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KAPITEL 3 Die Heilung annehmen
ОглавлениеDie meisten Patienten, die zu uns kamen, um sich auf den Tod vorzubereiten, starben innerhalb eines Zeitraums von einem bis zwei Jahren. Für sie, die ebenso an sich selbst arbeiteten wie alle anderen auch, war es der Tod, in dem sie Heilung fanden. Bei anderen, die mit fortgeschrittenem Krebs oder sonstigen terminalen Prognosen zu uns gekommen waren, sich von den Schmerzen der Vergangenheit befreiten, ihre Geschäfte in liebevoller Güte und Vergebung bereinigten und sich dem Tod öffneten, besserte sich der Gesundheitszustand weitgehend. Es waren diese „Geheilten“, die unsere Aufmerksamkeit ursprünglich auf die Frage lenkten, worin Heilung wohl bestünde. Einige von ihnen schienen wieder vollständig zu gesunden, während andere, die gleichfalls den Prozeß einer klareren Wahrnehmung ihres Lebens durchliefen, ihren Körper zwar nicht völlig heilen, aber ein Fortschreiten ihrer Krankheit doch immerhin verhindern konnten. Es war auch zu beobachten, daß viele, die sich während der Anwendung der Heil-Meditationen auf schwere Leiden wie den Krebs konzentrierten, geringere Erkrankungen und Beschwerden kurieren konnten - ob es nun Nierensteine, Halsentzündungen, Verstopfungen, kleinere Infektionen, Verbrennungen oder Knochenbrüche waren.
Wenn unsere Aufmerksamkeit auch anfangs der körperlichen Heilung galt, waren es doch schließlich die Heilungen, welche mehr als den Körper umfaßten, die von bleibendem Interesse für uns waren. Wir beobachteten, daß manche Patienten während ihrer Vorbereitung auf den Tod und der Bereinigung ihrer Geschäfte ein Gefühl tiefer Erfüllung erlebten, das sie mit Ebenen der Heilung in Berührung brachte, die vorher unvorstellbar für sie gewesen waren. Wir stellten fest, daß das heilsame innere Gleichgewicht bei denen, die voller Frieden den Tod durchschritten, um nichts geringer war als bei denjenigen, die ihre körperliche Gesundheit bis zu einem bestimmten Grad wiederherstellen konnten. Wir beobachteten ferner, daß sich sehr viele, die ihre Herzen läuterten und ihre Konflikte lösten, „lebendiger als jemals zuvor“ wiederfanden und manchmal auch einen beträchtlichen Rückgang ihrer Schmerzen und Symptome verzeichnen konnten. Obwohl sie körperlich keine Anzeichen jener schon erwähnten „Extra-Besserung“ erkennen ließen, hatte etwas in ihnen eine so umfassende Heilung im Leben gefunden, daß der Tod kein Problem mehr für sie darstellte.
Es wurde offenkundig, daß sowohl diejenigen, deren Körper gesundete, als auch die, die ihr Leben vor ihrem Tod vollendeten, den gleichen Prozeß durchliefen: sie öffneten sich ihrer Krankheit, waren äußerst aufnahmebereit und fühlten sich innerlich zur unmittelbaren Arbeit mit ihrer Erkrankung verpflichtet. Alle schienen auf ihre eigene Weise und so tief wie möglich ergründen zu wollen, was auf dem Wege der Heilung in Erscheinung tritt - Gefühle, Ängste und Hoffnungen, Pläne und Zweifel, Liebe und Vergebung.
Diese Lebenshaltung, diese Bereitschaft, die Heilung anzunehmen und mit der Erforschung des Wesens der Krankheit auch das Leben selbst zu erforschen, scheint eine Grundlage für die Heilung zu sein. Sie führt uns an die Dinge heran, die unser Leben eingrenzen. Wir begegneten einen Mann, der von allen liebevoll der „laute Larry“ genannt wurde. Er litt schon seit seiner Jugendzeit an einer unheilbaren Blutkrankheit, deren Herkunft völlig im Dunkeln lag. Daß er seitdem mehr und mehr an Vitalität einbüßen mußte, hatte er anscheinend durch eine sehr lautstarke und überschwengliche Sprechweise kompensiert. Als wir ihn in seinen späten Zwanzigern kennenlernten, war es kaum möglich, bei ihm zu Wort zu kommen. Während eines fünftätigen Retreats über bewußtes Leben und Sterben, an dem er zum zweiten Mal teilnahm, verliebte sich der laute Larry. Dabei entdeckte er, daß sich ihm ein neuer Pfad geöffnet hatte - der Pfad des Herzens. Zum ersten Mal kümmerte sich der laute Larry um etwas anderes oder jemand anderen als um seinen hinfälligen Körper. Als sich sein Herz der geliebten Freundin zuwandte, berührte es auch seine Krankheit. Und während sein Herz und sein Körper während der ausgedehnten Vergebungs-Meditationen miteinander verschmolzen, begann sein Körper zu heilen, und seine Stimme wurde immer sanfter. „Jetzt muß ich nicht mehr etwas darstellen, was ich gar nicht bin. Ich dachte immer, daß ich nur überleben kann, wenn ich viel Aufhebens um mich mache. Aber jetzt kann es mir gar nicht wenig genug sein. Jetzt gibt es nicht mehr viele Hindernisse für meine Liebe.“ Die Ärzte fragten ihn: „Wie in aller Welt sind Sie bloß gesund geworden?“ Und er erwiderte: „Ich habe die beste Medizin genommen, die es gibt. Und ich war der einzige Arzt, der sie zubereiten konnte. Ich habe mich genommen - vom Scheitel bis zur Sohle.“
Diese Arbeit der inneren Öffnung wird Schritt für Schritt vollzogen. In tiefer Wahrhaftigkeit und konzentrierter Bewußtheit erkunden wir behutsam die physischen und mentalen Schmerzen und Verklammerungen, die von der Krankheit so deutlich hervorgehoben werden. In diesem ständig fortschreitenden Prozeß nähern wir uns unserer Angst mit Vergebung und heilsamer Bewußtheit und begegnen unserem Zweifel mit einer neuen Zuversicht. Sie führt uns mit jedem neuen Schritt ins Unbekannte festerem Boden entgegen, der unsere Weiterentwicklung trägt und unterstützt. Und der nächste Schritt folgt ganz von selbst. Geist und Körper werden mehr und mehr in einem alles akzeptierenden Gewahrsein erfahren, welches absichtslos die mentalen Zustände, Gefühle, Emotionen und Stimmungen beobachtet und erkundet, die in der Weite des Seins entstehen und vergehen.
So wie der Schmerz tiefe Verhaftungen in uns enthüllt - uralte Ängste, unbewußte Prägungen und unterschwellige Machtansprüche - so beginnt die Erforschung der Krankheit diese hintergründigen Neigungen zu heilen. Wir beobachteten, daß für viele die Beschäftigung mit körperlichen Krankheiten gleichbedeutend mit der Arbeit an seelischen Beschwerden war und eine Heilung tiefster Verhaftungen und Ängste bewirkte. So wurden sie in ungeahnte Freuden und in eine innere Freiheit hineingeführt, die sie sich nicht einmal erträumt hatten. Eine Krankheit veranlaßt uns zur Konfrontation mit unseren beharrlichsten Zweifeln am Sinn des Universums und an der Existenz Gottes. Sie bricht uns innerlich auf. Und sie lehrt uns, inmitten der Hölle ein offenes Herz zu bewahren.
Nicht alle, die aus dem uns bekannten Patientenkreis wieder gesund wurden, hatten in der gleichen Weise oder auf der gleichen Ebene Anteil an ihren Wunden oder Krankheiten. Manche erforschten sich selbst nur dort, wo sie Offenheit vorfanden. Viele erkundeten dagegen gewissenhaft die Natur ihrer Schmerzen und setzten, stimuliert von ihren aufsteigenden Verwirrungen und Ängsten, starke emotionale Energien frei.
Manche drangen tief in das Wesen ihrer Seele ein. Ein solcher Mensch war Marty, der seinen genetisch bedingten Knochenkrebs in Jahren der meditativen Öffnung zum Stillstand bringen konnte. Weil er sein Herz für seine Ängste und für die eminente Frage nach dem Sinn der Existenz aufbrechen ließ, weil er sich immer wieder die bedeutsame Frage stellte: „Wer ist es, der wirklich in diesem kranken Körper wohnt?“, wurde er immer tiefer in seine Heilung hineingeführt. Martys Schwester hingegen, die an einem ähnlichen genetischen Erbe litt (es äußerte sich in einer Deformation der Knochen und barg das Risiko weiterer Amputationen in sich), kämpfte gegen die Krankheit, ja gegen das Leben selbst an. Und dieser Kampf überstieg einfach ihre Kräfte. Sie konnte den zunehmenden Druck ihrer unerforschten Ängste nicht mehr ertragen und fürchtete sich schließlich vor allem, was hinter der nächsten Ecke auf sie lauern konnte. Sie lebt jetzt in einer staatlichen Nervenheilanstalt.
Marty suchte Heilung im Herzen und fand heraus, daß diese Suche einen fortwährenden inneren Prozeß darstellt. Seine Schwester aber suchte Schutz im rationalen Geist und ging so in ihrer Verwirrung unter.
Jeder von uns sucht seine Heilung dort, wo sie zu finden ist. Jeder von uns wendet sich seinem Herzen zu, um aus dessen leisem Flüstern herauszuhören, was sinnvoll für ihn ist. Und jeder legt in sich frei, was auch immer den Zugang zum Herzen, zur Quelle der Heilung versperrt.
Eine schwerkranke Freundin, deren Krebs schon fortgeschritten war, suchte einen hochgeachteten Zen-Meister auf, um auf ihre Fragen zum Thema Heilung eine Antwort zu bekommen. Als sie ihm ihre Situation geschildert hatte, fragte sie: „Muß ich mich irgendeinem spirituellen Weg verpflichten, um gesund zu werden?“ Der Zen-Meister lächelte, lehnte sich vor und flüsterte: „Du bist der Weg!“
In der Erkenntnis, daß alle Wege zu ihr selbst führten, daß sie selbst dieser Weg war, den sie nun ganz und gar in sich selbst beschreiten mußte, hatte sie die Antwort auf ihre Frage gefunden.
Angezogen von der Lauterkeit und Offenheit dieses großartigen Lehrers fing sie an, täglich an den morgendlichen Meditationssitzungen im Zen-Zentrum teilzunehmen und auch die Intensivkurse am Wochenende zu besuchen, so oft es ihr angebracht erschien. Sie meditierte eine Weile und erforschte die Natur dessen, was sie „den Gast im Körper und den Grund seines Besuches“ nannte. Sechs Jahre ist es nun her, seit man ihr gesagt hatte, daß sie nur noch sechs Monate zu leben hätte. Und es hat sich gezeigt, daß diese Prognose keine Tragödie, sondern eine Initiation für sie gewesen ist. Im Rückblick auf die meditativen Übungen, zu denen sie das Verlangen nach einem geheilten Körper motiviert hatte, sagte sie kürzlich: „Weißt Du, diese Techniken haben in einer Weise auf mich gewirkt, wie ich das nie für möglich gehalten hätte. Ich habe gesehen, daß ich meinen Körper Atemzug für Atemzug wieder aufbauen und meinen Geist von Gedanke zu Gedanke öffnen konnte.“
Sie ging die rückhaltlose Verpflichtung ein, sich von alten Gewohnheiten zu lösen und auf dem Weg der Ehrfurcht und der Erforschung Tag für Tag einen neuen Anfang zu wagen.
Sie war, wie sie es ausdrückte, „eine absolute Anfängerin“ geworden. Sie ging nackt auf die Wahrheit zu. Im Vertrauen auf ihr „neues Unwissen“ beschritt sie den weiten, faszinierenden Weg, der vor ihr lag, wie in kindlicher Neugier. Bereit, sich von alten Denkweisen und Versteckspielen zu lösen, akzeptierte sie angesichts der extremen Zwangslage von Krankheit und Lebensbedrohung ihre „völlige Unwissenheit gegenüber dem Leben“. Weil sie sich dem Prozeß völlig hingab, konnte sie dieses erfüllende Gefühl der Vollkommenheit von den ersten Schritten an erfahren. Sie sagte, daß es etwa drei Monate gedauert habe, bis nach und nach ein Gefühl innerer Ruhe in ihr entstanden sei. Es wurde ihr bewußt, daß sie nicht alle Antworten kennen mußte, um das Problem zu lösen. Sie erkannte, daß die völlige Hingabe an das Problem die Antwort war. Sie schleppte keine alten Konzepte mit sich herum, sondern lernte als „absolute Anfängerin“ in jedem Augenblick etwas Neues. Alles wurde akzeptiert, kein Moment war wie der andere. Sie vertraute jedem Schritt zur Erfüllung, stimmte sich auf das leise Flüstern des Herzens ein und entwickelte in sich eine heilsame Bewußtheit, in der sie jeden Moment mitfühlend akzeptierte und Veränderungen einfach zuließ, anstatt sie zu erzwingen.
Doch ebenso wie die meditative Arbeit jenes jungen Mannes mit genetisch bedingtem Knochenkrebs (der so viel Zeit damit verbrachte, die Beziehung des Herzens zum Geiste und zum Körper zu erkunden) nicht für alle Geltung hat, so war auch der Weg unserer Freundin ihrem Gefühl nach einzigartig auf ihren Prozeß bezogen. Bei vielen entwickeln sich die Hingabe und die Bereitschaft zur Erforschung des Wesens der Krankheit nach und nach. Ein Schritt folgt auf den anderen. In der Annäherung an den Kern des Seins vertieft sich die Entfaltung von Einsicht und Verständnis mehr und mehr.
Anfangs widmet man sich der inneren Erforschung vielleicht in unregelmäßigen Zeitabständen und praktiziert sie dann etwa eine Viertelstunde lang. Allmählich jedoch wird der Geist in seiner Sehnsucht nach Freiheit vom Herzen angezogen, und es entwikkelt sich eine tägliche Meditationspraxis. Indem wir uns ein- oder zweimal am Tag für eine halbe oder ganze Stunde ruhig hinsetzen, breitet sich die Heilung von jenen stillen Momenten her immer weiter aus, bis sie den ganzen Tag durchdringt. Unsere Heilung wird zu einer ständigen Übung der Neuorientierung im Altgewohnten. Jeder Moment, in dem wir unmittelbar an diesem Prozeß teilhaben, in dem wir die Entfaltung von Geist und Körper im weiten Herzen deutlich erkennen und neue Einsicht gewinnen, ist ein Moment der Heilung.
In einem solchen heilenden Moment verhaftet sich der Geist nicht an seinem eigenen, vorüberziehenden Schauspiel. Er verliert sich nicht im persönlichen Melodram seiner inneren Vorgänge, sondern stimmt sich in einem Augenblick völliger Bewußtheit und tiefer Heilung auf die fortschreitende Entfaltung des Prozesses ein. Auch wenn die Erfahrung der unermeßlichen Weite, in der alle Dinge dahinfließen, nur eine Millisekunde währt, können Kraft, Gleichgewicht und Harmonie in Geist und Körper fließen. Jeder Moment der Teilhabe an der Weiträumigkeit des Seins vertieft den Kontext der Heilung. Jeder Moment, der direkt erfahren wird, löst die Verhaftung an unserem Leid. Aus der Einsicht erwächst uns Weisheit. Aus dem Erbarmen erwächst uns Mitempfinden. Die Kraft der Heilung wächst mit jedem Augenblick, wenn wir allem Unbehagen achtsam und offenherzig in der Gegenwart begegnen - in der wir alles finden können, was wir suchen.
Unser alter Freund Carl, ein Chiropraktiker, nahm an vielen unserer Workshops über bewußtes Leben und Sterben teil, um seine „Heilpraktiken verfeinern und anderen umfassender dienen“ zu können, wie er sagte. Dann wurde Carl krank. „Ich erkannte, wie real das alles war, als der Arzt mir sagte, daß es Krebs sei. Da konnte ich mir nichts mehr vormachen, da war keine Zeit mehr zu verlieren. Nun mußte ich selbst lernen, von innen her zu heilen.“ Und genau das tat er. Er machte seinen Körper zu einem Laboratorium der gewissenhaften Erforschung des Heilens und experimentierte mit verschiedenen Heilmethoden. Er arbeitete mit der Fiebertherapie, mit der Harntherapie, mit verschiedenen Kräutern, Ernährungsmethoden und Körperübungen - bis zu erkennen war, daß sich der Tumor weiter ausbreitete. Eine Anzahl von Ärzten erklärte ihm, daß seine einzige Chance ein operativer Eingriff sei, obwohl der Krebs auch dann noch wiederkehren könne. „Am Anfang wehrte ich mich dagegen. Ich hatte gar nicht mit der Möglichkeit einer Operation gerechnet. Ich kämpfte gegen die Krankheit an, und als die Operation dann näherrückte, machte ich innerlich dicht. Ich war immer so ganzheitlich gewesen, und nun ließ ich die Ärzte auf eine Weise eingreifen, von der ich vielen meiner Patienten eher abgeraten hatte. Aber ich wurde von den Ärzten überzeugt, daß man diese Operation perfekt beherrsche und daß ich mir überhaupt keine Sorgen machen müsse. Trotz allem verlief die Operation nicht erfolgreich. Der Tumor verschwand nicht. Als das feststand, bekam ich wirklich Depressionen. Dann aber gab es bei mir irgendwie einen inneren Durchbruch. Ich wußte zwar nicht, wie ich an dieses ‚Heilmittel’ heran-kommen sollte, nach dem ich suchte; aber ich wußte, daß ich meine Heilung zu oberflächlich angegangen hatte. Also fuhr ich zu dieser sehr angesehenen spirituellen Lehrerin, über die ich so viel Gutes gehört hatte. Ich war ganz zermürbt und konfus und fragte sie geradeheraus, wie ich meinen Krebs los werden könne. Und wißt Ihr, was sie zu mir gesagt hat? ‚Liebe Dich selbst einfach.’ Das warf mich um. Ich war schockiert. Ich wußte einfach nicht, was ich dazu sagen sollte. Sie hatte den Nagel genau auf den Kopf getroffen, und der Nagel ging mitten durch mein Herz. Ich hatte gedacht, sie würde mir ein Mantra oder eine Visualisation oder so etwas geben, irgendeine Methode, die etwas an meiner Krankheit änderte - statt dessen aber verlangte sie, daß ich mich selbst ändern solle. Diese Worte waren die unbegreiflichsten, die ich je gehört habe, aber sie stellten auch die Heilung dar, um derentwillen ich zu ihr gekommen war. Als ich anfing, auf mich selbst Liebe auszustrahlen, entdeckte ich, wie viel in mir blockiert war, und das erschreckte mich wirklich. Mir war klar, daß ich überhaupt nur wieder gesund werden konnte, wenn ich diese Angst vor der Liebe erforschen und mich von ihr lösen würde.“
Es ist jetzt zweieinhalb Jahre her, seit Carl zu hören bekam, daß er seine „persönlichen Angelegenheiten notariell ordnen“ solle. Kürzlich sagte er zu mir: Je mehr ich mich selbst liebe, desto besser fühle ich mich. Wenn ich meinem vierzehn Monate alten Jungen jetzt in die Augen schaue, dann kommt mir zu Bewußtsein, daß seine Empfängnis fast genau zu dem Zeitpunkt stattfand, als man mir eröffnete, daß ich sterben würde. Die Dinge ändern ihren Lauf, wenn Du ihnen freie Hand läßt.“ Als Carl sich auf den Weg der Heilung begab, jeden Tag eine oder zwei Stunden in stiller Kontemplation verbrachte, seine Erfahrungen mit einem vertrauten Therapeuten teilte und tief in den Spiegel des Herzens seiner Frau hineinblickte, war er fähig, sein eigenes Herz als Kompaß auf der Reise zu den bisweilen wolkenverhangenen Ufern des Lebens zu benutzen. Er entdeckte immer tiefere Ebenen der Ganzheit. Jetzt ist Heilung für ihn nicht mehr ein Ziel, auf das man sich zubewegt, sondern ein immer gegenwärtiger Prozeß, der sich von Augenblick zu Augenblick entfaltet. Kürzlich sagte er, die erste Stufe der Heilung bestünde darin, daß wir unsere Geburt vollenden. Wenn wir uns nicht gestatten würden, geboren zu werden, zu voller Bewußtheit zu gelangen und an unserem Leben wirklich teilzuhaben, dann wären wir nie in der Lage, völlig zu leben oder völlig zu sterben.
Unlängst fragte mich ein Freund: „Welche Rolle spielen Karma und göttliche Gnade bei diesen spontanen Heilungen?“ Nun, dies sind Konzepte, die ich selten für nützlich halte, weil sie mit einer Menge unklarer Bedeutungen beladen sind. Dennoch meine ich, daß es angebracht ist, diese Begriffe zu klären, denn sie kommen am Rande verschiedener Diskussionen über Heilung immer wieder zur Sprache. Gnade und Karma sind jedoch heikle Konzepte, wenn man sie ohne volles empirisches Verständnis ihrer subtilsten Schattierungen gebraucht. Ich bin bei der Beantwortung der Frage meines Freundes eigentlich nicht sicher, ob „spontan“ überhaupt das geeignete Adjektiv ist. Die meisten arbeiten sehr hart daran, den Körper zu öffnen und das Herz zu läutern. Es bedarf einer beträchtlichen Motivation, um sich der Heilung so hinzugeben, daß man die Arbeit eines ganzen Lebens in ihr vollenden kann. Wenn es vielleicht auch zutrifft, daß jeder Moment der Heilung Gnade ist, weil er uns unserer wahren Natur näherbringt, so ist das bemerkenswerte Resultat dieser tiefgreifenden Abenteuer der Seele doch kein Geschenk von oben, sondern die Verwirklichung unseres Geburtsrechtes. Viele betrachten Karma als Bestrafung und Gnade als Belohnung. Ich sehe das jedoch anders. Karma ist eine sehr komplexe, vielschichtige Vorstellung, die einen außerordentlich einfachen, erbarmungsvollen Lehrprozeß zu erklären versucht, der uns wieder und wieder die Eigenschaften bewußt macht, die unser Herz blockieren und unsere Erfahrung erfüllten Seins begrenzen. Karma ist keine Bestrafung, sondern eine Gelegenheit, die uns auf jeder neuen Erfahrungsebene dargeboten wird, um uns wieder in ein Gleichgewicht zu führen. Es ist der barmherzigste und achtsamste Lehrer, den es gibt. Die Ursache der Krankheit als Karma in die unwiederbringliche Vergangenheit oder ihre Heilung als eine erwartete Gnade in die unerreichbare Zukunft zu verbannen, schafft ein Gefühl von Hilflosigkeit und Fatalismus.
Ich habe verschiedene schwerstkranke Patienten gefragt, welche Bedeutung das Karma im Kontext ihrer Krankheit habe. Ein Mann, der infolge eines Gehirntumors am Rande des Todes stand, erhob abwägend die Hand und sagte: „Karma ist ein Wind, der immer weht. Es hängt alles davon ab, wie Du Deine Segel setzt.“ Diese Definition von Karma ist wohl eine der besten, der wir bisher begegnet sind.
Gnade wird im allgemeinen als ein Geschenk oder als ein Eingreifen von oben definiert, aber es scheint dabei doch um etwas sehr viel Bedeutsameres zu gehen. Gnade ist die Erfahrung unserer wahren Natur. Gnade ist die Erfahrung des überströmenden Friedens grenzenlosen Seins. Und wenn man Gnade auch nicht mit einem Fingerschnippen hervorrufen kann, so ist sie doch potentiell in jedem Augenblick vorhanden. Man kann sich ihr jederzeit öffnen, indem man sich auf das Hier und Jetzt einstellt. Karma ist Gnade. Gnade ist karmisch.
Wie die Gnade kann auch die Heilung in ihren frühen Stufen die Orientierung ziemlich erschweren. Sie durchbricht alles Altgewohnte, um das Ewig-Neue zu offenbaren. Wie die Gnade führt uns die Heilung zu unserer wahren Natur. Sie ist kein Ziel, zu dem wir uns hinbewegen, sondern läßt uns entdecken, wo wir bereits sind - sie läßt uns an dem Prozeß teilhaben, der sich von Augenblick zu Augenblick entfaltet. Viele von uns beten um ein Wunder, wenn alles andere fehlgeschlagen ist. Wir sehnen uns nach einer Gnade, die uns von oben her zufallen soll. Doch Gnade kommt aus dem Innern. Gnade tritt in Erscheinung, wenn die Arbeit der Heilung im Gange ist. Es ist eine gnadenvolle, im spirituellen Geist erwirkte Heilung, die sich jenseits der Notwendigkeit einer Definition oder auch nur der Worte „Gnade“ oder „Karma“ oder „spiritueller Geist“ vollzieht. Obwohl ein Großteil der Menschen, mit denen wir arbeiteten, anfangs keine spirituellen Neigungen hatten, fanden viele ihre Heilung, indem sie einen Weg beschritten, der oftmals als spirituelle Praxis zur Entdeckung eines höheren Selbst bezeichnet wird. Aber wir stellten auch fest, daß selbst jene, die vor sogenanntem „spirituellen Kram“ zurückscheuten, im Verlauf ihrer täglichen Konfrontation mit der Vergänglichkeit des Körpers eine bestimmte Art von Herzensfülle und innerem Frieden entwickelten.
Es ist jedoch nicht so wichtig, welchen Namen wir unserem Pfad ins Leben geben. Es kommt darauf an, daß wir endlich am Leben Anteil nehmen, daß wir unsere Krankheiten und verborgenen Wunden in eine mühevoll errungene Gnade und Ganzheit einbringen - daß wir endlich Geburt annehmen und mit dem aufrichtigen, inneren Streben nach Vollendung und einem tieferen Verständnis für unsere Heilung verschmelzen.
Wenn sich jene Menschen vielleicht auch nie als „spirituell“ bezeichnet hätten, so hatten sie doch eine wahrhaft spirituelle Heilung erfahren. Eine Freundin, die die Subtilität dieser Hingabe an die Heilung spürte, schilderte uns, wie sie eine arthritische Versteifung der Fingerknöchel ihrer rechten Hand kuriert hatte. „Es gelang mir, indem ich ein wenig Apfelwein und Honig zu mir nahm.“ Als ich sie fragte, ob das alles gewesen sei, erwiderte sie: „Es hilft, wenn Du ein wenig vor Dich hinsummst.“
Als wir die Bedeutung des Heilens weiter erforschten, begannen wir zu spüren, daß der Körper auf vielerlei Art gleichsam nur aus verdichtetem Geist besteht. Es wurde uns noch stärker bewußt, wie sehr unsere mentalen und physischen Schmerzen nach Mitgefühl verlangen. Wir sahen, daß Heilung schon schwierig genug war, wenn man sich einfach nur Mühe gab, nichts aus dem Geiste zu verdrängen und den Körper davor zu bewahren, sich in einer imaginären „Zwangsjacke“ der Heilung wiederzufinden. Man kann wahrhaftig sagen, daß diejenigen, die ausschließlich mit Hilfe hochwirksamer Arzneimittel kuriert worden waren, ohne mit ihrem Herzen daran Anteil zu haben, außerordentlich vom Glück begünstigt waren. Offensichtlich ist es nicht unbedingt notwendig, die von uns angebotenen Praktiken anzuwenden, um gesund zu werden. Sie sind nicht „der einzige Weg“ oder „der beste Weg“ zur Heilung. Sie sind einfach nur ein Pfad, der sich als praktikabel und gangbar erwiesen hat. Es gibt tatsächlich viele Menschen, die ohne den inneren Entschluß zum Erwachen aus ihren alten Lebensgewohnheiten siegreich aus ihrer Schlacht gegen die körperliche Krankheit hervorgingen, obwohl ihnen „ein Arm auf dem Rücken festgebunden war“.
Vor einigen Jahren geschah es, daß ein Mann, der uns um einer Beratung willen aufsuchte, sehr verärgert wieder aufbrach, weil unser Weg zur Heilung im Herzen beginnen sollte. Er meinte, er habe keine Zeit für einen solchen Unsinn, er wolle starke Medikamente, und das ganze Zeug mit dem „heilenden Augenblick“ sei ihm zu vage. Er vertraute sich den konkreten Methoden der Chemo- und Bestrahlungstherapie an, und sein Krebs ging zurück. Aber er war einer von den „einarmig Geheilten“, der seinem Leben nach wie vor entfremdet blieb. Nach drei Monaten rief er in unnötigerweise kleinlautem Ton wieder an, stellte uns zahlreiche Fragen und wollte wissen, ob man sich mit Hilfe der Vergebung von ungelösten Problemen befreien und wie man die Achtsamkeits-Meditation einsetzen könne, wenn man unter Gefühlen heftiger Erbitterung leide.
Er erzählte, er habe sich während seiner Krebserkrankung ausgemalt, daß sich sein ganzes Leben ändern werde, wenn er nur vom Krebs geheilt würde. Aber so war es nicht. Sein Leben blieb unbefriedigend. Ironischerweise verspürte er gerade jetzt, wo sein Körper kuriert war, den Wunsch, mit der Heil-Meditation zu beginnen. Er wolle noch einmal „ganz unten im Erdgeschoß“ anfangen und sein Herz walten lassen, wo vorher Furcht geherrscht habe. „Jetzt, wo mein Körper wieder gesund ist, kann ich vielleicht lange genug am Leben bleiben, um wirklich geheilt zu werden.“
Dies erinnert mich an einen Mann, der eines Nachts anrief und sagte, daß er Krebs habe und sich am nächsten Morgen dem Beginn einer Bestrahlungstherapie unterziehen werde, sich aber sehr unwohl dabei fühle. „Ich kann mich einfach nicht damit anfreunden“, klagte er. „Fast mein ganzes Leben lang habe ich mich biologisch ernährt und versucht, möglichst wenig Umweltgifte aufzunehmen. Und jetzt muß ich zulassen, daß man mich mit dieser gefährlichen Bestrahlung unter Beschuß nimmt. Das ist alles so unnatürlich. Irgendetwas in mir rebelliert einfach dagegen - wie soll mich so etwas Schädliches wieder gesund machen? Es ist der reinste Weg durch die Hölle.“
Wir diskutierten gemeinsam über die bei einer solchen Therapie verwendeten Strahlen und kamen darauf zu sprechen, daß sie als natürliche Strahlung überall im Kosmos zu finden sind. Er begann ihre Natürlichkeit zu erkennen. Er sah ein, daß sie zwar auf mechanische Weise von einer Maschine gebündelt werden, aber eigentlich überall vorhanden sind und keineswegs aus dem Nichts erzeugt werden. Als er die Natürlichkeit dieser Technik zu verstehen begann, kam ihm ein inneres Bild in den Sinn, das er bei seinen Behandlungen verwenden konnte - er wollte sich diese Strahlen als ein Licht vergegenwärtigen, das der Hand seines geliebten Jesus entströmte. Da er sein Herz nun öffnen konnte, sah er sich imstande, eine Kombination von Techniken einzusetzen, welche die Effizienz der Behandlung ohne oder fast ohne Nebenwirkungen zu steigern vermochte.
Es sollte erwähnt werden, daß viele der Techniken, die wir hier anbieten, auch in Kombination mit anderen Behandlungsmethoden recht nützlich sein können. Keine unserer Techniken soll irgendeine andere ersetzen oder unwirksam machen. Unsere Techniken sollen dazu beitragen, daß wir den Körper öffnen und die Heilung annehmen können. Mit ihrer Hilfe erschließen wir dem Geist seine ursprüngliche, heilende Natur und ermöglichen es dem Herzen, sich ganz und gar zu offenbaren. Durch sie erspüren wir unsere innere Universalität und treten mit der eigentlichen Quelle der Heilung in Verbindung: dem schon immer Geheilten, dem Ewig-Unverletzten.
Als wir im Anschluß an einen abendlichen Vortrag ein wenig über diese neuen Wege der Heilung diskutierten, sprach uns eine Frau namens Loretta an und sagte, sie wolle uns mit der Schilderung ihrer Geschichte in unseren Intuitionen hinsichtlich des Heilens bestärken. Loretta erzählte uns von der zwei Jahre währenden Schlacht, die sie mit dem Krebs ausgefochten hatte. „Ich hatte sehr verbissen gegen ihn angekämpft, um am Leben zu bleiben, aber dann eröffneten sie mir, daß ich sterben würde. Ich war so erschöpft und wußte einfach nicht mehr, was ich machen sollte. Ich konnte fühlen, daß der Tod immer näher kam. Ich fing an, Dein Buch WER STIRBT ? zu lesen und all meinen Verwandten und Freunden Lebewohl zu sagen. Aber als ich vom Leben Abschied nehmen wollte, wurde mir fast schockartig klar, wie wenig ich überhaupt gelebt hatte. Ich hatte zwar immer geglaubt, daß es mir um die Erhaltung meines Lebens ginge, aber eigentlich fand ich erst ins Leben zurück, als ich sah, an wie vielen Dingen ich mich festgeklammert hatte.“ Sie sagte, daß sie den Wert ihres Lebensinhalts erst erkannt habe, als der Tod immer näher rückte. Sie sei so sehr auf die Gesundung ihres Körpers fixiert gewesen, daß sie niemals darauf geachtet habe, wie bekümmert, wie unglücklich, ja wie krank ihre Seele gewesen sei. Sie war beglückt darüber, daß der Tod für sie zu einem Spiegel geworden war, der ihr „ganz real“ zeigte, wie kostbar das Leben ist. Es war auch die Zeit, in der ihr Körper zu heilen begann. Vielleicht war sie sich zum allerersten Mal ihres Lebens sicher. Heute, drei Jahre später, ist sie dankbar dafür, daß sie krank wurde und dann wieder gesundete. Aber noch viel dankbarer ist sie dafür, daß etwas geschehen war, das sie aus sich selbst heraustreten ließ. „Ich glaube, ich habe so tief geschlafen, daß erst etwas so Gewaltiges wie der Tod kommen mußte, um mich aufzuwecken. Aber ich werde diesen Fehler nie mehr machen. Ich war dermaßen damit beschäftigt, daß es mir besser gehen sollte, daß ich nie richtig zur Kenntnis nahm, wie schlimm es um mich bestellt war. Ich habe mich selbst wirklich nie sehr freundlich behandelt. Ich war wütend auf meinen Körper, weil er mich zu bestrafen, zu betrügen schien. Ich war fast dauernd verärgert und verängstigt. Aber dann ‚ließ etwas in mir los und öffnete sich der Heilung’, wie man vielleicht sagen könnte. Ich glaube, wenn ich jemals wieder krank werde, wird es nicht wieder so schrecklich sein wie beim ersten Mal. Mein Leben war so eng, und nun ist es so weit. Ich danke Gott, daß ich nicht so klein gestorben bin.“
Wir haben mit mehreren Patienten gearbeitet, die sich angesichts ihres nahenden Todes imstande sahen, die Natur ihrer Krankheit und ihrer Schmerzen zu akzeptieren und zu erforschen. Sie stellten dabei voller Erstaunen fest, daß sich die Intensität von Schmerz und Krankheit mehr und mehr verringerte. Dies begründet sich vermutlich damit, daß die Blockaden und Verhaftungen unseres Lebens meist unter unserer normalen Wahrnehmungsschwelle liegen. Sie sind so „unbewußt“, daß sie nur mittels direkter Erforschung enthüllt und im Licht des klaren Gewahrseins aufgelöst werden können. Was sich bei diesen Menschen verringerte, war nicht der Schmerz selbst, sondern der Widerstand gegen ihn. Sie konnten einen größeren Raum, ein Gefühl innerer Weite in sich schaffen, in der diese Empfindungen dahinfließen konnten. Während sie ihr Herz mehr und mehr läuterten und den Panzer lebenslanger Schauspielerei und Selbsttäuschung immer durchlässiger machten, wurde die Distanz zwischen dem rationalen Geist und dem Herzen schmerzhaft spürbar. In diesen bitteren Augenblicken der Heilung akzeptieren wir, daß wir an uns arbeiten müssen, und erkennen mitfühlend, daß ein Zulassen der Heilung theoretisch leicht, praktisch jedoch oft schwierig ist. Wir entspannen den Bauch, um den Geist zu entspannen. Und indem wir den Geist ins Herz hinabsinken lassen, schöpfen wir tief Atem und beobachten, wie die schreckliche Wahrheit unserer Selbstentfremdung in einer tiefen Barmherzigkeit und Bewußtheit dahinfließt, die uns das Gefühl gibt, endlich heil und ganz zu sein. Denn die Heilung, die wir alle suchen, geht viel tiefer als all unsere Persönlichkeit. Sie dringt zum eigentlichen Kern dessen vor, was wir als das „Sein“ bezeichnen. Sein ist das Gewahrsein selbst. Wir sprechen hier weder vom „Sein“ als dem Gegenteil des „Nichtseins“, noch vom Leben als dem Gegenteil des Todes und auch nicht von anderen dualistischen Konzepten der Existenz. Wir sprechen von der direkten Erfahrung der „Istheit“ - der Soheit, die alle Form beseelt und zugleich alle Form übersteigt.
Selbst wenn die Natur grenzenlosen Gewahrseins auch nur für einen Moment erfahren wird, kann sie die Ängste vor dem Tod zerrinnen lassen und die Verklammerungen lösen, die den physischen und mentalen Schmerz so sehr verstärken. Jede direkte Erfahrung der unermeßlichen Weite des Seins ist eine Heilung, die uns jenem inneren Funken näherbringt, der im Zentrum jeder Zelle wächst. Jeder Moment, in dem wir uns mit barmherzigem Gewahrsein in den Schmerz einfühlen, ist ein Moment der Heilung. Jeder Moment, in dem wir dem Leid mit Liebe begegnen, läßt uns gesunden.
Man kann es fast ein Wunder nennen, daß wir Vergebung und Liebe in etwas hineinstrahlen können, das wir so oft angstvoll und widerwillig abgewehrt haben! Wir gewinnen neues Lebensvertrauen, wenn wir unserem Schmerz und unserer Krankheit mit liebevoller Güte begegnen statt mit Haß und Wut. Die innere Verwirrung, die sich bei körperlichen Beschwerden oft einstellt, kann ihren erstickenden Griff lockern. Es eröffnet sich eine Alternative zum Leid. Sobald wir barmherziges Gewahrsein in unsere Beschwerden hineinfließen lassen, stehen wir gleichsam an einer Kreuzung. Zur Rechten spüren die von unserer Verwirrung erzeugte Anspannung. Doch direkt zu unseren Füßen bemerken wir voller Erstaunen den Geisteszustand, der diesem großen Schmerz-Verstärker zugrundeliegt. Wir entdecken die Konfusion selbst. Wir erkennen den Geisteszustand, der uns verzweifelt fragen läßt: „Was soll ich jetzt nur machen?“, wenn er mit Schwierigkeiten konfrontiert wird. Wir stoßen auf die Verwirrung, die sich immer wieder ungeduldig an die Forderung nach einer sofortigen Antwort klammerte. Indem wir jedoch auf diesen Zustand nicht reagieren, sondern antworten, tauchen wir in diese aus der Unbeherrschbarkeit der Situation resultierenden Gefühle ein und halten einen Moment inne, um die Dinge so zu erforschen, wie sie sind. Anstatt uns zwanghaft in die Verwirrung hineinzustürzen, die das Leben in eine Notlage verwandelt, lassen wir sie einfach nur zu. Wir erkunden diesen Zustand der Konfusion, als wäre er völlig neu für uns - wir werden zu „absoluten Anfängern“. Und nun entdecken wir eine Alternative: Zur Linken führt ein zweiter Weg zu den ausgedehnten Wiesen und weiten Höhen des „Nichtwissens“. Er führt auf die Bereitschaft zu, für alles Alte auf ganz neue Weise offen zu sein - und mit vertiefter Barmherzigkeit und Bewußtheit die Lehren anzunehmen, die auch immer der Augenblick für uns bereithalten mag.
Der koreanische Zen-Meister Seung Sahn weist seine Schüler oft an, „dem Nichtwissen zu vertrauen“. Denn das ist der Raum, in dem alle Weisheit wurzelt und Alternativen ihrer Entdeckung harren. Nichtwissen enthebt uns aller etablierten Meinungen; es betrachtet die Dinge nicht aus der Sicht früherer Standpunkte und steht den vielfältigen Möglichkeiten offen, die der Augenblick birgt. Es zwingt keine Ergebnisse herbei, es läßt die Heilung zu. Ich erlaube mir, auf diese großartige Lehre zurückzugreifen, damit wir an der ihr innewohnenden Weiträumigkeit teilhaben können. Es ist dieselbe innere Weite, die in den Lehren des Zen-Meisters Suzuki Roshi mit dem „Anfänger-Geist“ in Verbindung gebracht wird. Es heißt dort, daß wir die ganze Welt völlig neu entdecken können, wenn uns der Anfänger-Geist zu eigen ist.
Der Unterschied zwischen Verwirrung und Nichtwissen besteht darin, daß die Verwirrung nur einen einzigen Ausweg sieht, der zudem blockiert ist, während das Nichtwissen Wundern und neuen Einblicken offensteht. Der Schmerz erhebt oft die Forderung nach sofortigen Resultaten. Der Geist implodiert, und der innere Druck verschließt das Herz. In der Verwirrung haben wir uns weit von uns selbst entfernt. Im Nichtwissen sind wir unmittelbar präsent, sind faszinierte Beobachter. Den Schmerz mitfühlend und liebevoll zuzulassen heißt, in einem wachsenden Vertrauen auch in das Unbekannte die ganze Welt zu verändern.
Um ebenso wie unsere krebskranke Freundin ein „absoluter Anfänger“ zu werden, müssen wir diesem unermeßlichen Nichtwissen vertrauen. So werden wir in jedem Augenblick neu geboren, werden offen und leer, haben für alles Raum und sind bereit, jederzeit einen neuen Anfang zu wagen. Für den absoluten Anfänger steht nichts von vornherein fest. Er löst sich von überlebten Gedanken und wird zu einem neuen Menschen, der jeder Heilung offensteht.
Alles geht ganz neu
aus dem Feuer hervor,
wenn die Augen vom Frieden
jenseits des Schmerzes trinken.
Gib acht,
im Schlußverkauf wird Leid angeboten -
laß Deine Kreditkarte ruhig stecken.