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Methoden des linkshändigen Pfades im Hinduismus

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Obwohl Vamacharins in all den verschiedenen, soeben erwähnten Kultgemeinschaften angetroffen werden können, ist es grundsätzlich die Verehrung der Göttin, in der Gestalt einer menschlichen Frau oder in Form weiblicher Symbole, durch die der männliche Vamacharin den linkshändigen Pfad praktiziert. Abgesehen von der Bedeutung „links“ steht das Sanskritwort vama auch für „Frau“ oder „Göttin“.29 Dahinter verbirgt sich die eigentliche Bedeutung, dass sowohl die Göttin als auch die Frau als Verkörperungen von Shakti (Macht) angesehen werden.30 Es ist, zumal aus einer männlichen Perspektive, einleuchtend, dass das Wesen eines Vamachara in der vollständigen Verwandlung des initiierten Menschen in etwas Übermenschliches und einem Gott (oder einer Göttin) Gleiches besteht. Dies gehört zu den Ursachen für die große Bedeutung des Antinomismus (der Zurückweisung aller Arten von Vorschriften) für die Verfahrensweisen aller östlichen Ausprägungen des linkshändigen Pfades.

Ein häufig übersehener Aspekt sowohl des Individualismus als auch des Antinomismus der indischen Systeme des linkshändigen Pfades verbirgt sich in den Lehren des Hatha Yoga. Das Sanskritwort hatha bedeutet „Kraft“ oder „mühsame Anstrengung“, weshalb es dazu verwendet wurde, solche yogischen Methoden zu bezeichnen, die sich vor allem des menschlichen Körpers als physisches Vehikel bedienen.31 Von der Übung des reinen Hatha Yoga wird gesagt, dass sie Jivanmukti hervorbringen und dem individuellen Dasein Unsterblichkeit verschaffen könne, indem „alle psychophysischen Energien“ aktiviert würden.32 In den Upanischaden heißt es, „jeder Gott ist hier, im Körper, eingeschlossen“, und auch die Tantras schätzen Körperlichkeit und individuelle Existenz hoch: „Shiva ist Sadashiva [= Shiva als reines „Sein“ betrachtet]33.“ Die Tantras zeigen, wie das Vedische Zeitalter, keine Verachtung des Körpers – im Gegenteil wird sowohl sein Genuß als auch seine Ergründung zwecks Enthüllung der in ihm verborgenen Geheimnisse hervorgehoben.34

Von außen gesehen besteht einer der wesentlichen Unterschiede zwischen den Methoden des Dakshinamarga und des Vamamarga darin, dass der Dakshinacharin seine „Verehrung mit Hilfe eines Ersatzes“ ausübt, während der Vamacharin das anderenfalls nur Symbolische real praktiziert. Es kann vorkommen, dass er an Grausamkeiten und anderen Abirrungen von den sozialen und religiösen Normen als einem Weg teilhat, sich selbst völlig außerhalb der profanen Gesellschaft zu platzieren. Dadurch wird er von den Fesseln und Tabus der Gesellschaft befreit und befreit sich damit zugleich auch von den spirituellen Fesseln.35 (Man bedenke die virtuelle Identität von spiritueller und sozialer Ordnung, wie sie im indischen Kastensystem zum Ausdruck kommt!) Die Verfahrensweisen des linkshändigen Pfades scheinen die bei weitem archaischeren zu sein.36

Eines der Hauptprinzipien der Praxis des linkshändigen Pfades liegt darin, Befreiung (hier „Yoga“ genannt) anzustreben und dennoch die Fähigkeit, Freude (Bhoga) zu empfinden, zu behalten. Die Methode, die dies ermöglicht, impliziert die Identifikation (Smadhi) des individuellen Selbst mit einem höheren Selbst während eines Glückszustandes (Bhoga).37 Im Kularnava Samhita (5.219) heißt es dazu: „Durch Freude erwirkt jemand Befreiung; Freude ist das Mittel, den höchsten Wohnsitz zu erlangen. Der Weise, der [den Geist] zu erobern verlangt, sollte daher alle Freuden erfahren.“38

Vimalananda deutet auf einen Grund hin, weshalb sich der Anhänger des linkshändigen Pfades nicht mit einer Gottheit außerhalb seiner selbst identifiziert: Es liegt einfach daran, dass er das Göttliche und die Anwesenheit in seiner Nähe so sehr liebt, dass er seine Gedanken und Gefühle kontrolliert, um die Wirklichkeit dieser „Gemeinschaft mit dem Geliebten“ besser genießen zu können.39

Wer dem Vamamarga folgt, wird möglicherweise völlig die Methoden und Rituale des Dakshinamarga als unnütz oder ohne jede Hilfe für die geistige Entwicklung zurückweisen. Vielleicht wird er die Verehrung seiner Gottheit tagsüber auf traditionelle Weise fortsetzen und in der Nacht die Riten des Vamachara praktizieren. Nächtliche Kultpraktiken sind oft Kennzeichen antinomistischer Schulen.

Vimalananda unterscheidet zwischen zwei „Wegen“: dem Weg des Jnana (Wissen) und dem des Bhakti (Andacht). Wenn ein Schüler dem Weg des Jnana folgt, trennt er sich, wie man sagt, von seinem gewöhnlichen Körper und vereinigt sich selbst mit seinem „kausalen Körper“; von diesem Zeitpunkt an befolgt man die Weisungen (Adesha) eines inneren Guru. Wenn man andererseits den Bhakti-Weg geht, behält man die kontinuierliche Hingabe an ein Wesen bei, das außerhalb seiner selbst wahrgenommen wird. Hinsichtlich der Frage nach der Einheit mit einer Gottheit (in diesem Fall Krishna) sagt Vimalananda: „Aber die meisten Verehrer Krishnas wollen sich niemals mit ihm vereinigen; sie wünschen allesamt ihre eigenen Identitäten zu behalten, um seine Süßigkeit immer und immer wieder, für immer und ewig, zu schmecken.“40

Mit Bezug auf die Perspektive des linkshändigen Pfades fügt Svoboda hinzu, dass „man auf dem Weg des Jnana selbst Shiva wird, während man ihn auf dem Weg des Bhakti nur verehrt, aber von ihm unterschieden bleibt.“41 Diese Differenzierung ist von großer Bedeutung und sollte genau verstanden werden. Sie scheint für den linkshändigen Pfad von universeller Geltung zu sein. Auf dem Weg des Jnana verwandelt sich der Praktizierende selbst in ein Wesen von göttlicher Art, ohne seine eigene individuelle Existenz zu heiligen, während der Anhänger des linkshändigen Bhakti-Pfades danach strebt, seinem göttlichen Gegenüber nahe zu kommen und in der Gegenwart dieser Gottheit zu leben, ohne sich mit ihr zu vereinigen.42

Antinomismus findet sich in vielen Schulrichtungen des linkshändigen Pfades überall auf der Welt. In jeder Schule haben Philosophie und Praxis ihren eigenen Seinsgrund, aber allen liegt das Gebot des linkshändigen Pfades zugrunde, sowohl das eigene Selbst als auch die eigene Welt zu verwandeln. Um etwas zu verwandeln, muss man seine alte Form erst auflösen, bevor man ihm seine neue, gewünschte Gestalt geben kann. Um etwas zu re-konstruieren, muss es zunächst de-konstruiert werden. Diese postmoderne Auffassung ist in Wahrheit ziemlich alt.

Im Hinblick auf Antinomismus und den Tantrismus des linkshändigen Pfades stellt der französische Indologe Louis Renou fest: „Wir beobachten eine Umkehr normaler Andacht und normaler ethischer Grundsätze. Die Tatsache, dass dergleichen nun Gegenstand religiöser „Verehrung“ ist, zeigt eindeutig, dass eine Schwelle überschritten wurde, bis zu welcher jene Dinge als sündhaft wahrgenommen wurden.“43 Daher finden Gegenstände oder Praktiken, die bei einem orthodoxen Hindu (Dakshinachara) gewöhnlich Scham, Hass oder Furcht hervorrufen würden, bereitwillige Huldigung und werden mit einer sublimierten Aura der Heiligkeit versehen, um die sogenannten drei Knoten Scham, Hass und Furcht zu lösen. „Das grundlegende Prinzip des linkshändigen Pfades besteht darin, dass ein spiritueller Fortschritt nicht durch die falsche Verdrängung unserer Begierden und Leidenschaften zu erzielen ist, sondern durch eine Läuterung dieser starken Triebe, die uns überwältigen können, zu Mitteln der Befreiung.“44

Nach Daniélou unterrichtet uns das Kularnava-Tantra darüber, dass „der Herr der Tränen (Rudra) in den Lehren des linkshändigen Pfades dargelegt hat, inwiefern spirituelle Entwicklung am besten durch solche Mittel erreicht werden kann, die den Untergang des Menschlichen bewirken.“45

In seiner Erörterung des Kulavana Tantra weist Evola darauf hin, dass die Arbeit eines Vira auf seinem Weg, ein Divya zu werden, in der Reinigung seines Willens besteht (Icchashuddhi). Diese Reinheit wird als nackt, transzendent, fähig zur Selbstbestimmung, jenseits aller einander entgegengerichteten Werte und Gegensatzpaare charakterisiert. Während der Ausübung von Icchashuddhi sollen die folgenden acht Fesseln systematisch zerrissen werden: daya (Sympathie), moha (Täuschung), lajja (Scham oder der Begriff von Sünde), bhaya (Furcht), ghrina (Abscheu), kula (Familie, Verwandtschaft, Clan), varna (Kaste) und sila (gewohnte Sitten und Anschauungen).46 In dem Maße, in dem diese Fesseln abgeworfen werden, wächst die Freiheit des Vira.

Wie wir später in Kapitel 9 sehen werden, weist diese Technik des Icchashuddhi in vielerlei Hinsicht auf Anton LaVeys Weisung an seine Anhänger voraus, den „sieben Todsünden“ des Christentums zu frönen: Habgier, Stolz, Neid, Zorn, Völlerei, Begierde und Faulheit – um sich dadurch selbst ganz ähnlich von den Prägungen der modernen westlichen Zivilisation zu befreien.47

Der Grund, warum solche Techniken als effektiv für die Praxis des Hinduismus angesehen werden, liegt zum Teil darin, dass wir heute in dem als Kali Yuga bezeichneten Zeitalter leben: in einer Epoche der Weltgeschichte, die durch Materialismus und fehlendes Interesse an spirituellen Angelegenheiten gekennzeichnet ist. In einem solchen Zeitalter „kann allein die Leidenschaft, wenn sie zielführend eingesetzt wird, Egoismus, Hochmut und schnöde Berechnung überwinden. Sie allein hat die Kraft, den Menschen aus den Fängen, die ihn an seine Neigungen und Überzeugungen fesseln, zu befreien.“48

Die eigentliche Bedeutung des Antinomismus liegt darin, inwiefern er sich auf die individuelle Seele (Jivatman) und deren Transformation in ein göttliches Wesen bezieht. Sie hängt mit der Einheit der Persönlichkeit mit ihrer personalen Göttlichkeit, dem Jivatman selbst, zusammen. Die Begrenzungen oder Fesseln schränken das Selbst (Jivat) sowohl innerlich als auch äußerlich ein. Eine Verbindung des Selbst mit dem Jivatman ist so lange unmöglich wie die acht Fesseln den Willen des Vira einengen.

Obwohl nichts davon im tantrischen Kontext mit schlichtem „Egoismus“ gleichzusetzen ist, kann ein Element eines „göttlichen Egoismus“ in der Lehre wahrgenommen werden, dass das westliche – rote und Vamadeva („linkshändige Gottheit“) genannte – Gesicht Shivas gleichgesetzt wird mit „Ichheit“, dem Ahamkara, das mit Feuer, Sicht und Tätigkeit assoziiert wird.49

Ein solcher radikaler Individualismus ist für den linkshändigen Pfad charakteristisch. Svoboda bemerkt, dass die Suchenden „versuchen sollen, ihren Drang nach Individuation von Maya [Bewusstlosigkeit/​Objektivität] Richtung Chit [Bewusstsein/​Subjektivität] zu leiten, “ und sich nicht erlauben dürfen, weiterhin mit dem Strom ihres Lebens oder dem des Lebens ihrer Nachbarn zu schwimmen.“50 Weiterhin stellt er fest: „Aghoris [Anhänger der linkshändigen Aghora-Tradition] gestatten sich niemals, eine passive Begrenzung ihrer äußeren Umgebung zu dulden; sie nehmen selbst die Begrenzungen vor und definieren dabei ihre Umgebung.“51 In gewisser Weise an das kosmo-psychologische System von G.I. Gurdjeff (das wir in Kapitel 8 behandeln) anknüpfend, behauptet Svoboda außerdem:

Wir alle sind Teile des Universums, wie es sich manifestiert, und sind seinen Gesetzen solange unterworfen, bis wir die Kraft entwickelt haben, uns selbst in anderen Begriffen neu zu definieren. Ein Tantriker strebt danach, sva-tantra (‚aus sich heraus gestaltend’), frei von allen Begrenzungen, einschließlich denen der eigenen Persönlichkeit, zu werden.52

Bemerkenswert ist der kreative Aspekt der Praktiken des linkshändigen Pfades in vielen Schulen auf der ganzen Welt und zu jeder Zeit. Den linkshändigen Pfad zu gehen, heißt nicht einfach, ein „Programm“ festzulegen und diesem gemäß zu arbeiten. Auf dem Weg nach links verehrt man nicht einen Gott, sondern schafft Göttlichkeit aus einer subjektiven Perspektive. Hinsichtlich der Entwicklung der Lehren innerhalb der Aghora-Schule sagt Svoboda: „Vorschriften [sind] nicht in Steintafeln graviert, sondern in das Herz des jeweiligen Praktizierenden, der sie anwenden muss, um ein individuelles System hervorzubringen, indem er sich seine eigene spirituelle Nische meißelt.“53

Insbesondere für Männer schließt der Antinomismus den Drang nach der „Verehrung“ einer Göttin ein. Der Vamacharin huldigt der Göttin aber nicht einfach in der Gestalt einer Frau, sondern versucht selbst, eine Frau zu werden. Dies kann seine Wurzeln in einer historischen Entwicklungsstufe haben, auf der Männer die priesterliche Funktion von Frauen übernahmen und daher „Frauen werden“ mussten, um diese Aufgabe mit einer zeitlosen Autorität auszufüllen. Belege für diese Vermutung können in solchen Kultpraktiken gesehen werden, bei denen Priester anläßlich bestimmter Riten Frauenkleider tragen, oder in den Mythen und Legenden, die von Männern handeln, welche sich in Frauen verwandeln.54 Auf einer bestimmten geschichtlichen Stufe mag dies zutreffen; gleichwohl zeigt sich hier ein grundlegendes und ewiges, überzeitliches Prinzip, das sich in jenen Praktiken und Glaubensvorstellungen spiegeln mag. Gemäß der indischen (und möglicherweise auch der indoeuropäischen) Weisheit wird die „Struktur“ oder das Wesen eines subtilen oder spirituellen Körpers, der mit dem physischen Körper verbunden und in ihm enthalten ist, als weiblich angesehen (zumindest bei Männern). Mit anderen Worten: In jeder Person befindet sich eine spirituelle Wesenheit des entgegengesetzten Geschlechtes. (In der persischen Tradition kommt dieses Prinzip in Gestalt der Fravashis zum Ausdruck und in Skandinavien in den Fylgjur, Hamingjur usw. – nicht zu reden vom Begriff der Anima in der sehr einfühlsamen modernen Psychologie von C.G. Jung.) Wir können im indischen Denksystem auch zahlreiche technische Details kennenlernen, wie und warum dies so ist. Von den sieben größeren Padmas (Lotusblüten) oder Chakras (Rädern) wird gesagt, dass sie die sieben Wohnsitze des Weiblichen in jedem menschlichen Wesen seien: jeder von ihnen ist der Sitz einer Shakti (Kraft) von zweifellos weiblicher Natur.55 Indem er diese Shaktis erweckt und die Padmas oder Chakras (durch die Kraft des – ebenfalls weiblichen – Kundalini [Schlangenkraft]) aktiviert, verwandelt sich der Vamacharin allmählich (oder auch schnell) selbst in seine innere Göttin und „wird eine Frau“. Er unterzieht sich einer Transformation in sein „Gegenteil“.

Vor dem Hintergrund des linkshändigen Pfades benennt der Avhori-Weise Vimalananda das Ziel des Kundalini-Yoga als Wiedervereinigung von Shiva und Shakti, um Shiva in seiner ewigen Gestalt (als Sadashiva) wieder zu erschaffen: „Sadashivas linke Seite ist weiblich, und seine rechte Seite ist männlich; die beiden Prinzipien haben sich vereinigt, aber sie sind nicht ineinander übergegangen. Hätten sie sich vermischt, wäre dies das Ende des Spiels [Lila], und dies wäre durchaus keine Freude mehr.“56 Es ist hier mit Bedacht festzustellen, dass Vimalananda sehr genau zwischen Vereinigung [union] und Vermischung [merger] differenziert. Der Grund für seinen Wunsch, eine Vermischung beider Prinzipien letztlich zu vermeiden, liegt in der Freude, die er verlieren würde, wenn dies einträte.

Die wesentliche Grundlage dafür, dass die Kundalini-Shakti (Schlangenkraft) im Körper wachsen kann, liegt in der Fähigkeit, die gewöhnlichen oder üblichen (d. h. natürlichen) Strömungsmuster der körperlichen Kräfte umzukehren. Die Prana-Energie, die gewöhnlich aufwärts und in den Körper hinein fließt, wird veranlasst, abwärts und hinaus zu fließen, und die Apana-Energie, die normalerweise abwärts und/​oder hinaus fließt, wird gezwungen, aufwärts oder hinaus zu strömen. Wenn beide sich, dem Paradigma ihres üblichen Fließens entgegenlaufend, treffen, beginnt Kundalini-Shakti zu entstehen, und man sagt, dass sie sich „küssen“. Es ist hier offenkundig, dass sich der „Antinomismus“ des tantrischen Systems auch in den Bereich einer esoterischen Psychologie erstreckt.

In der gewöhnlichen (rechtshändigen) Praxis des Kundalini-Yoga besteht das Ziel darin, das Sahasrara-Chakra über dem Kopf zu aktivieren. Aus der Perspektive des linkshändigen Pfades scheint der eigentliche Punkt aber lediglich darin zu liegen, die Schlangenkraft zum sechsten oder Ajna-Chakra („Kommandozentrum“) und von dort in die drei verborgenen Chakren zu leiten. Diese drei verborgenen Chakren Golata, Lalata und Lalana liegen tief in der Kehle am Zäpfchen bzw. am weichen Gaumen. Der Aghori oder Tantriker des linkshändigen Pfades will keinesfalls mit dem Sahasrara eins werden, in dem jede Unterscheidung zwischen diesem und jenem, „Ich“ und „Nicht-Ich“ oder „Ich“ und „Du“ aufhören würde, da es dann, wie Vimalananda sagen würde, keine Freude mehr gäbe.

Vamacharins sind auch noch gegenwärtig dafür bekannt, dass Praktiken pflegen, die von eher orthodoxen Dakshinacharins als schändlich angesehen werden. Von den Aghora-Sekten beispielsweise sind Akte der Nekrophilie und des Kannibalismus bekannt. Diese und andere Praktiken werden nicht um eines perversen Vergnügens willen begangen, sondern sie hängen eher mit tiefverwurzelten kulturellen und religiösen Tabus zusammen. Indem diese gebrochen und die Grenzen von Gut und Böse überschritten werden, erklimmt der Aghori neue Stufen der Kraft und der „Befreiung“ (von seinen menschlichen Beschränkungen).

Der Begriff „Aghora“ bezeichnet im literarischen Sinne den „Furchtlosen“, und diese Eigenschaft wird mit dem südlichen Antlitz des fünfgesichtigen Shiva gleichgesetzt. Dieses Gesicht ist von schwarzblauer Farbe und verkörpert das Prinzip des Intellekts (Buddhi Tattva) oder des ewigen Gesetzes (Dharma).57

Weiter verbreitet als diese extremen Ausprägungen sind freilich die gemäßigteren Praktiken der sexuellen Mystik. Viele von diesen sind dazu gedacht, sexuelle und andere gesellschaftliche Tabus oder auch solche der Ernährungsgewohnheiten zu überwinden. Das Wort „Tantra“ wird im Westen seit den ersten populären Behandlungen dieser Thematik in den sechziger und siebziger Jahren synonym mit „Sexualmagie“ verwendet. Zur tantrischen Tradition gehört weitaus mehr als Sexualmystik, aber vor allem die linkshändigen Tantriker üben tatsächlich sexuelle Rituale als Bestandteil ihrer Praktiken aus.58

Die wichtigste Form der Sexualmystik ist in einem Ritus enthalten, den man Panchamakara (fünf Ms) nennt. Er wird im Kalivilasa-Tantra (X-XI) beschrieben, aber dort wird die Warnung ausgesprochen, dass er nur mit initiierten Frauen praktiziert werden darf. Die „fünf Ms“ beziehen sich auf die fünf Elemente, aus denen dieses Ritual besteht und deren Sanskritnamen alle mit dem Buchstaben „M“ beginnen: Matsya (Fisch), Mamsa (Fleisch), Madya (berauschender Trank), Mudra (Getreide) und Maithuna (Geschlechtsverkehr).

Auf dem rechtshändigen Weg wird gewöhnlich auf einen Ersatz zurückgegriffen: auf Räucherwerk, Essen, Sandelholz, eine Lampe und Blumen. In jedem Fall aber besteht eine reguläre Korrespondenz zu den fünf klassischen hinduistischen Elementen oder Tattvas: Äther, Wasser, Erde, Feuer und Luft.

Bei einer typischen Übung des Panchamakara des linkshändigen Pfades werden die beiden Feiernden der vier essbaren Aspekte teilhaftig, bevor sie zu einer sexuellen Yoga-Praxis übergehen. Diese Elemente wurden als Aphrodisiaka beschrieben, und sie werden gewöhnlich als tabuisierte Substanzen angesehen (die aus orthodox-hinduistischer Perspektive generell als profan gelten), jedoch sakralisiert durch geistige Disziplin und tantrische Praktiken. Mit anderen Worten: Die in das Panchamakara einbezogenen Substanzen und Handlungen hält man gemeinhin für Mittel zur Fesselung und deshalb für alles andere als zur Befreiung geeignet, aber wer den linkshändigen Pfad beschreitet, verwendet diese Stoffe und Erfahrungen, um die Kundalini-Energie zu wecken, und wird nicht selbst von ihnen beherrscht.

Eine weitere bedeutsame Spielart der Sexualmagie ist ein als Chakra Puja („Feier im Kreis“) bekannter Ritus. Eine ganze Gruppe von Tantrikern nimmt dabei an einem sexuellen Ritual teil, bei dem sich Männer und Frauen durch Zufall paaren. Eine Weise, wie dies vonstatten geht, besteht darin, dass die Frauen ihre Gewänder in einen Korb (Choli) werfen, aus dem dann jeder der Männer ein Kleidungsstück herausnimmt. Die Frau, der das Kleid gehört, wird in der nächsten Nacht die rituelle Partnerin des jeweiligen Mannes werden – sei sie seine Ehefrau, Schwester, Mutter oder was immer. Die Teilnehmer sitzen alle im Kreis, wobei Männer und Frauen einander immer abwechseln und der Mann seine Partnerin stets zu seiner Linken hat. Möglicherweise liegt hierin der Ursprung des Begriffs „linkshändiger Pfad“; auf jeden Fall zeigt sich hier der Zusammenhang zwischen Frau und linker Seite. In der Mitte des Kreises befindet sich ein – meist sehr junges – Mädchen, das von dem Priester, der die Zeremonie leitet, Huldigungen erfährt. Das Ritual dauert mehrere Stunden und endet in einer gemeinsamen Panchamakara.59

Dieses und andere ähnliche tantrische Rituale dürfen nicht so einfach und oberflächlich interpretiert werden, wie es zunächst naheliegen könnte. Offenkundig liegt ein wichtiges Element ihres Funktionierens in der Idee des Antinomismus: in der Heiligung des Profanen. Aber der Aspekt erotischen Vergnügens, der deutlich aus fortgeschrittenen Praktiken spricht, scheint darauf hinzuweisen, dass es sich nicht um ein durchgängiges Merkmal handelt. Das ursprüngliche Motiv einer magischen oder psychologischen Verwandlung mag in der Überwindung von Hemmungen und dem Bruch konventioneller Tabus gelegen haben, aber wenn dieses Stadium einmal überwunden ist, werden die Handlungen in einem neuen und resakralisierten Sinne fortgesetzt. Der Bruch verhältnismäßig leicht überwindbarer sexueller Tabus und Essverbote könnte auf die Praktiken weitaus extremerer Sekten verweisen, die erheblich stärkere Tabus zu brechen suchen. Einige dieser Sekten interpretieren die fünf M’s so, dass eigentlich Meha (Urin), Mamsa (Menschenfleisch), Mala (Ausscheidungen), Medha (Saft, d. h. Blut) und Mehana (Penis, d. h. hier Samen) gemeint seien. Es gibt andere, die – gleichsam als entgegengesetztes Extrem, der beiden Pole oder Schulen innerhalb des linkshändigen Pfades entsprechend – die „fünf Grundlagen“ (Panchatattvas) nicht als fleischliche Realitäten, sondern als spirituelle Symbole auffassen. Stets aber scheint das verbindende Moment die Idee einer nietzscheanischen „Umwertung aller Werte“ zu sein. Grenzen werden überschritten, soziales und psychologisches Chaos wird erzeugt, aus dem eine neue und erneuerte, verwandelte und wiederbelebte Ordnung, dem Willen des Tantrikers gemäß, erwachsen soll.

Allgemein heißt es, der Tantriker des linkshändigen Pfades sei in der Lage, Gifte – vielleicht symbolisch für Substanzen gesehen, die sich hemmend auf die Befreiung auswirken – zu sich zu nehmen und damit durchweg heilsame Ergebnisse zu erzielen. Dieses wurde dadurch möglich, dass der Tantriker zu [einem] Shiva geworden ist, das heißt, dass er sein wirkliches Selbst oder seine Seele verwirklicht hat und nun Shivas Kraft besitzt, alles, was er zu sich nimmt, in amrita umzuwandeln (den heiligen Nektar der Unsterblichkeit oder des Nicht-Todes).60 Das magische Prinzip, jedwede Substanz oder Erfahrung so zu transformieren oder zu „reinigen“, dass sie den Zwecken und dem reinen Willen des Magiers dient, ist typisch für alle Ebenen des linkshändigen Pfades.

Eine andere wichtige Vamachara-Technik, welche die Umkehrung von Normen oder natürlichen Neigungen beinhaltet, ist die Kontrolle des Samenflusses. Oberflächlich betrachtet, scheint diese nur eine von vielen magisch-technischen Übungen und damit für diese Untersuchung von untergeordneter Bedeutung zu sein. Doch das dahinter liegende Grundprinzip – wenn nicht gar die philosophische Perfektion oder wahrhaft gegenständliche Wirksamkeit – ist eine wichtige Aussage des linkshändigen Pfades.

Unter Tantrikern wird angenommen, dass sich im Sperma das Wesen von Shiva befindet,61 und dass sie unsterblich sind, so lange sie es einbehalten oder reabsorbieren können. In der esoterisch-tantrischen Philosophie ist es so konzipiert, dass die Samenflüssigkeit oder deren spirituelle Komponente (Skt. Bindu) ihren Ursprung im Kronenchakra Sahasrara hat und normaler- und natürlicherweise durch eine feine Arterie (Nadi) hinuntergeleitet und ausgestoßen wird, und schließlich verloren geht. Dieses wird als ein Verlust von Kraft, Selbstheit und Leben betrachtet.62

Daher wird es dem tantrischen Adepten zur Aufgabe, den natürlichen Prozess gewissermaßen umzukehren mit dem Ziel, diese spirituelle Substanz zu erhalten und zu reabsorbieren. So wird der Tantriker die Ejakulation aufhalten, um das Bindu in die entgegengesetzte Richtung nach oben zur Krone des Kopfes zu leiten, wo es die Selbstheit nährt und zur Unsterblichkeit befähigt. Alternativ kann der gleiche Effekt erzielt werden, wenn die Samenflüssigkeit in die Yoni (Vulva) ejakuliert und dann wieder durch den Penis in die feine Nadi hochgezogen wird bis zum Kronenchakra. Ebenso ist es möglich, das „gefallene“ Bindu oral aufzunehmen.63 Ähnliche Vorstellungen hatten möglicherweise bestimmte gnostische Sekten (siehe Kap. 4), bei denen oft die Rede war von „der Kraft, den Fluss des Jordan umzukehren“.64

Die Bedeutung wirklicher Verehrung der Shakti in Gestalt des weiblichen Geschlechts und der physischen Vulva im hinduistischen Tantrismus könnte erklären, warum Praktiken, die den Ausstoß von Samenflüssigkeit und deren Mischung mit weiblichen Ausströmungen beinhalten, bevor es zu Resorption kommt, hier gängiger sind als im buddhistischen Tantrismus.65

Was an dieser Stelle wichtig ist, ist die Methode des linkshändigen Pfades oder das philosophische Modell der Umkehr natürlicher Prozesse durch die Kraft des Willens und des Bewusstseins. Durch die Fähigkeit, natürliche Fließrichtungen – seien diese subjektiv (im Körper) oder objektiv (in der Welt) – umzukehren, demonstrieren oder trainieren Praktizierende des linkshändigen Pfades ihre Unabhängigkeit vom natürlichen Universum. Damit begründen sie, was in ihrer Individualität göttlich ist (Jivatman). Dies scheint die philosophische und magische Kernaussage zu sein, die dem tantrischen Samenkult zugrunde liegt.

Das Konzept von der souveränen Macht eines „Herrn“ stimmt in hohem Maße mit der Hindu-Terminologie bezüglich jener überein, die Mahapurushas oder „große Seelen“ genannt werden. Von diesen existieren vier aufsteigende Grade oder Ebenen der Kraft: Siddha („ein Unsterblicher mit besonderen Fähigkeiten“), Nath (Meister), Muni oder Mauni (Schweigsamer) und Rishi (Seher).66

Der Weg des Vamamarga scheint ein Weg zu sein, der mit den archaischsten Wurzeln des Hinduismus übereinstimmt und der folgerichtig aus bestimmten Aspekten des indoeuropäischen Denkens erwachsen ist. Die Entwicklung des individuellen Selbst (Jivatman) bis zu einer göttlichen Ebene – und die Behauptung dieser Seinsstufe für alle Ewigkeit, ohne je nach einer endgültigen Befreiung vom individuellen Selbst oder einem vollständigen Aufgehen im universellen Selbst (Paramatman oder Brahman) zu streben –, ist das klare Ziel indoeuropäischen Denkens in seiner ursprünglichen Lebendigkeit.

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