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3.2.1 Hayden White in der Kritik

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Bis in die Gegenwart gilt Hayden White als Initiator einer systematischen, »meta«-historischen Auseinandersetzung mit den Bedingungen historischen und literarischen Erzählens und wird in jüngeren Veröffentlichungen entsprechend gewürdigt.1 Dies soll jedoch nicht blind machen für die berechtigte Kritik, die Whites Thesen sowohl von Seiten der Geschichtswissenschaft wie auch durch Vertreter der Literaturwissenschaft erfahren haben.

Die entscheidenden Vorwürfe aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive äußert mit Blick auf die recht spät einsetzende White-Rezeption in Deutschland der Historiker Jörn Rüsen schon früh.2 Zum einen vermisst er in Whites Untersuchung die im Rahmen der Historik, also der systematischen Selbstreflexion der Fachhistorie, »unerläßliche Frage nach der Wissenschaftsspezifik von Geschichtsschreibung«, die im Kontext einer streng textlinguistischen Untersuchung, wie White sie unternehme, zwangsläufig ausgeblendet bleiben müsse.3 Zum anderen wirft Rüsen White vor, die historische Dimension narrativer Verfahren der Geschichtsschreibung zu ignorieren, indem er sich auf eine Typologie berufe, die unhistorisch arbeitet. Die für den Wandel historischer Darstellungsformen so relevante zeitliche Dynamik bleibe dadurch unberücksichtigt.4

Insbesondere der Vorwurf, Hayden White unterschlage in seiner Profilierung eines Geschichtsbegriffes, der auf seine narrative Form als konstitutives Merkmal reduziert wird, das wissenschaftliche Selbstverständnis und die damit einhergehenden Ansprüche des Faches, wird bis in die Gegenwart diskutiert. So beklagt etwa Chris Lorenz die Unfähigkeit des von White etablierten metaphorischen Narrativismus, »das historische Schreiben mit der historischen Forschung zu verbinden.«5 Lorenz verteidigt einen Geschichtsbegriff, der den Wahrheitsanspruch des Historikers ernst nimmt, und warnt davor, die stilistischen wie rhetorischen Merkmale der Geschichtsschreibung mit der Geschichte als solche zu verwechseln und diese auf einen »Zweig der Ästhetik oder der Literaturwissenschaft« zu reduzieren:

Das ist im wesentlichen, was in den vergangenen zwei Jahrzehnten geschehen ist, und es ist kein Zufall, daß viele Bücher zur Philosophie der Geschichte heutzutage in literaturwissenschaftlichen Instituten geschrieben werden.6

Der von Lorenz hier stellvertretend geäußerte Anspruch der Historiker auf die wissenschaftliche Selbständigkeit ihres Faches in Abgrenzung von der Literaturwissenschaft spiegelt sich im literaturwissenschaftlichen Bemühen um eine Differenzierung des Geschichts- vom Literaturbegriff. Diesbezüglich hat der Anglist und Narratologe Ansgar Nünning eine der ausführlichsten literaturwissenschaftlichen Auseinandersetzungen mit den Thesen Whites vorgelegt.7 Im Einzelnen nennt er vier zentrale Kritikpunkte an Whites Thesen, die, so Nünning, nicht nur fundamentale Unterschiede zwischen historisch-wissenschaftlichen und fiktionalen Texten ignorieren, sondern zudem einen nur wenig präzisen Literaturbegriff formulieren würden. Zunächst unterstreicht Nünning, Jörn Rüsen folgend, die Wissenschaftsspezifik historischer Darstellungen sowie den historischen Texten inhärenten Wahrheitsanspruch, der die Diskurse Geschichte und Literatur grundsätzlich voneinander trenne. Tatsächlich profiliere White einzig den narrativen Modus als gemeinsames Charakteristikum historischer und literarischer Texte, ignoriere damit aber, dass beide Diskurse einen vollkommen differenten Wahrheitsanspruch für sich beanspruchen und grundsätzlich für »die Produktion und Rezeption literarischer Werke ganz andere Konventionen gelten als für geschichtswissenschaftliche«.8 Nünnings Kritik zielt auf einen in Whites Ausführungen installierten Literaturbegriff, der aus Sicht einer um die Autonomie des literarischen Kunstwerks bemühten Literaturwissenschaft heikel anmutet. White nämlich verteidigt seine Lektüre des historischen als literarischen Text mit dem Hinweis, dass beide doch ein ähnliches Ziel verfolgen: die Wirklichkeit zu erklären und Weltwissen zu vermitteln. So heißt es explizit in einem seiner Aufsätze jüngeren Datums:

It is literature’s claim to manifest, express, or represent reality, to summon up and interrogate the real world in all its complexity and opacity, that brings it into conflict with writers of historical discourse.9

Hier bringt White einen Realismusbegriff ein, der nicht geeignet ist, den Begriff der Literatur zu erklären – vielmehr droht er die Literatur auf ein Werkzeug der Historiografie zu reduzieren und damit ihren autonomen Status einzuebnen. Ähnlich deutlich wird White in seinem Beitrag zum »historischen Text als literarisches Kunstwerk«, wenn er darin den erkenntnisstiftenden Status der Historiografie zu verteidigen sucht:

Es würde ihn [den Status der Erkenntnis historiografischer Texte, S.C.] nur mindern, wenn wir der Meinung wären, daß die Literatur uns nichts über die Wirklichkeit lehrte, sondern Produkt einer Phantasie sei, die nicht von dieser Welt, sondern von einer anderen, nichtmenschlichen Welt wäre. Meines Erachtens erfahren wir die Fiktionalisierung der Geschichte als eine »Erklärung« aus demselben Grunde, wie wir große fiktionale Literatur als Erhellung einer Welt, in der wir zusammen mit dem Autor leben, erfahren. In beiden Fällen erkennen wir die Formen, mit denen das Bewußtsein die Welt, in der es sich einrichten will, sowohl konstituiert als auch kolonisiert.10

Die fehlende Abgrenzung der erkenntnisleitenden Intention eines historiografischen Textes (und seiner damit verbundenen Wissenschaftlichkeit) von jeglicher Art literarischer Texte erlaubt White, relativ unbedarft von den Gemeinsamkeiten beider auszugehen – führt jedoch zu einem prekären, engen Korsett, in das der Literaturbegriff gezwängt wird.

Ähnlich undifferenziert, führt Ansgar Nünning in seiner Kritik an White weiter aus, gehe der Historiker bei seiner Einebnung des Unterschieds zwischen literarischen Verfahren und fiktionalem Aussagemodus vor. In der Tat wäre mit Nünning etwa zu fragen, ob ein literarischer Text, der realistische/dokumentarische Erzählelemente verwendet, zwangsläufig an Fiktionalität einbüßen muss. Drittens kritisiert Nünning die seines Erachtens »nicht haltbare[] Gleichsetzung von emplotment mit Literarizität und Fiktionalität«.11 Hier liegt tatsächlich eine entscheidende Schwäche der White’schen Argumentation verborgen, da es ihm nicht gelingt, überzeugend nachzuweisen, inwiefern das emplotment (nämlich »die Kodierung der in der Chronik enthaltenen Fakten als Bestandteile bestimmter Arten von Plotstrukturen«), so wie White es mit Bezug auf Frye verstanden haben will, tatsächlich nur Literatur und Historiografie vorbehalten ist. Vielmehr ließe sich dieser Konstruktionsprozess auch auf journalistische und dokumentarische Texte ebenso wie auf jede Art von Fallbeschreibungen (juristische, klinische, psychologische) übertragen – die deshalb noch lange keine fiktionalen oder literarischen Texte darstellen.

Zuletzt, hier setzt Nünning seinen vierten Kritikpunkt an, begegne bei White ein deutlich überstrapazierter Fiktionalitätsbegriff, der sich zumindest für die literaturwissenschaftliche Arbeit nicht eignet. Zu leichtfertig setze White den Konstruktionscharakter historiografischer Texte mit deren fiktionaler Beschaffenheit gleich. Statt von den Konstruktionsmechanismen eines Textes auf seine literarische Dimension zu schließen, wäre es (zumindest aus literaturwissenschaftlicher Sicht) sinnvoller, nach jenen Unterschieden zu fragen, die möglicherweise die narrative Konstruktion der Geschichte in literarischen Texten von jener in historischen trennt.

Die Kritikpunkte an Whites Argumentation ließen sich fortführen, etwa mit Blick auf die Tatsache, dass White in Metahistory seine Thesen ausschließlich über eine Analyse der Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts entwickelt, die in den Folgeveröffentlichungen apodiktisch auf die geschichtliche Darstellung generell übertragen wird. Darüber hinaus ignoriert White, wenn er die tropische Struktur des Plots (der diegetischen Ebene) untersucht, eine zweite Ebene, die der erzählenden Distanz, die in historischen wie literarischen Darstellungen jenseits der diegetischen Ebene positioniert sein und diese extradiegetische Position selbstreflexiv zum Ausdruck bringen kann. Zuletzt haben auch Whites oben ausgeführte Ansätze einer Narrationsanalyse und die darin vorausgesetzte Kombination der dominierenden Plotstruktur (Romanze, Komödie, Tragödie, Satire) mit Formen der ideologischen Implikation (konservativ, liberal, anarchistisch, radikal) literaturwissenschaftliche Vertreter in ihrer Logik nur bedingt überzeugt.12

Ungeachtet dieser, gerade aus literaturwissenschaftlicher Perspektive durchaus berechtigten Einwände bleibt Hayden White, und zwar deutlicher noch für Literaturwissenschaftler als für seine Historiker-Kollegen, die zentrale Referenz, wenn es um die Diskussion narrativer Verfahren der historiografischer Darstellungen geht: Tatsächlich wird seinem Werk bereits der Status eines »cultural icon« zugesprochen.13

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