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Der linkshändige Pfad im Buddhismus
ОглавлениеDie Position des linkshändigen Pfades im Buddhismus ist eher philosophischparadox, aber in Tat und Praxis ähnlich verbreitet wie im Hinduismus. Das Paradoxe an der buddhistischen Variante des linkshändigen Pfades besteht darin, dass dieser auf der Voraussetzung gründet, dass es kein individuelles Selbst gibt und die Idee eines Selbst eine vom Geist erschaffene Illusion ist. Der Hindu glaubt hingegen, dass ein Selbst existiert, wie auch die Götter und Göttinnen existieren. Die Buddhisten weisen diese Behauptungen zurück, ebenso wie sie die ultimative Gültigkeit der Veden bestreiten; dies sind wohl auch die Hauptgründe dafür, dass die Buddhisten in Indien als Häretiker verfemt sind. Ursprünglich war der Buddhismus nicht so sehr eine Religion, sondern eher eine Methode oder Technik der „Erleuchtung“, um den Zustand des Nirwana zu erreichen. Im Laufe der Geschichte sind viele Elemente in die buddhistische Methodik eingegangen, als sie sich verschiedenen regionalen Kulten und gesellschaftlichen Bedingungen in ganz Asien anglich.
Der historische Siddharta Gautama, der „Buddha“ („Der Erwachte“) genannt wurde, verstarb 544 v.u. Z. Er war ein indischer (arischer) Prinz eines Stammes der Kshatriya (Kriegerkaste), der paradoxerweise einen brahmanischen Namen trug: Gautama, „Abkömmling des Weisen Gotama“. Siddharta begründete eine tief greifende Lehre, um zur Erleuchtung zu gelangen. Diese Lehre basiert auf den so genannten Vier Edlen Wahrheiten:
1. Das Leben im Daseinskreislauf ist letztlich leidvoll (Pali Dukka).
2. Ursache des Leidens ist die Begierde (Pali Tanha).
3. Das Leiden kann durch „Auslöschung der Begierde“ beendet werden (Pali Nibbana, Skt. Nirvana).
4. Zur „Auslöschung der Begierde“ führt der Edle Achtfache Pfad (Pali ariya).
Der Edle Achtfache Pfad umfasst folgende Grundprinzipien: rechtes Verstehen, rechtes Denken, rechte Rede, rechtes Handeln, rechter Lebensunterhalt, rechtes Streben, rechte Achtsamkeit (Kontemplation), rechte Sammlung (Einsgerichtetheit des Geistes). Durch das Beschreiten des Achtfachen Pfades erlangt der Praktizierende den erwachten Zustand der Buddhaschaft.
Der Buddhismus ist auf dieser Ebene eine hoch entwickelte und komplexe Lehre, die den rechtshändigen Pfad versinnbildlicht. Ihr Ursprung ist leicht zu verstehen, wenn man die erste der Vier Edlen Wahrheiten analysiert. In einer Kausalkette ist das Leid der Ignoranz gleichgesetzt; diese verursacht Einbildung; Einbildung bewirkt Selbst-Bewusstsein, welches wiederum die Verkörperung der Existenz verursacht, durch welche die Sinne entstehen, die Wahrnehmungen hervorrufen. Wahrnehmungen bewirken Emotionen; Emotionen rufen Begierden (Tanha) hervor; diese erzeugen Anhaftung (an die begehrten Dinge); Anhaftung führt zum Werden, und Werden führt zur Wiedergeburt – dem Urphänomen, das sowohl in der hinduistischen als auch in der buddhistischen Tradition mit Leiden gleichgesetzt wird. Die Ignoranz, welche die ganze Kette in Bewegung setzte, wird mit einer Ignoranz gegenüber der Natur des Universums gleichgesetzt, die voller Leid (Dukka), Instabilität oder Werden (Anicca) sowie „Nichtvorhandensein von Selbst“ (Anatta) ist. Wären die Buddhisten diesen fundamentalen philosophischen Standpunkten treu geblieben, könnte von einem buddhistischen linkshändigen Pfad keine Rede sein.
Die am meisten „orthodoxe“ – oder einfachste – buddhistische Schule wird als Theravada („Schule der Ältesten“) bezeichnet und ist am stärksten im südlichen Buddhismus in Sri Lanka und in Südostasien vertreten. Doch um das erste und zweite Jahrhundert begannen gelehrte Mönche, eine stärker esoterische Tradition zu entwickeln, die als Mahayana („Großes Fahrzeug“) bekannt wurde. In diesem Kontext wird Theravada oft als Hinayana („Kleines Fahrzeug“) bezeichnet. Mahayana-Buddhismus herrscht vor allem im Norden vor: in Tibet, China und Japan. Der orthodoxe Standpunkt ist, dass jeder Einzelne für seine eigene Erleuchtung voll verantwortlich und dass Nirwana, das Reich der Seligkeit, vom Reich der Illusion oder Maya (der Welt der Erscheinungen) vollkommen geschieden ist.
Im Mahayana gab es eine Tendenz, die absolute Trennung zwischen Nirwana und Maya zu überbrücken. Ein Weg dorthin wurde in der Lehre vom Bodhisattva („Erleuchtungswesen“) gefunden. Ein Bodhisattva ist ein nahezu vollendetes Wesen, das durch eine Art magischer Intervention aus seinem aufgestiegenen Zustand heraus die Erleuchtung oder Weiterentwicklung weniger erleuchteter Menschen bewirken kann. (Diese Lehre, wie sie im tibetanischen Buddhismus zu finden ist, ist augenscheinlich die Hauptquelle späterer Vorstellungen von „unbekannten Oberen“, „geheimen Führern“ und Mahatmas, wie sie in einigen freimaurerischen, freimaurerähnlichen und theosophischen Schulen des Westens zu finden sind.)
Eine bestimmte, Madhyamika genannte philosophische Schule innerhalb der Mahayana-Tradition behauptete, dass es zwischen Maya und Nirwana keinen Unterschied gäbe: Beide seien gleichermaßen leer (Shunyata), oder – alternativ – die Welt der Erscheinungen (Maya) bestünde nur im Denken des Wahrnehmenden.
Diese Vorstellungen mögen den Leser an die „Sens-data“-Theorien der britischen Philosophen George Berkeley (1685 - 1753) und David Hume (1711 - 1776) erinnern, deren Anwendung des Empirismus sie zu dem Schluss geführt hat, dass wir die subjektiven Inhalte unseres Geistes (mind) nur durch Sinneseindrücke erfassen können. Die „Realität“ der Welt außerhalb unseres Geistes ist ungewiss. Bereits in der Antike durchliefen die Erkenntnistheorien des Buddhismus und des Hinduismus einschneidende Stationen subjektivierender Betrachtung, wie sie im Westen erst nach dem Niedergang der intellektuellen Hegemonie des Christentums möglich werden konnte (siehe Kap. 6).
Die markanteste Entwicklung innerhalb des Mahayana-Buddhismus ist das Aufkommen des Vajrayana („Donnerkeil oder Diamantfahrzeug“), der sich besonders in Tibet verbreitete. Philosophisch gesehen, ist Vajrayana praktisch gleichbedeutend mit tibetisch-buddhistischem Tantrismus. Wenn also Maya gleich Nirwana ist, dann kann der Genuss in der Welt der Erscheinungen durchaus in die Welt der Seligkeit führen. Maya wird benutzt, um Nirwana zu erreichen. Unter praktischen Gesichtspunkten öffnet dies den Weg zum Antinomismus. „Profane“ Dinge werden in einer gedanklichen Übung zu „reinen“ gemacht. Vajrayana ist auf philosophischer wie auf praktischer Ebene stark vom indischen (hinduistischen) Tantrismus, der indigenen tibetischen Religion (Bön) und dem zentralasiatischen Schamanismus beeinflusst. Wieder nimmt die „Hochkultur“, im antinomistischen Geiste, Techniken aus der „unteren Kultur“ in sich auf.
Im Buddhismus wie im Hinduismus endet der linkshändige Pfad nicht in der Absorption oder Annihilation der Individualität im Moksha oder Nirwana, sondern in einer Verewigung dieser Individualität auf einer beständigeren Existenzebene. In der buddhistischen Terminologie strebt der Praktizierende des linkshändigen Pfades nur danach, den Zustand des Bodhisattva zu erreichen – und darin als Gottheit zu verweilen – „engelhaft“ oder „dämonisch“. Der endgültigen Entwerdung widersetzt er sich.
Natürlich bilden solche Ziele, wenn wir die ursprünglichen buddhistischen Lehren betrachten, eine theoretische Antithese zum Fundament des Buddhismus. Doch in der Geschichte religiöser Vorstellungen sind solche Widersprüche keine Seltenheit. Wer würde zum Beispiel daran denken, dass die Lehren des Nazareners, wie sie in den Evangelien wiedergegeben werden, benutzt werden könnten, um Institutionen wie die Inquisition zu unterstützen oder um zu Kreuzzügen aufzurufen? So überrascht es auch nicht, wenn der Buddhismus aus sich selbst heraus Muster entwickeln könnte, die mit den ursprünglichen Absichten seines Begründers nicht übereinstimmen. Durch die fünfzehn Jahrhunderte nach Gautamas Tod hindurch verbreitete sich der Buddhismus von Indien aus auf überwiegend friedliche Weise bis nach Südostasien, China, Tibet, die Mongolei und Japan. Auf dem Nährboden dieser kulturellen Vielfalt ist es sicherlich kein Wunder, dass auch Lehren ihre Wurzeln im Buddhismus schlagen konnten, die zu denen des Begründers im Widerspruch stehen.
Der Tantrismus des linkshändigen Pfades scheint in der buddhistischen Welt mehrere Entwicklungszentren zu haben. Die bedeutendsten davon sind Tibet und Bengalen (das heutige Bangladesh). Aus letzterer Region wurde der Buddhismus schließlich durch die muslimischen Eroberer seit etwa 1200 u. Z. vertrieben und verbreitete sich weiter nach Java und bis nach Nepal.