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3.2.2 Hayden White und die postmoderne Geschichtswissenschaft

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Die nahezu unüberschaubare, affirmative wie kritische Rezeption Hayden Whites in literaturwissenschaftlichen und geschichtswissenschaftlichen Beiträgen zur Narrativität historischer Darstellungen hat dafür gesorgt, dass White als Vorreiter einer postmodernen Kritik am positivistischen Begriff der Geschichte wahrgenommen wird – auch White selbst gibt sich (wenngleich vorrangig in seinen späteren Veröffentlichungen) namentlich als ›Postmodernist‹ zu erkennen.1 Diese Fremd- und Selbstetikettierung hat dazu geführt, dass White für einen Repräsentanten jener poststrukturalistischen Ansätze gehalten wird, wie Roland Barthes, Jacques Derrida und Richard Rorty sie vertreten. Diese Positionen jedoch, so stellt ein genauer Blick insbesondere in Whites Veröffentlichungen der 1970er und 1980er Jahre klar, liegen dem Historiker fern. Entsprechend rechnet er in einem frühen Aufsatz mit der seines Erachtens »absurdistischen«, durch dekonstruktivistische Ansätze geprägten Literaturkritik der französischen Theoretiker ab, allen voran mit Jacques Derrida, dem, so White polemisch, »derzeitigen Magus der Pariser Intellektuellenszene«.2 Die Schärfe seiner Argumentation lässt keinen Zweifel daran, dass ihm der radikale Entwurf Derridas, in dem »der Welt jegliche Substanz abgesprochen wird und die Wahrnehmung blind ist«,3 zu weit geht.

Vor diesem Hintergrund erklären sich die offensichtlichen Unterschiede, die zwischen White und der poststrukturalistischen Infragestellung jeglicher realer Ereignisse, wie sie etwa Roland Barthes in Historie und ihr Diskurs vertritt, bestehen. Barthes erklärt die Trennung zwischen res gestae (als Signifikat der Geschichte) und historia rerum gestarum (als Signifikant) für obsolet, da er wie Derrida die Existenz eines »Text-Äußeren«4 bestreitet und die historischen Fakten nicht als Realität, sondern »Be-deutetes« erkennt. Hayden White jedoch gibt die historische Referenzialität nicht preis, sondern hält an der Existenz einer historischen Wirklichkeit fest – wenngleich er die Möglichkeit, diese mimetisch abbilden zu können, hinterfragt. Hier ist dem deutschen Historiker Hans-Jürgen Goertz zuzustimmen, der als einer der wenigen Fachvertreter darauf hinweist, dass White gerade nicht der postmodernen Neigung nachgibt, »die Wirklichkeit […] dem Text zu opfern«.5

Deutlich wird dies, wenn White in Metahistory als sein erklärtes Arbeitsziel angibt,

das Geschichtswerk in seinem offensichtlichsten Aspekt [zu] erschließen, nämlich als sprachliches Gebilde in der Form alltäglicher Rede, welches ein Modell oder Abbild vergangener Strukturen und Prozesse zu sein und auf dem Weg ihrer Darstellung das »wirkliche Geschehen« zu erklären beansprucht.6

Hier wird die bei White noch aufrecht erhaltene Differenzierung zwischen der Geschichtserzählung und den ihr möglicherweise zugrunde liegenden Fakten offensichtlich – White problematisiert die historische Erkenntnis aufgrund der poetischen Eigenschaften der Geschichtsdarstellung, nicht aber die Existenz historischer Tatsachen an sich. Diesen jedoch entzieht Roland Barthes bereits den Boden, wenn er dem historischen Diskurs nicht mehr das Reale, sondern lediglich dessen Effekt (l’effet de réel) zugrunde legt. Auch in späteren Veröffentlichungen hält Hayden White an der von ihm nicht weiter hinterfragten Existenz so genannter ›realer Ereignisse‹ oder ›realer Ereignisreihen‹ fest, etwa in seinem 1987 erschienenem Aufsatz zum Problem der Erzählung in der modernen Geschichtstheorie, in dem er sich explizit mit Barthes poststrukturalistischen Thesen auseinandersetzt.7 Darin skizziert White die »›Dekonstruktion‹ von Narrativität, wie sie von Barthes und den Poststrukturalisten betrieben worden war,« und lässt keinen Zweifel an seiner Distanz zu deren Positionen, wenn er Barthes’ Schlussfolgerungen als das Resultat »einer Menge höchst problematischer Theorien« versteht, »die insbesondere mit den Namen von Jacques Lacan und Louis Althusser verbunden sind.«8

Umso erstaunlicher ist, dass Hayden White und Roland Barthes nicht nur häufig in einem Atemzug genannt werden, sondern Whites Positionen gerade wegen ihrer vermeintlichen Nähe zu poststrukturalistischen Ansätzen und deren Dekonstruktion des Wirklichkeitsbegriffes attackiert werden.9 Noch im Jahr 1995 reagiert White in Journal of Contemporary History auf einen solchen Angriff, der in der gleichen Zeitschrift in der vorausgegangenen Ausgabe erschienen war. Arthur Marwick, Historiker und überzeugter Kritiker der aus seiner Sicht überbewerteten Diskussion um die Narrativität der Geschichtsschreibung bzw. der Geschichte, vollzieht darin eine Abrechnung mit postmodernen Theoretikern und spannt seinen Bogen von Lévi-Strauss, Lacan, Barthes, Foucault bis hin zu Hayden White und Antony Easthope. Ihnen allen unterstellt er die Instrumentalisierung und Banalisierung der anspruchsvollen, gewissenhaften, einer seriösen Quellenkritik verpflichteten historischen Tätigkeit im Dienste eines fragwürdigen postmodernen Geschichtsbegriffes.10 Hayden White nimmt Bezug auf diese Kritik, wirft Marwick (zu Recht) einen insgesamt undifferenzierten Umgang mit dem Begriff der Postmoderne vor und positioniert sich in bezeichnender Weise zu Barthes’ theoretischen Standpunkt, indem er diesen zwar nicht angreift, jedoch in seinem Sinne umdeutet.

I have been criticized elsewhere for my agreement with Barthes’s remark: ›Le fait n’a jamais qu’une existence linguistique‹. This has been taken to suggest that ›events‹ are only linguistic phenomena, that events have no reality, and that therefore there are not and possibly never were any such things as historical events. Now, such a view, if anyone ever held it, is manifestly absurd. By ›history‹ (considered as an object of historical research), we can only mean the sum total of all the events (including the interconnections between them) that happened in ›the past‹. The events have to be taken as given; they are certainly not constructed by the historian. It is quite otherwise with ›facts‹. They are constructed: […] It is the ›facts‹ that are unstable, subject to revision and further interpretation, and even dismissible as illusions on sufficient grounds. Thus, Barthes’s statement that ›facts have only a linguistic existence‹ I construe as an assertion that ›facts‹ – unlike events – are linguistic entities […].11

White gibt hier weder die historische Referenzialität noch den Wirklichkeitsbegrifft preis, da er zwar die Fakten des Historikers als Konstrukt, die dahinter liegenden historischen Ereignisse (events) jedoch weiterhin als objektiv gegeben begreift.

Zuletzt hat Hayden White sich an einer Differenzierung zwischen historical fact und historical event in einem 2008 veröffentlichten Gespräch mit der polnischen Historikern Ewa Domanska versucht. Unter Rückgriff auf Arthur C. Danto bezeichnet White facts hier als »linguistic phenomena or concepts because the fact is an event under description« und gibt damit die herkömmliche Trennung zwischen den res gestae und der historia rerum gestarum, wie sie auch Barthes bestritten hatte, scheinbar doch auf.12 Den Prozess, in dem ein Historiker aus dem tatsächlich Ereigneten das historische Faktum generiert, nennt White »factualization« und begreift diesen als performative Äußerung. Er nimmt damit implizit Bezug auf Barthes, der den historischen Diskurs ebenfalls als »verfälschte[n] performative[n] Diskurs« enttarnt hatte.13 Tatsächlich scheint White sich hier deutlich stärker an die Positionen Roland Barthes anzulehnen als in seinen frühen Veröffentlichungen – seine Interviewpartnerin bezeichnet sein Konzept des historischen Faktums entsprechend (und ohne dass White widerspricht) als »inherited from Barthes«.14 Und dennoch: White beharrt darauf, sich, anders als Barthes, auf etwas außerhalb des Diskurs Liegendes zu beziehen, das nicht mehr die Fakten, sondern die events meint. Hier scheint ein auffälliger Widerspruch im Denken Whites zu liegen, der – obgleich er die sprachliche Gestaltung, die Selektions- und Interpretationsverfahren, denen die historischen Fakten unterliegen, immer wieder unterstreicht – nach wie vor an seinem Begriff der events als »things that really happened«15 festhält. Die Aufgabe des Historikers ist es mit White gerade, jene historischen Ereignisse (events) zu interpretieren, die

do not conform to the factual records that we already have processed. They fall outside and they are asking to be classified. This is what a historian does in his/her research about a given event.16

Wie aber lässt sich zwischen facts und events differenzieren, wenn sämtliches Wissen um ein vergangenes Geschehen, wie auch White betont, Prozesse der Repräsentation und der Erklärung voraussetzt? Das vergangene Geschehen ist jenseits seiner, mit White, Faktualisierung nicht zu haben und steht damit ausschließlich als »event under description« zur Verfügung. Mit dieser Einsicht aber ist eine Beschäftigung mit dem, was White als given event bezeichnet, nicht mehr möglich, da die Geschichte sich nicht mehr, mit Barthes, auf das Reale, sondern lediglich das Intelligible zurückrechnen lässt.

Whites Bedeutung für die Geschichts- wie die Literaturwissenschaft liegt, das lässt sich abschließend feststellen, weniger in seiner Relativierung der historischen Wirklichkeit – das vollziehen (auch vor ihm) andere konsequenter. Vielmehr bleibt das entscheidend Neue seiner Arbeit die konsequente Analyse historischer Texte mithilfe einer Untersuchung ihrer rhetorischen Struktur und damit die analoge Betrachtung literarischer und historischer Texte. Die Reaktionen auf Whites Thesen durch die Geschichts- wie die Literaturwissenschaft fallen bis in die Gegenwart äußerst unterschiedlich aus, erweisen sich jedoch gerade in ihrer Heterogenität als konstruktiv: Im Versuch, Whites Argumentation zu entkräften und die Unterschiede zwischen Geschichtsschreibung und Literatur aufrecht zu erhalten, wird eine fruchtbare Diskussion über das Verhältnis von Literatur und Geschichte, eine Poetik der Historie und das historische Wissen der Literatur angestoßen.

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