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Der linkshändige Pfad im Hinduismus

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Die bedeutendsten und erhellendsten Studien zur Spiritualität des linkshändigen Pfades im hinduistischen Kontext aus neuerer Zeit sind zweifellos die brillanten Darstellungen der Lehren des geheimnisvollen, mysteriösen indischen Weisen Vimalananda aus der Feder des amerikanischen Ayurveda-Meisters Robert Svoboda: Aghora: At the Left Hand of God (1986) und Aghora II: Kundalini (1993).

Allgemein formuliert, ist „Hinduismus“ die Bezeichnung für eine Vielfalt religiöser Schulen, die alle auf die antike arische Tradition zurückgehen, wie sie letztlich in den Veden verwurzelt ist. Es gibt Hunderte von Schulen innerhalb des Hinduismus. Oftmals formulieren sie völlig entgegengesetzte Antworten auf das, was sie für die wesentlichen Fragen halten. Es gibt aber einige Punkte, in denen die meisten dieser Schulen im Großen und Ganzen übereinstimmen:

1. Die Veden enthalten unfehlbare Weisheit.

2. Die Seele (Atman) ist real existent und unsterblich.

3. Die Seele unterliegt dem Prozeß kontinuierlicher Wiedergeburt (Samsara).

4. Dieses Wiedergeborenwerden ist gleichbedeutend mit Leiden.

5. Die Ursache der Wiedergeburt sowie des Leidens ist das Handeln (Karman).

Das Ziel des orthodoxen Hinduismus besteht im Beenden der Wiedergeburten und/​oder in der Vereinigung mit dem universalen Absoluten.14 Diese Vereinigung mit dem Absoluten wird als Befreiung bezeichnet (Moksha oder Mukti). Abgesehen von der Übereinstimmung in diesen allgemeinen Prinzipien, sind die Methoden, die verwendet werden, um dieses Ziel zu erreichen, in den verschiedenen hinduistischen Schulen sehr unterschiedlich.

Die größten Sekten innerhalb des Hinduismus sind die Vishnuiten sowie die Shivaiten (die sich von ihrer Verehrung Vishnus bzw. Shivas herleiten). Diese Hauptsekten unterteilen sich in Hunderte von Untergruppen. Auf einer äußersten Seite des hinduistischen Spektrums stehen die philosophischen Schulen, die sich vor allem in der Kaste der Brahmanen finden. Das andere Extrem bilden die tantrischen Kulte. Diese sind selten strikt vedisch und oft antibrahmanisch ausgerichtet. Es wäre allerdings ein großes Missverständnis anzunehmen, dass alle tantrischen Sekten den linkshändigen Pfad beschreiten.

Man kann sagen, dass es seit dem Aufstieg des Buddhismus (an der Wende vom sechsten zum fünften Jahrhundert v.u. Z.) offen häretische Schulen im Hinduismus gibt. Häresie als solche kann erst in einer Religion mit einer starken fixierten Dogmatik zu einem „Problem“ werden. Der Hinduismus ist seit seiner prähistorischen Entstehung aus der vedischen Religion bemerkenswert frei von solchen Dogmen. Es ist daher möglich, dass die Schulen und Philosophien ein derart breites Spektrum von Weltanschauungen innerhalb des Hinduismus bilden können, wie wir es dort finden, und dass auch das, was wir den linkshändigen Pfad nennen, auf dem Boden des Hinduismus geduldet werden kann, ohne dass es „orthodox“ sein müsste.

Diese Toleranz des linkshändigen Pfades entstammt keiner bewusst vertretenen oder legitimierten moralischen „Fairness“, sondern ergibt sich daraus, dass die ursprüngliche Vielheit der spirituellen Wege, die dem archaischen indoeuropäischen Denksystem innewohnte, in beiden indischen Traditionen, in Hinduismus und Buddhismus, erhalten geblieben ist. Wenn das Ideal ein vielfarbiges Spektrum an möglichen Variationen von links nach rechts und von oben nach unten ist, dann fehlt es am Eifer, ein stark dualistisches Denken in Gegensätzen von schwarz und weiß auszubilden. Man denkt dann üblicherweise nicht in Begriffen von „dies oder jenes“, sondern eher „dies und jenes“. In einem solchen System hat ein energischer Sinn für die Schichten der Wirklichkeit und der Bedeutungen überlebt. Dieser unterschwellige Sinn fördert eine systemische Toleranz nachhaltiger als jede andere, die dogmatisch oder juristisch vertreten wird. Freilich heißt das nicht, dass orthodoxe Anhänger des rechtshändigen Pfades typischerweise meinen würden, der linkshändige Pfad sei genauso gut wie ihr eigener. Auch hier wohnt dem rechtshändigen Pfad eine Tendenz inne, in Begriffen von „entweder/​oder“ zu denken, weshalb der Orthodoxe von den Praktikern des linkshändigen Pfades (oder von jedem anderen Weg, der von dem seinen abweicht) gewöhnlich denkt, dass sie „falsch“ liegen oder wenigstens teilweise irren: Explizit wird etwa im Vaikhanasasmarta Sutra (aus dem vierten Jahrhundert u. Z.) von den Visaragas behauptet, dass sie „den falschen Weg gehen.“15

Innerhalb des Hinduismus (wie überall) kann der linkshändige Pfad zum einen im Hinblick auf seine Zielsetzung, zum anderen bezüglich seiner Techniken und Methoden untersucht werden. Gemäß einigen erklärten Praktizierenden des Vamamarga (linker Weg) ist das endgültige Ziel des linkshändigen Pfades dasselbe wie im rechtshändigen. Man sagt, dass es zwei Wege seien, die zum selben Ziel führen. Aber es hängt doch immer mit der Perspektive des jeweiligen Sprechers zusammen, von welcher Art dieses Ende sein soll.

Streng genommen, besteht im Hinduismus das Ziel des Praktizierenden des linkshändigen Pfades (Vamamarga) in der Einheit des einzelnen mit seiner individuellen Seele (Jivatman) sowie in der fortdauernden Unabhängigkeit dieses verwirklichten Jivatman von der universalen oder höchsten Seele (Paramatman).16 Man kann es auch so formulieren, dass der Anhänger des Vamamarga versucht, sein individuelles Selbst (Atman) – die persönliche Gottheit – zu aktualisieren und sodann die Unabhängigkeit und Freiheit dieses individuierten Selbst auch in Zukunft zu behaupten.

Insgesamt ist dies, historisch betrachtet, nicht weit von den archaischen indoeuropäischen Glaubensvorstellungen entfernt, nach denen Menschen zu Gottheiten werden konnten, wenn sie ein heroisches oder magisch inspiriertes Leben geführt haben. Die Metaphysik blieb dieselbe, die sie immer war; lediglich eine Um- oder Neubewertung wurde vorgenommen, die auf einer veränderten Auffassung des Lebens als Kampf, als Sieg oder Niederlage, beruht. Während die Urväter in ihm eine ruhmvolle Daseinsfülle erkannten, die sie bis in alle Ewigkeit fortsetzen wollten, sahen die „Reformer“ des Hinduismus wie des Buddhismus das Leben, den „Kreislauf des Werdens“ (Samsara), als „leidhaft“ an.

Neben anderen hat namentlich Julius Evola bemerkt, dass die Tantras durchaus an die ältesten Traditionen der Veden, wie sie im vedischen Zeitalter selbst verstanden wurden, anknüpfen:

Es folgt aus dieser [tätigen] Weltsicht, dass ein Teil des Geistes der frühen vedischen Zeit, trotz aller Veränderungen, in den Tantras lebendig blieb. In der damaligen Zeit lebten die Menschen nicht als Asketen; sie rangen mit der Welt und mit Samsara, fühlten sich jedoch eher von freien, unbeschränkten Kräften durchdrungen, kämpften gemeinsam mit den verschiedenen Göttern und übernatürlichen Mächten und waren von einer kosmischen, triumphierenden Freude erfüllt.17

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