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3.1 Der Poststrukturalismus: Roland Barthes und das Ende der res gestae

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Als programmatisch erweist sich in diesem Zusammenhang Roland Barthes Aufsatz Historie und ihr Diskurs, der im Original 1967 und ein Jahr später in seiner deutschen Übersetzung erscheint.1 Barthes ist einer der ersten Vertreter des französischen Poststrukturalismus, der sich mit dem historischen Erzählen (das bei Barthes die Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts meint) im Unterschied zu einem literarischen auseinandersetzt. In diesem Zusammenhang wirft Barthes die Frage auf, ob das historische Erzählen sich tatsächlich »durch irgendeinen spezifischen Zug, durch eine zweifelsfreie Relevanz von der imaginären Erzählung, wie man sie in der Epopöe, dem Roman, dem Drama findet«, unterscheide.2

In einem ersten Schritt differenziert Barthes zwischen dem Akt des Aussagens (énonciation) und der Aussage (énoncé), schließt also an die bereits bekannte Problematisierung des Kollektivsingulars Geschichte an, der sowohl die historischen Fakten (res gestae) als auch das Erzählen davon (historia rerum gestarum) meint. Um die Subjektivität jedes Aussageaktes nachzuzeichnen, untersucht Barthes die »Umschaltelemente« (shifters), die den Übergang zwischen énoncé und énonciation markieren, etwa die (subjektive) Auswahl der Quellen, auf die sich der Akt des Aussagens stützt, vor allem aber die Konfrontation der unterschiedlichen Zeitebenen, die sprachlich ausgedrückt werden: die (präsentische) Zeit des Aussagens und die (vergangene) Zeit des ausgesagten Stoffes. Als Beispiel für jene Diskurselemente, die das Verhältnis dieser Zeiten steuern, führt Barthes die Geschichtsraffung, den Zickzackkurs oder Sägezahnstil (Unterbrechung der Handlungschronologie) sowie die Einleitung des historischen Diskurses an, in der »der Anfang des ausgesagten Stoffes mit dem Beginn des Aussagens zusammenfällt.«3 Relevant sind mit Barthes diese Verschränkungen von erzählter Zeit und der Zeit des Diskurses (mit Barthes auch Papierzeit) nicht, weil sie subjektive Selektionsverfahren des Historikers, sondern ein Erzählverfahren sichtbar machen, das jedes historische Geschehen entchronologisiert und einer »komplexen, parametrischen« Zeit eingliedert. Diese verlaufe nicht mehr linear und werde allein vom Historiker, der über beide Zeitebenen verfügt, überschaut. Ein solches Erzählen ist mit Barthes ein genuin mythisches: Mythos und historischer Diskurs vereinen sich im Bestreben, »das chronologische Abspulen der Ereignisse durch Bezüge auf die seinem Wort zugehörige Zeit zu doppeln.«4

Bezugnehmend auf das Kommunikationsmodell Jakobsons widmet Barthes sich im Anschluss den im Diskurs vorhandenen Zeichen des Aussagenden/Absenders, jenen Signalen also, die den Historiker als Subjekt des Aussageaktes sichtbar machen. Mit Blick auf die um einen gesteigerten Realismus und Objektivität bemühte Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts stellt Barthes fest, dass ein »objektiver« historischer Diskurs niemals existieren könne, sondern dass ein Mangel an Zeichen, die auf den Aussagenden verweisen, im Gegenteil als Referenzillusion (illusion référentielle) zu verstehen sei – als Versuch des Historikers also, sich selbst als die den Diskurs ordnende Distanz verschwinden und allein das Bezugsobjekt (référent) sprechen zu lassen. Dieser Versuch ist mit Barthes, beim Historiker wie beim Romancier, zum Scheitern verurteilt, denn: »Wir wissen, daß der Mangel an Zeichen ebenfalls bezeichnend ist.«5

Nach der Analyse des Aussageaktes geht Barthes zur Auseinandersetzung mit der historischen Aussage (énoncé), dem im Aussageprozess Bezeichneten, über. Diese setzt sich aus inhaltlichen Einheiten zusammen, die als Kollektionen zusammengesetzt und durch den Historiker strukturiert werden. Hier liegt die für das Selbstverständnis der Geschichtsschreibung brisante Einsicht Barthes verborgen: Denn dem Aussageakt analog verweist auch das Bezeichnete keineswegs auf eine objektiv erfahrene Wirklichkeit, sondern bleibt von seiner sprachlichen Konstitution determiniert: »Die Benennung stärkt die Struktur des Diskurses, weil sie diesem eine starke Artikulation gestattet.«6 Und erst die Benennung lässt das historische Faktum entstehen, jenseits des Wortes kann eine historische Wirklichkeit nicht existieren: »Das historische Faktum ist, linguistisch gesehen, an ein Privileg des Seins gebunden: Man erzählt, was gewesen ist; nicht, was nicht oder was zweifelhaft gewesen ist.«7

Weil die Fakten der Geschichte immer schon auf ein Auswahlverfahren, nämlich »das der Erinnerung Würdige, d.h. das [sic!] Bemerkens und Notierens Würdige« rekurrieren, vergegenwärtigt der historische Diskurs mit Barthes den einzigen, »bei der das Bezugsobjekt als etwas außerhalb des Diskurses Liegendes aufgefaßt wird, ohne daß es indessen je möglich wäre, es außerhalb des Diskurses in den Griff zu bekommen.«8

Diese von Barthes beschriebene Genese des historischen Faktums erweist ihre Modernität gerade im Vergleich mit unmittelbaren Vorgängerstudien wie der 1961 veröffentlichten und lange Zeit als Standardeinführung in das Studium der Geschichte (zumindest im angloamerikanischen Kontext) geltende Untersuchung Was ist Geschichte des britischen Historikers Edward Hallet Carr. In seinem ersten Kapitel (»Der Historiker und seine Fakten«) wendet sich Carr, hier noch in Übereinstimmung mit Barthes, vehement gegen die Auffassung, es gebe »gewisse grundlegende und für sämtliche Historiker verbindliche Fakten, die sozusagen das Rückgrat der Geschichte ausmachten«.9 Im Gegensatz zur Barthes’ sprachkritischer Problematisierung der Fakten im Kontext einer modernen Semiotik konzentriert Carr sich allerdings ganz auf die Figur des Historikers und seine subjektiven Selektionsverfahren, die über Form und Aussehen der Geschichte entscheiden:

Die Tatsachen sprechen für sich selbst, pflegte man zu sagen. Aber das stimmt natürlich nicht. Die Tatsachen sprechen nur, wenn der Historiker sich an sie wendet: er nämlich entscheidet, welchen Fakten Raum gegeben werden soll und in welcher Abfolge oder in welchem Zusammenhang.10

Das historische Faktum – im Gegensatz zum Faktum an sich, an dem Carr im Unterschied zu Barthes festhält – unterliegt mit Carr immer schon einer a-priori-Entscheidung des Historikers. Damit ist die Geschichte als historia rerum gestarum der Interpretation des Historiografen ausgeliefert, ebenso wie die Entscheidung, welche Fakten der Vergangenheit zu historischen Fakten im Zuge ihrer wissenschaftlichen Historisierung werden. So stellt mit Carr etwa die Schlacht von Hastings 1066 nur deshalb ein historisches Faktum dar, weil »dieser Umstand von den Historikern als ein bedeutendes historisches Ereignis angesehen wird.«11 Obwohl Carrs Relativismus hinter der kurze Zeit später aufkommenden poststrukturalistischen, später dann postmodernen Problematisierung jeglicher Wirklichkeit zurückbleibt, ist es doch bemerkenswert, wie entschieden dem zuverlässigen Zugriff auf historische Fakten durch den Historiografen eine Absage erteilt und damit die historische Referenzialität in Frage gestellt wird – wenngleich ausschließlich bezogen im Hinblick auf subjektive Entscheidungen des Historikers:

Der Glaube an einen festen Kern historischer Fakten, die objektiv und unabhängig von der Interpretation des Historikers bestehen, ist ein lächerlicher, aber nur schwer zu beseitigender Trugschluß.12

Carrs Plädoyer für einen soziologischen Zugang zur Geschichte, der zunächst die Figur des Historikers erforschen müsse und im Anschluss daran die von ihm ›konstruierten‹ Fakten, ist im Zuge einer streng poststrukturalistischen Geschichtswissenschaft unter Beschuss geraten, allen voran seine Differenzierung zwischen den keineswegs in Frage gestellten Fakten der Vergangenheit (facts from the past) und den historischen Fakten (historical facts) als Ergebnis unterschiedlicher Historisierungsprozesse.13

Tatsächlich bleibt es Barthes’ Essay vorbehalten, den zentralen logischen Widerspruch, den Carrs Thesen aufrufen, konsequent aufzulösen. Carr, der an den Tatsachen der Geschichte festhält und nur deren Historisierung wie historische Repräsentation zum Problem macht, bleibt die Antwort auf die daraus resultierende Frage schuldig, wie diese angeblichen Tatsachen jenseits ihrer Versprachlichung im Zuge historischer Rekonstruktion überhaupt zu denken sind. Eben hier setzt die Kritik Barthes’ an, der das historische Faktum als tautologisches Phänomen entlarvt, das »zugleich Zeichen und Beweis der Realität« sei.14 Die Historie ist demnach immer schon, nicht nur als historia rerum gestarum (wie bei Carr), sondern auch als Abfolge der res gestae mit Bedeutung aufgeladen, so sehr der Historiker auch darum bemüht ist, das Bedeutete aus seinem objektiven Diskurs zu verbannen und das Reale zu bezeichnen:

Der historische Diskurs folgt nicht dem Realen, er läßt dieses nur bedeuten, wiederholt unablässig das das ist geschehen, ohne daß diese Behauptung je etwas anderes zu sein vermöchte als die be-deutete Kehrseite der ganzen historischen Erzählung.15

Damit liegt dem historischen Diskurs nicht mehr das Reale selbst, sondern mit Roland Barthes lediglich der Effekt des Realen (l’effet de réel) zugrunde.16 Die historische Erzählung als die der fiktionalen entgegengesetzte kann mit Barthes nicht bestehen, solange sie sich darauf beruft, das Reale zu bezeichnen. Denn das Zeichen der Historie ist, nach Barthes, fortan »weniger das Reale als das Intelligible.«17 Erstaunlich bleibt: So bahnbrechend Barthes Thesen hinsichtlich einer Geschichtsauffassung scheinen, die zwischen den Fakten der Vergangenheit und dem narrativen Modus, diese Fakten zu vergegenwärtigen, deutlich unterscheidet – sein Essay erweist sich als deutlich weniger wirkungsmächtig als etwa die Texte Hayden Whites.18

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