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1.3 Historisch-fiktionales Erzählen nach 1989: Terminologische Prämissen

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Entscheidend für die vorliegende Untersuchung ist die Ausrichtung an der von Geppert eingeführten Kategorie des ›anderen‹ historischen Romans, der die gattungstheoretische Perspektive auf das metafiktionale und selbstreflexive Potenzial der Gattung richtet. Dieses avanciert im Rahmen der sich hier anschließenden Auseinandersetzung mit der historisch-fiktionalen Literatur der Gegenwart zum entscheidenden Verbindungsglied der behandelten Texte. Der andere historische Roman, das ist dem einleitenden Forschungsüberblick zu entnehmen, sorgt für den entscheidenden Einschnitt innerhalb der Gattungstheorie: In Ina Schaberts reflektivem oder Hugo Austs parabolischem Roman hat er alternative Namen, in Nünnings revisionistischem und metahistorischen Roman ebenso wie in seiner von Hutcheon übernommenen Kategorie der historiografischen Metafiktion ergänzende Differenzierungen gefunden. Damit rücken in den Fokus der vorliegenden Untersuchung literarische Texte, die nicht einfach von der Geschichte erzählen, sondern das Erzählen dieser Geschichte bereits mitreflektieren. Sie verhandeln nicht nur die poetologische Frage nach der Möglichkeit, die Historie zu fiktionalisieren, sondern zugleich einen Geschichtsbegriff, der in seiner historischen Genese die mitunter problematische Nähe zwischen Literatur und Historiografie sichtbar macht.

Mit ihrem der literarischen Analyse zugrunde gelegten Textkorpus möchte die Studie die vorab begründete Epochenzäsur ernstnehmen und sich auf historisch-fiktionale Texte nach 1989 beschränken. Der innerhalb der Gattungstheorie unterschiedlich diskutierte, zwischen 30 und 60 Jahren liegende Erzählabstand zum dargestellten Geschehen wird ersetzt durch die Frage, welche Ereignisse als historische (im Gegensatz zu zeitgeschichtlichen, gegenwärtigen oder zukünftigen) begriffen werden. Die im vorausgegangenen Kapitel formulierten Einsichten aufgreifend, werden im Folgenden Texte als historisch-fiktionale berücksichtigt, die sich in einem weiten Sinne auf historische Ereignisse, Figuren und Epochen bis zum Beginn der Nachkriegszeit literarisch beziehen. NS-Zeit und Holocaustdarstellungen einer Nachgeborenen-Generation werden als historische Ereignisse ausdrücklich dem Gegenstandsbereich des historischen Romans zugerechnet.

Darunter fallen auch einige Texte aus dem Feld der sogenannten Erinnerungsliteratur, etwa von W.G. Sebald, Marcel Beyer, Katharina Hacker oder Günter Grass sowie von Vertretern der österreichischen Gegenwartsliteratur wie Erich Hackl, Robert Menasse und Norbert Gstrein. In Anlehnung an eine sinnvolle Differenzierung, die Aleida Assmann vornimmt, gehören nur jene Erinnerungstexte zum Gegenstandsbereich des historisch-fiktionalen Erzählens, mithin zum historischen Roman der Gegenwart, die eine bereits vermittelte autobiografische Erfahrung oder Erinnerungsprozesse fiktionalisieren, denen keine autobiografische Erfahrung zugrunde liegen.1 Die Nachgeborenen-Perspektive ist entscheidend für diese Texte: Sie verantwortet die historische Distanz zum fiktionalisierten historischen Geschehen, das kein autobiografisch erinnertes und erlebtes mehr darstellt, sondern ein im Medium der Literatur fiktional imaginiertes. Damit grenzen sich die hier untersuchten historisch-fiktionalen Texte über die NS-Zeit von dem weiter gefassten Genre der Holocaust-Literatur ab, das auch nicht-fiktionale Texte einschließt, insbesondere autobiografische Quellen von Zeitzeugen.2 Die von James E. Young in seiner programmatischen Studie Beschreiben des Holocaust (1992) berücksichtigte Autorenfigur des Holocausts-Überlebenden, der »als literarischer Chronist mit seinem Schreiben sowohl sich selbst als auch seine Erfahrungen post factum existent [macht]«,3 ist damit kein Gegenstand der vorliegenden Studie. Um von einem historischen Roman sprechen zu können, ist es unabdinglich, dass die im literarischen Text Epoche als eine historische (d.h. auch historisierte) zu verstehen ist. Dies ist im Fall der Nachgeborenen-Generation, die ihre Texte vorrangig im 21. Jahrhundert veröffentlicht, der Fall und wird von deren Autoren, wie das Beispiel Norbert Gstreins zeigen wird, explizit thematisiert.

Die innerhalb der Gattungsgeschichte bislang kaum berücksichtigte Ausweitung der Gattung auf Darstellungen der Ereignisse bis 1945 macht die üblich gewordene Diskussion ihrer metafiktionalen Dimension im Kontext eines Postmoderne-Begriffes fraglich. Stellvertretend für die wenigen aktuellen Veröffentlichungen zur Gattung beschließt etwa Hans Vilmar Geppert seine jüngste Studie mit dem historischen Roman der Postmoderne und subsumiert darunter auch Erinnerungstexte von Uwe Timm und W.G. Sebald.4 Ein postmoderner Skeptizismus und Relativismus, der sich von sämtlichen politischen und moralischen Normen freispricht, erweist sich mit Blick auf den Geschichtsbegriff der Gegenwart jedoch als ebenso problematisch wie im Kontext eines historisch-fiktionalen Erzählens, das die Katastrophen des 20. Jahrhunderts, die Vernichtungsmaschinerie des Holocausts, das Ausmaß der Kriegsverbrechen und individuelle wie kollektive Traumata der Opfer in den Blick nimmt. Eine konsequent relativistische Geschichtsauffassung muss aus epistemologischer wie ethischer Perspektive problematisiert werden, da sie die Möglichkeit einer wissenschaftlichen Aufarbeitung historischen Geschehens, auch des Holocausts, letztlich bestreitet. Auch aus diesem Grund wird die bislang übliche Vereinnahmung historisch-fiktionaler Texte der Gegenwart durch den Postmodernebegriff in der vorliegenden Studie entschieden abgelehnt: Vielmehr soll es darum gehen, das literarische Erzählen der Geschichte in seiner Teilhabe an einem Geschichtsdiskurs zu überprüfen, der die Brüchigkeit des Geschichtsbegriffes, seine im Zeichen der Narration sichtbar werdende Unzuverlässigkeit ernst nimmt und dennoch an einer Orientierungsfunktion historischen Wissens festhält – an einer Orientierungsfunktion, die, so wird zu zeigen sein, nicht zuletzt ethisch begründet ist.

Abschließend bleibt festzustellen, dass sich die vorliegende Untersuchung einer grundsätzlichen methodologischen Unsicherheit stellen muss, mit der jede Studie konfrontiert ist, die in ihrem Verlauf einen Gattungsbegriff im Hinblick auf eine bestimmte Epoche zu schärfen versucht, diesen jedoch von Beginn an verwendet. Konkret bedeutet dies, fiktional-historisches Erzählen, mithin die Gattung des historischen Romans zum einen als bekannte Kategorie vorauszusetzen, zum anderen aber erst sukzessive in ihren für die Literatur der Gegenwart geltenden Koordinaten zu bestimmen. Vor dem Hintergrund dieser Problemstellung kann der einleitend erfolgte Forschungsüberblick die Frage »Was ist ein historischer Roman?« nicht erschöpfend beantworten, sondern allenfalls zeigen, wie in der Vergangenheit die Gattung bestimmt wurde, welche Merkmalszuschreibungen sich etablieren konnten und wo augenfällige Zäsuren erfolgt sind. Ansgar Nünning thematisiert in seiner Habilitationsschrift diese methodologische Problematik zu Recht und sucht sie zu lösen, indem er auf eine universalistische Gattungsbezeichnung verzichtet und stattdessen die literaturwissenschaftliche Kategorie »Vermittlungsformen narrativ-fiktionaler Geschichtsdarstellung« vorschlägt.5 Hier folgt Nünning u.a. den Anglisten Raimund Borgmeier und Bernhard Reitz, die in ihrer Studie zum historischen Roman des 19. und 20. Jahrhunderts zwischen narrativ-fiktionaler und narrativ-wissenschaftlicher Geschichtsdarstellung unterscheiden.6 Diese Unterscheidung sorgt für eine angemessene Binnendifferenzierung des historischen Erzählens, das innerhalb der Gattungsforschung vorschnell für das fiktionale Erzählen im historischen Roman angewandt wurde. Historisches Erzählen meint traditionell nicht das historisch-fiktionale Erzählen, sondern Geschichtsdarstellungen im Kontext von Geschichtstheorie, Geschichtsdidaktik und insbesondere der Historiografie.7 Insofern ist eine Vereinnahmung des Begriffes ausschließlich für die fiktionale Literatur, wie sie etwa in den Studien Hermann Sottongs und Hugo Austs auffällt, problematisch und verwischt die entscheidende Grenze zum historischen Erzählen in historiografisch-wissenschaftlichen Texten.8 Eine entsprechende Trennschärfe fordert Gérard Genette in seinem Plädoyer für eine narratologische Auseinandersetzung mit der nichtfiktionalen Erzählung zu Recht ein.9

Mit Borgmeier/Reitz und Genette hält die vorliegende Untersuchung an der Trennung zwischen einer faktual-wissenschaftlichen Geschichtsdarstellung und einem historisch-fiktionalen Erzählen in literarischen Texten fest, nicht ohne von grundsätzlichen Analogien zwischen beiden Erzählformen auszugehen. Beiden Erzählmodi gemeinsam ist die Nachzeitigkeit des Erzählstandortes. Erzähler wie Historiker sind keine objektiven Beobachter der historischen Ereignisse, auf die sie sich beziehen, sondern liefern mit ihren Versionen der Geschichtsdarstellung einen Akt der retrospektiven Sinnstiftung, der in beiden Fällen der Imagination bedarf und subjektiven Interpretationsprozessen des Historiografen wie des literarischen Autors unterworfen ist.10 Gerade die Einsicht in die Narrativität der Geschichte und die damit verbundenen fiktionsstiftenden Implikationen historischen Erzählens lösen jene kontrovers geführten Diskussionen um das Verwandtschaftsverhältnis zwischen Dichtung und Geschichtsschreibung aus, denen die vorliegende Studie in ihrem ersten Teil nachgehen wird. Um das historiografische und das literarische Erzählen gegeneinander halten zu können, ist die im Folgenden vorgenommene Differenzierung des Erzählbegriffes damit auch aus pragmatischer Sicht sinnvoll.

Zudem ist die Trennung zwischen narrativ-wissenschaftlicher und narrativ-fiktionaler Geschichtsdarstellung einem entscheidenden Unterschied geschuldet, den Borgmeier und Reitz ausführen und der in der Referenzialität der jeweiligen Texte begründet liegt. Im Gegensatz zur Fiktion begreift die narrativ-wissenschaftliche Geschichtsdarstellung die in ihr geschilderten Erfahrungszusammenhänge als »offen, als falsifizierbar und als fortschreibbar«, da sie sich auf ein explizites Textäußeres, die historischen Fakten nämlich, beziehen. Das fiktionale Kunstwerk hingegen ist als geschlossenes zu verstehen, das die Frage nach der ›Wahrhaftigkeit‹ allenfalls auf die Ebene des Erzählten verschiebt, nicht aber auf jener der Erzählung stellt: Möglicherweise lässt sich die im literarischen Text dargestellte Geschichte als »falsch« bezeichnen, keinesfalls aber das Kunstwerk selbst.11 Damit ist ein zentrales Merkmal fiktionalen Erzählens bezeichnet, das Aleida Assmann als »Gesetz der ästhetischen Geschlossenheit«12 bezeichnet hat. An diesem Gesetz wird hier festgehalten und damit an die erzähltheoretischen Prämissen Matias Martinez’ und Michael Scheffels angeknüpft, die den Fiktionalitätsstatus literarischer Texte darüber definieren, dass diese »grundsätzlich keinen Anspruch auf unmittelbare Referenzialisierbarkeit, d.h. Verwurzelung in einem empirisch-wirklichen Geschehen erheben […].«13

In der vorliegenden Studie bleibt der Begriff des historischen Erzählens somit dem akademischen Diskurs, den wissenschaftlich-historischen Texten vorbehalten, während mit einem historisch-fiktionalen Erzählen die literarische Narration gemeint ist. Der historische Roman wird dem historisch-fiktionalen Erzählen zugerechnet, wobei der letztgenannte Begriff den im Rahmen der Studie favorisierten bezeichnet. Dies begründet sich zum einen durch die eingangs angedeutete Gefahr, mit einer universalistischen Gattungsbezeichnung die angestrebte Sensibilisierung für die spezifischen Merkmale historisch-fiktionalen Erzählens der Gegenwart zu verschleiern. Zum anderen ermöglicht es der weiter gefasste Begriff, den Textkorpus auf kürzere Texte, etwa Erzählungen von Felicitas Hoppe, W.G. Sebald, Günter Grass oder Erich Hackl auszuweiten. Bewusst will die Studie eine terminologische Engführung der Gattung vermeiden und die hier untersuchte historisch-fiktionale Literatur auf Texte ausweiten, welche die Ränder der Gattung markieren, dabei aber Merkmale des historisch-fiktionalen Erzählens der Gegenwartsliteratur durchaus repräsentativ vertreten. Dazu gehören etwa Texte, die an der Schnittstelle zwischen historisch-fiktionalem und autobiografischem Erzählen verortet sind (Uwe Timm, Am Beispiel meines Bruders) oder deren erzähltes Geschehen die Grenze zwischen Historie und Zeitgeschichte vergegenwärtigt (Benjamin Stein, Die Leinwand). Mit Lukas Hartmanns Bis ans Ende der Meere (2009) wird zudem einer jener historischen Romane berücksichtigt, der die Möglichkeiten einer finalen Grenzziehung zwischen dem historischen Roman als Gattung des Unterhaltungsgenre und dem vermeintlich ungleich selbstreflexiveren ›anderen‹ historischen Roman bereits in Frage stellt.

Nicht berücksichtigt wird das erst in jüngerer Zeit so benannte Genre der ›kontrafaktischen literarischen Geschichtsdarstellung‹. Darunter sind Texte zu verstehen, deren primäres Ziel »das erkennbare Abweichen von tradierten Auffassungen über Verlauf und Hergang vergangener Ereigniskonstellationen,« mithin das Imaginieren einer alternativen Vergangenheitsversion darstellt.14 Die Wirkungsdimension solcher Texte ist mit Andreas Martin Widmann durch die in ihnen angelegte provozierte »Differenz zwischen dem als bekannt und faktisch vorausgesetzten Wissen über historische Vorgänge und Zusammenhänge und der im fiktionalen Erzähltext dargestellten Version ebendieser Vorgänge und Zusammenhänge« bestimmt. Damit aber fordern solche Texte implizit das Wissen des Rezipienten um das vermeintlich ›richtige‹ historische Geschehen ein – nur in Abgrenzung dazu kann die dargestellte kontrafaktische Geschichtsdarstellung ihre Wirkungskraft entwickeln. Anders sieht es bei den in der vorliegenden Studie untersuchten Texten aus, die auch dort, wo sie eine ›erfundene‹ Geschichtsversion ausstellen, die Problematisierung historischer Eindeutigkeit unabhängig vom historischen Vorwissen des Rezipienten im literarischen Erzählen selbst verankern. Die besondere Leistung historisch-fiktionaler Texte der Gegenwart liegt darin begründet, die Fiktionalisierung der Historie ebenso zu reflektieren wie die der Geschichtsschreibung inhärenten fiktionsstiftenden Merkmale. Bisherige Forschungspositionen, die den ›anderen‹ historischen Roman als kritisches Instrument begreifen, den grundsätzlichen Hiatus zwischen Geschichte und Fiktion sichtbar zu machen, möchte die vorliegende Studie erweitern: Sie lässt sich von der Prämisse leiten, dass dieser Hiatus in dem Geschichtsbegriff begründet liegt, den die Gattung kritisch prüft und dessen Reflexion ihre Teilhabe am Geschichtsdiskurs der Gegenwart unterstreicht.

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