeitig auf das Sujet der Geschichtsschreibung wie auf das Medium derselben.26 Damit avanciert Geschichte unweigerlich vom ›Wirklichkeitsbegriff‹ zum ›Reflexionsbegriff‹, der, indem er sich auf die sprachliche Vergegenwärtigung der Vergangenheit bezieht, bereits kritisch auf die Voraussetzungen und Bedingungen der eigenen ›Geschichtsarbeit‹ verweisen muss.27 Koselleck macht diesen entscheidenden Wandel an der terminologischen Unschärfe zwischen den Begriffen der historie (Wissenschaft und Erzählung von der Geschichte) und Geschichte (vergangener Ereignis- und Handlungsbereich) fest, der sich im Verlauf des 18. Jahrhunderts durch ein langsames Verschwinden der historie bemerkbar macht: Deren Bedeutung wird nun sukzessive auf die Geschichte übertragen.28 Sind es zu Beginn des Jahrhunderts Poesie und historie, die sich im Konkurrenzverhältnis befinden, etwa bei Gottsched, wenn er feststellt: »Sie [die Fabeln der Poesie, S.C.] sind dabei noch lehrreicher als die bloße Historie, weil sie ausdrücklich dazu erfunden worden […]«,29 ist es zur Jahrhundertwende der Begriff der Geschichte schlechthin, der jenem der Dichtung entgegengehalten wird.

Diese semantische Neuausrichtung des Geschichtsbegriffs, der nun das tatsächlich Ereignete wie das retrospektive Erzählen davon gleichermaßen benennt, sorgt gegen Ende des 18. Jahrhunderts für neue Bewertungen hinsichtlich des Verhältnisses von Literatur und Geschichte bzw. Geschichtsschreibung. Deutlich pragmatischer als noch Gottsched und Lessing urteilt etwa Goethe, wenn er in den Maximen und Reflexionen pointiert:

Die Frage, wer höher steht, der Historiker oder der Dichter? darf gar nicht aufgeworfen werden; sie concurriren nicht mit einander, so wenig als der Wettläufer und der Faustkämpfer. Jedem gebührt seine eigene Krone.30

Auch die von Gottsched und Lessing problematisierte narrative Form der Geschichtserzählung, die durch das Einbringen fiktionaler Elemente die Wirklichkeit verstelle, wird von Goethe gänzlich anders bewertet:

Die Pflicht des Historikers ist zwiefach; erst gegen sich selbst, dann gegen den Leser. Bey sich selbst muß er genau prüfen was wohl geschehen seyn könnte, und um des Lesers willen muß er festsetzen was geschehen sey. Wie er mit sich selbst handelt, mag er mit seinen Collegen ausmachen; das Publicum muß aber nicht ins Geheimniß hineinsehen, wie wenig in der Geschichte als entschieden ausgemacht kann angesprochen werden.31

Goethe verwendet den Geschichtsbegriff hier bereits in seiner ambivalenten Bedeutung, welche die Geschichte als Erzählung der historischen Fakten, mithin als Objekt wie Subjekt der Repräsentation, bereits reflektiert. Mit der Einsicht, »wie wenig in der Geschichte als entschieden ausgemacht kann angesprochen werden«, antizipiert Goethe gleichsam die moderne Erkenntnis, dass der narrativen und immer schon nachzeitigen Repräsentation der Fakten eine genuine Unzuverlässigkeit eingeschrieben ist, die nicht zuletzt aus den subjektiven Selektions- und Interpretationsverfahren des Geschichtsschreibers resultiert. Gänzlich anders als Lessing und Gottsched bewertet Goethe hier die Frage nach der Wahrscheinlichkeit des historischen Geschehens. Hatten erstere über diesen Begriff Dichtung und Geschichtsschreibung gerade voneinander abgegrenzt, überträgt Goethe Gottscheds wie auch Aristoteles’ Ideal der dichterischen Tätigkeit (»etwas so <darzustellen>, wie es gemäß <innerer> Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit geschehen würde«)32, auf den Geschichtsschreiber. Um die Unzuverlässigkeit der Geschichte bereits wissend, überwindet Goethe die naive Forderung, Geschichte müsse erzählen, was ›wirklich‹ geschehen ist und erkennt, dass eine der zentralen Aufgaben des Historiografen darin besteht, über die ›Wahrscheinlichkeit‹ des von ihm Beschriebenen (wenngleich nach wissenschaftlichen Grundsätzen) zu entscheiden und damit die zwangsläufig eingebrachten Selektions- und Interpretationsverfahren der Historiografie sichtbar zu machen.

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