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3.2 Die Narrativität der Geschichte: Hayden White

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Hayden Whites 1973 veröffentlichte Studie Metahistory etabliert die These einer ›Poetik der Geschichte‹ und problematisiert den Wert einer eigenständigen ›historischen‹ Erkenntnis, da diese erst im Medium der Sprache sichtbar werde und damit bereits einer historischen Rekonstruktion unterworfen sei, die nach White eine grundsätzlich fiktive ist. Whites Überlegungen zur genuinen Verwandtschaft von Literatur und Geschichtsschreibung – programmatisch erfasst in seiner These von dem »historischen Text als literarisches Kunstwerk«1 und textanalytisch in seiner Untersuchung narrativer Strukturen der Geschichtsschreibung umgesetzt2 – führten in der Folge zu einer Revision und Repositionierung geschichtswissenschaftlicher Methoden und Überzeugungen.

Wie Roland Barthes argumentiert Hayden White in Metahistory zunächst ausgehend von der Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts und dem hier etablierten Geschichtsbegriff, welchem er »eine Art bewußter methodischer Naivität« unterstellt.3 Im Unterschied zu Barthes allerdings konzentrieren sich Whites Ansätze vorrangig auf den narrativen Charakter der Geschichtsschreibung, während die den polyvalenten Geschichtsbegriff ernstnehmende strukturalistische Differenzierung zwischen Signifikant und Signifikat (und deren letztliche Negierung) eine untergeordnete Rolle spielt.4 Es bleibt auffällig, mit welchem Nachdruck White als Begründer, zumindest aber Hauptvertreter des linguistic turn in der Geschichtswissenschaft wahrgenommen und auch kritisiert wird, obgleich er selbst weder zum turn an sich noch zu (sprach-)philosophischen Vertretern desselben Bezug nimmt. Tatsächlich liegt, so hat Frank Ankersmit festgestellt, der Ausgangspunkt seiner Reflexionen weniger in der Sprachphilosophie als vielmehr in der Literaturtheorie.5 Entsprechend wird White, das belegt die Wirkungsgeschichte seiner Studien, nur in den Anfängen seiner Rezeption als Historiker wahrgenommen, dann jedoch verstärkt von der literaturwissenschaftlichen Forschung berücksichtigt.6 Der ungewöhnliche Erfolg Whites setzt nicht unmittelbar nach der Veröffentlichung von Metahistory ein, sondern erreicht seinen Höhepunkt erst in den 1980ern und frühen 1990er Jahren. Während die geschichtswissenschaftlichen Auseinandersetzungen früh erfolgen und primär auf Whites Analysen der Geschichtsschreiber im 19. Jahrhundert eingehen, interessiert sich die Literaturwissenschaft auch gegenwärtig primär für Whites methodische Überlegungen, die er in seinem Einleitungskapitel zur »Poetik der Geschichte« und später in seinem Aufsatz Der historische Text als literarisches Kunstwerk programmatisch entwickelt. Insgesamt wird deutlich, dass mit der Rezeption der Thesen Whites, die in eine kontrovers geführte Diskussion um die Fiktionalität geschichtlicher Darstellungsweisen und ihrer poetischen modi resultiert, der linguistic turn endgültig zum narrative turn, wenn nicht gar zur »literarischen Wende«7 ausgeweitet wird.

In der Einleitung zu seinem Hauptwerk Metahistory formuliert White zunächst eine Prämisse, die an jene Positionen anzuschließen scheint, die sich seit Entstehung der modernen Geschichtsschreibung immer wieder selbstreflexiv mit der vermeintlichen Objektivität der Geschichtschreibung auseinandergesetzt haben:

Es ist öfter gesagt worden, das Ziel des Historikers sei es, die Vergangenheit zu erklären, indem er die »Geschichten«, die in den Chroniken verborgen liegen, »findet«, »erkennt« oder »entdeckt«, und der Unterschied zwischen »Historie« und »Fiktion« bestehe darin, daß der Historiker seine Geschichten »finde«, während z.B. der Romancier die seinen »erfinde«. Diese Vorstellung verschleiert jedoch, in welchem Ausmaß die »Erfindung« auch die Arbeit des Historikers prägt.8

Whites hier geäußerte Grundüberzeugung von der genuinen Verwandtschaft zwischen Literatur und Geschichtsschreibung aufgrund der sie einenden narrativen Verfahrensweisen erklärt noch nicht die zum Teil heftigen Vorwürfe, mit denen die Geschichtswissenschaft, allen voran die amerikanische, zunächst auf seine Thesen reagiert hat.9 Tatsächlich greifen Whites Thesen auf die Einsicht in die Fiktionalität historischer Darstellungen zurück, wie sie etwa in Deutschland in den 1970er Jahren (und damit lange vor der Übersetzung der Werke Whites ins Deutsche) von Historikern, insbesondere aber von Literaturwissenschaftlern vertreten wird. Programmatisch dokumentiert diese Positionen der von Reinhart Koselleck, Heinrich Lutz und Jörn Rüsen herausgegebene Band zu Formen der Geschichtsschreibung, der auf eine Tagungssequenz in den Jahren 1979/80 zurückgeht.10 Hans Robert Jauss etwa verabschiedet hier, bemerkenswerterweise mit Verweis auf die Positionen Reinhart Kosellecks und nicht etwa Hayden Whites, das Ideal eines »naiven historischen Realismus« und fordert die Historiker auf, die an sämtlichen historiografischen Prozessen beteiligten Fiktionalisierungsverfahren ernst zu nehmen. Eine Trennung zwischen res factae und res fictae sei, so Jauss, nicht möglich, sondern allenfalls Resultat eines unhaltbaren Vorurteils:

Dieses Vorurteil hat die hermeneutische Reflexion mit der Einsicht aufgelöst, daß die res factae kein Erstes sind, sondern als ergebnishafte Tatsachen schon in den bedeutungsstiftenden Akten ihrer Konstitution elementare Formen der Anschauung und der Darstellung geschichtlicher Erfahrung voraussetzen. Deren fiktionalen Status zu klären, sind historische und literarische Hermeneutik in diesem Kolloquium gemeinsam aufgerufen.11

Es lässt sich also davon ausgehen, dass die deutschsprachige ›Hochphase‹ der White-Rezeption in den 1980er und 1990er Jahren nicht dadurch zu erklären ist, dass der Historiker einen Angriff auf die Faktizität historischer Darstellung wagt, wie er vorher nicht versucht wurde. Vielmehr ist die leidenschaftliche Debatte wohl mit dem von White »behauptete[n] Ausmaß der Sprachlichkeit bzw. besser: Literarität der Historiographie«12 zu erklären, das die Unterschiede zwischen Dichtung und Historie vollkommen einzuebnen droht.13 Darüber hinaus geht es White weniger um die seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert thematisierte Subjektivität des Historikers und deren Einfluss auf Form und Inhalte der Geschichtsschreibung als vielmehr um die jedem historischen Darstellungsversuch genuin inhärenten (und damit unvermeidbaren) modi narrativer Strukturierung, die in Whites Vorstellung einer allgemeinen Poetik der Geschichtsschreibung münden. Zuletzt verantwortet die Anzahl der White’schen Veröffentlichungen, die sich von den späten 1960er Jahren bis in die Gegenwart mit der Narrativität und Poetizität geschichtlicher Darstellungen beschäftigen, seine Stellung als ›Aushängeschild‹ der damit verbundenen Diskussion.

Wie nun gelangt White zu seiner Einsicht in die ›poetische Beschaffenheit‹ historischer Texte? Zusammengefasst interessiert er sich für die Tiefenstruktur historischer Darstellung, die er als emplotment, als Einbindung der »rohen historischen Aufzeichnung« (bei White das historische Feld) in einen plot begreift.14 Die »Geschicklichkeit des Historikers […], mit der er eine bestimmte Plotstruktur und eine bestimmte Menge von historischen Ereignissen, denen er eine bestimmte Bedeutung verleihen will, einander anpaßt«, entscheidet über den Modus der Darstellung und verantwortet mit White ein genuin literarisches respektive fiktionsbildendes Verfahren, das wie folgt aussieht:

Zunächst werden die Elemente des historischen Feldes durch die Anordnung der zu erörternden Ereignisse in der zeitlichen Reihenfolge ihres Auftretens zu einer Chronik organisiert; dann wird die Chronik durch eine weitere Aufbereitung der Ereignisse zu Bestandteilen eines »Schauspiels« oder Geschehniszu-sammenhangs, in dem man klar einen Anfang, eine Mitte und einen Schluß glaubt unterscheiden zu können, in eine Fabel umgewandelt. Diese Transformation der Chronik in eine Fabel wird durch die Kennzeichnung einiger Ereignisse der Chronik als Eröffnungsmotive, anderer als Schlußmotive und wieder anderer als Überleitungen bewirkt.15

Die Aufbereitung der historischen Ereignisse zu einer Fabel erfolgt nach White mit Blick auf die Wirkungsabsicht der von ihm zu schreibenden Geschichte sowie den damit verbundenen Lesererwartungen und ist mit einer dreifachen Interpretationsleistung des Historikers verbunden. Dieser müsse sich erstens für eine Erzählstruktur entscheiden, die der dargestellten Handlung Bedeutung verleiht. White kann sich dabei auf die von Northop Frye unterschiedenen archetypischen Erzählformen der Romanze, der Tragödie, der Komödie und der Satire berufen.16 Zweitens lege sich der Historiker, so White, vorab auf eine spezifische Argumentation fest, die an die zugrundegelegte »formale Schlußfolgerung« gebunden sei. Hier schlägt White in Anlehnung an Stephen C. Pepper formativistische, organizistische, mechanistische und kontextualistische Argumentationsmodelle vor.17 Drittens sei mit jeder historischen Darstellung eine ideologische Dimension verbunden, die White mit den vier (ursprünglich sind es fünf) ideologischen Grundpositionen Karl Mannheims zu erfassen sucht (Anarchismus, Konservatismus, Radikalismus und Liberalismus).18

Neben die hier ausgeführte Interpretationsebene des Historikers, die die konstituierende Grundlage jedes emplotment darstellt, tritt eine zweite, sprachliche Ebene, die mit White den Prozess bezeichnet, in dem der Historiker die rohen Aufzeichnungen des historischen Feldes in seine eigene Sprache überführt, um es »so für die Erklärung und Darstellung vorzubereiten, die er danach in seiner Erzählung geben wird.«19 Diesen Prozess versteht White als das Erstellen eines vorbegrifflichen sprachlichen Protokolls, das durch den in ihm dominierenden Tropus charakterisiert ist. Logisch stringenter als noch in Metahistory führt White diesen Prozess, den er ausdrücklich als ›poetischen Akt‹ begreift, in seinem ein Jahr nach Veröffentlichung der Monografie erschienenem Aufsatz Der historische Text als literarisches Kunstwerk aus. White bestreitet hier jegliche mimetische Auffassung historischer Erzählungen als »maßstabgetreue« Modelle einer historischen Wirklichkeit. Vielmehr charakterisiert er unter Rückgriff auf die Sprachphilosophie Charles S. Peirces und dessen Begriff des Ikons als Zeichen, das sich auf seinen bezeichneten Gegenstand durch das Merkmal der Ähnlichkeit bezieht, auch historische Erzählungen als Zeichensysteme. Diese verweisen, so White, sowohl auf die in der Erzählung beschriebenen historischen Ereignisse wie auch auf »den Typ von Geschichte oder Mythos, den der Historiker als Ikon der Struktur der Ereignisse gewählt hat«.20 Die Entschlüsselung der ikonischen Struktur einer historischen Erzählung lege schließlich jene »prägenerischen Plotstrukturen« offen, die verwendet werden, um unvertraute Ereignisse und Situationen mit Bedeutung aufzuladen. Dazu bedient sich der Historiker einer figurativen Sprache, deren Grundformen (in Metahistory als Tropen ausgeführt) White ausgehend von den Überlegungen Giambattista Vicos in der Metapher, der Metonymie, der Synekdoche und der Ironie auszumachen glaubt.21 In dieser Theorie der Tropen meint White das geeignete Instrument gefunden zu haben, mit dessen Hilfe er hofft, die Geschichtsschreibung und das vorherrschende Geschichtsdenken, »wie es im Europa des 19. Jahrhunderts Gestalt annahm«, analysieren zu können.22 Während Metahistory – und gerade die in Bezug auf dieses Werk »äußerst oberflächliche«23 Rezeption differenziert hier nur wenig – in erster Linie ein Beitrag zur Historiografiegeschichte des 19. Jahrhunderts bleibt und als solcher zumindest von den Historikern zunächst wahrgenommen wurde, bezieht White in seinem bereits im Titel programmatischen Aufsatz Der historische Text als literarisches Kunstwerk eine deutlich verschärfte Position. Der Text pointiert die Grundaussagen von Metahistory noch einmal, radikalisiert Whites (zumal hier nicht mehr nur für das 19. Jahrhundert beanspruchte) Thesen aber gerade dort, wo sie das Verwandtschaftsverhältnis von Literatur und Geschichtsschreibung berühren, etwa wenn White hier über die historischen Quellen feststellt, sie seien

nicht weniger intransparent als die Texte, die der Literaturwissenschaftler untersucht. Und auch die Welt, die diese Dokumente darstellen, ist nicht zugänglicher. Das eine ist nicht mehr ›gegeben‹ als das andere.24

Diese Relativierung der wissenschaftlichen Aussagekraft historischer Quellen (die als Angriff auf die Wissenschaftlichkeit des Faches an sich gewertet wurde) mündet in die Nivellierung jeglichen Unterschieds zwischen Literatur und den historischen Erzählungen, die mit White nichts anderes sind als

sprachliche Fiktionen (verbal fictions), deren Inhalt ebenso erfunden wie vorgefunden ist und deren Formen mit ihren Gegenstücken in der Literatur mehr gemeinsam haben als mit denen in den Wissenschaften.25

Historische Erzählungen wie literarische Texte zeichnen sich mit White gleichermaßen dadurch aus, »daß sie die metaphorischen Ähnlichkeiten zwischen Folgen von realen Ereignissen und den konventionellen Strukturen unserer Fiktion ausnutzen.«26 Beide Genres laden, indem sie eine Folge von Ereignissen zu einer nachvollziehbaren Geschichte konstituieren, diese Ereignisse mit der symbolischen Bedeutung auf, die sich in der Aufschlüsselung ihrer tropologischen Grundform erschließt.

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