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Rechtshändiger Pfad/Linkshändiger Pfad
ОглавлениеDer eigentliche Ursprung der Terminologie des rechtshändigen Pfades im Gegensatz zum linkshändigen liegt im Sprachgebrauch tantrischer Sekten Indiens. Deren zentrale Unterscheidung ist diejenige zwischen Dakshinachara, dem „rechten Weg“, und Vamachara, dem „linken Weg“. Die Unterschiede innerhalb dieser Sekten werden oben im Kapitel über den Hinduismus behandelt. Die mutmaßliche Entwicklung der Differenz zwischen rechtshändigem und linkshändigem Pfad ist ziemlich vielschichtig, aber sie entstammt den breitgefächerten Lehren vom natürlichen Fließen einer universalen Kraft durch den menschlichen Körper, die auf der linken Seite in diesen eintritt, ihn entlang einer Links-Rechts-Bahn durchströmt und rechts wieder aus ihm austritt. Auf kosmischer Ebene entspricht diesem Fluss ein Kraftstrom von Nord nach Süd. Man sagt, der kosmische Fluss verläuft in Harmonie zu dem Energiestrom im Körper eines Menschen, wenn dieser sich Richtung Osten orientiert, so dass seine linke Hand gen Norden, die rechte nach Süden zeigt.7 Hier findet sich der Schlüssel zu dem – innerhalb des Tantrismus des linkshändigen Pfades so verbreiteten – Antinomismus bzw. zu der Zurückweisung der üblichen Normen. Um das Schema des Verlaufs von links nach rechts, im Widerspruch zur Natur und zum kosmischen Gesetz, umzukehren, muss man die Stärke seines Willens schulen. Es handelt sich dabei um einen Aufstand gegen die Natur und die als göttlich angesehene Ordnung des Kosmos. In einer geradezu technischen Terminologie ausgedrückt, bewegt sich der Dakshinachara mit dem natürlichen Fluss und der Vamachara dagegen. Individuen, die „gegen den Strom schwimmen“, entwickeln und individuieren sich stärker in ihrem natürlichen Umfeld. Sie erreichen und behaupten Unabhängigkeit und Freiheit, und zuweilen streben sie sogar nach persönlicher Unsterblichkeit.
Man hat behauptet, dass das eigentliche Wesen des Tantrismus im Streben des so genannten Vamachara besteht und dass Begriff und Praxis des Dakshinachara erst später, nach einer Reform innerhalb des Tantrismus, eingeführt worden sind.8 Julius Evola bemerkt zu dieser Unterscheidung zwischen beiden Pfaden:
Der schöpferische und produktive Aspekt des kosmischen Prozesses wird durch die rechte Hand, die Farbe weiß und die beiden Göttinnen Uma und Gauri symbolisiert (in der Shakti als Prakashatmika, ‚die Helle und Offenbare’, erscheint). Der zweite Aspekt, derjenige von Abkehr und Umkehr (exitus, reditus), wird durch die linke Hand, die Farbe schwarz sowie durch die dunklen, destruktiven Göttinnen Durga und Kali ausgedrückt. Daher erfahren wir, gemäß dem Mahakala-Tantra, das Samsara, wenn sich linke und rechte Hand im Gleichgewicht befinden, aber wenn die rechte Hand obsiegt, finden wir die Befreiung.9
Eine weitere faszinierende Beschreibung der beiden Wege spiritueller Entwicklung im hinduistischen Kontext findet sich in der Unterscheidung zweier Richtungen, die die Seele auf ihrer Reise nach dem Tod einschlägt: Devayana ist der Weg der Devas (Götter), und Pitriyana ist der Weg der Pitris (Ahnen). Das Devayana ist der polare, vom Sommerhalbjahr bestimmte Weg, auf dem sich die Sonne Richtung Nordpol bewegt. Diejenigen, die sich nach dem Tod auf den Weg des Devayana begeben, sind erleuchtet, werden wie Götter und ihrem Willen entsprechend wiedergeboren. Wer hingegen das Pitriyana beschreitet – den äquatorialen Weg, den der Umlauf der Sonne im Winterhalbjahr beschreibt –, wird gemäß rein natürlicher Gesetzmäßigkeit, d. h. auf ewig nur in seinen reinkarnierten Ahnen, wiedergeboren.10
Alain Daniélou hebt hervor, dass der linkshändige Pfad mit einer „Tendenz zur Desintegration“ (tamas) einhergeht, die
die Kraft der Natur die Leidenschaften und Instinkte des Menschen verwendet, um mit deren Hilfe, die Welt der Sinne zu erobern […].
Dieser Weg führt unmittelbar aus dem Reich der Physik in das der Abstraktion, weil […] die absteigende Tendenz sich an beiden Grenzen der Erscheinungswelt zeigt. [Der linkshändige Pfad kann daher] Erotik und Trunkenheit als Mittel spirituellen Fortschreitens verwenden.11
Der linkshändige Pfad ist im Hinduismus eindeutig mit der Vorstellung einer Des-Integration (Trennung) sowie mit der Praxis des Antinomismus – gegen den Grundbestand der gesellschaftlichen Konventionen zu opponieren mit dem Ziel, spirituelle Macht zu erlangen – verbunden.
Mit den Sanskrit-Begriffen der indischen Schulsysteme gesprochen, sucht der rechtshändige Pfad eine Vereinigung oder Verbindung des Jivatman, des individuellen Selbst oder der Seele, mit dem Paramatman, der höchsten, allgemeinen Seele des Universums zu erlangen. Der linkshändige Pfad strebt lediglich danach, den Jivatman auszudifferenzieren: ihn zu entwickeln, in seiner Eigenart auszubilden und schließlich unsterblich zu machen, ohne je bewusst zu versuchen, ihn auf Dauer mit irgendetwas anderem zu vereinen.12
Von jemandem, der die Einheit mit seinem Jivatman erreicht erreicht habe, wird gesagt, er sei in den Zustand des Jivanmukti eingetreten, in einen Zustand individueller Befreiung. Die klassische Formulierung des Konzepts des Jivanmukti findet sich in einem Text aus dem vierzehnten Jahrhundert von Vidyaranya (gest. 1386), dem Jivanmuktiviveka.13 Womöglich wurde die Idee der „Befreiung schon während des Lebens“ der Sache nach bereits von Samkara (788 - 820) vertreten, und sie blieb ein wesentlicher Bestandteil in der Schule des Advaita Vedanta, der auf Samkaras Interpretationen der Upanishaden beruht. Der Trpti-dipika von Vidyaranya enthält auch Betrachtungen zum Leben von Jivanmuktas.