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KAPITEL 4 Dem Pfad der Heilung folgen
ОглавлениеDem Pfad der Heilung zu folgen heißt, unmittelbar am Lebensprozeß teilzuhaben und seine ganze Wirklichkeit leichtherzig, mitfühlend und bewußt wahrzunehmen. Direkte Offenheit für unser Leben bedeutet, sich auf das unaufhörliche Entstehen und Vergehen von Gedanken und Gefühlen einzustimmen - auf den Erfahrungsprozeß selbst. Eine Erfahrung direkt zu erleben heißt, absolut aktiv und lebendig zu sein. Doch ein großer Teil unseres Lebens gleicht einem Gespinst verspäteter Reflexionen, einem träumerischen Nebel, der den soeben vergangenen Moment verschleiert. Oftmals besteht unser Leben eher in einem Nachdenken über die gerade abgelaufenen Ereignisse als in einer direkten Teilhabe an der Entfaltung des Augenblicks.
Wie mannigfach die Möglichkeiten der Heilung sind, denen wir auf dem Pfad barmherziger Erforschung begegnen, führte uns Howard vor Augen, der im Vietnamkrieg gekämpft hatte und von einer Landmine an der rechten Körperseite schwer verwundet worden war. Über ein Jahr hatte er schon in einem Veteranen-Krankenhaus zugebracht, und doch erzählte er uns, daß er von einer richtigen Heilung noch weit entfernt sei. Als wir darüber sprachen, was seiner endgültigen Genesung im Wege stünde und ihn daran hindere, seine offenen Wunden auszuheilen und sein rechtes Bein wieder voll zu gebrauchen, erzählte er uns von dem Tag, an dem er verwundet wurde. Er war mit einigen befreundeten Kameraden auf Patrouille gewesen, und sie waren unter schweren Raketen- und Maschinengewehrbeschuß geraten. Als er losrannte, um Deckung zu suchen, trat er auf eine Mine. Die Explosion schleuderte ihn einige Armlängen weit über das Reisfeld, wo er als blutiges Fleischbündel im Morast liegenblieb. Die gegnerischen Soldaten stürmten an ihm vorbei und „löschten meine ganze Truppe aus“. So hatte ihn seine Verwundung als einzigen überleben lassen. Er hatte das Gefühl, daß sie irgendwie mit dem Tod der Kameraden in Verbindung stand. Seine tiefen Schuldgefühle resultierten aus dem Schamgefühl des Überlebenden - ein Umstand, auf den wir in ähnlicher Weise auch bei Menschen stießen, die die Todeslager der Nazis überlebten. „Wie kann ich hier noch herumlaufen, während die anderen zwei Meter tief unter der Erde liegen?“
Aber in Wirklichkeit lief er keineswegs so unbeschwert umher. Jeder seiner Schritte wurde von deutlichem Hinken und schmerzvollem Zucken begleitet. Sein verkrümmtes Bein und seine erkennbare Behinderung waren zu einem wesentlichen Teil seiner Persönlichkeit geworden. Als ich Howard eines Tages nach seinen Schmerzen fragte, krempelte er mühsam den elastischen Stützstrumpf an seinem Bein herunter und zeigte mir mehrere eitrige, „weinende“ Wunden. „Die habe ich nun schon jahrelang - sie scheinen niemals zu heilen.“
Wir schlugen vor, seine Heilung mit einer gründlichen Erforschung der Schamgefühle anzugehen, die er mit sich umhertrug, weil er seine „Waffenbrüder“ überlebt hatte. Wir empfahlen ihm, sehr aufmerksam alle in ihm aufsteigenden Gefühle zu beobachten, wenn sein Bein zu schmerzen begann. Er sollte sehr sorgfältig auf die Botschaften oder Lehren hören, die womöglich von seinem Bein ausgingen. Nach einigen Wochen schilderte er uns, daß er bei jedem Wechseln seiner Verbände beinahe „die Körper meiner Kameraden riechen“ könne, „die im Urwald vermodern“. Nachdem er an einigen Workshops über bewußtes Leben und Sterben sowie an verschiedenen Beratungsgesprächen teilgenommen hatte, fühlte er sich zu einer täglichen Arbeit mit der Vergebungs-Meditation hingezogen. Sie bot ihm die optimale Möglichkeit, die Trauer in seiner Seele und in seinem Körper anzuerkennen. Er spürte, daß eine wachsende Bereitschaft zur Vergebung seine Gefühle des Grolls und der Schuld ideal ausbalancieren könne, und fing damit an, sich zweimal täglich für zwanzig Minuten ruhig hinzusetzen und mit der Vergebungs-Meditation zu arbeiten. Daß es ihm anfangs sehr schwerfiel, sich seinem Schmerz vergebungsvoll zu nähern, machte ihm die Blockaden auf seinem Pfad zur Heilung bewußt. Er erkundete sein „Jahrzehnt der Trauer“ und begann rasch zu erkennen, „wie sehr ich in ‚Nam’ innerlich aufgerissen wurde.“ Er begann zu spüren, daß es um mehr ging als um „diesen zerstörten Körper“. Wenn er sich auf den Schmerz in seinem Bein konzentrierte, schien sich dieser durch den Körper nach oben zu bewegen und mit dem Schmerz zu verbinden, den er schon so lange in seiner Brust spürte. „Ich hatte mehrere EKG’s in den letzten paar Jahren, aber es hieß immer, daß mit meinem Herzen alles in Ordnung sei. Aber ich glaube, jetzt weiß ich, was los ist. Ich kann einfach nicht begreifen, daß ich diese Verbindung in all den Jahren entbehren konnte.“ Die Arbeit mit der Trauer und mit der Vergebungs-Meditation, der er sich so intensiv gewidmet hatte, offenbarte den Schmerz seines Herzens nur umso mehr. „Es ist, als würde mein Bein an meinem Herzen ziehen.“
Weil Howard so weit entfernt von uns lebte, konnten wir ihn nur gelegentlich besuchen, aber er rief ungefähr einmal pro Woche an und stellte uns technische Fragen zum Ablauf der Vergebungs-Meditation: „Was soll ich machen, wenn ich Vergebung auf mein Bein ausstrahle und schreckliche, blutige Vorstellungen in mir aufsteigen? Ist die Vergebung für die Burschen bestimmt, die mich in die Luft gesprengt haben? Werde ich jemals imstande sein, etwas zu verzeihen, was mir so viele Schmerzen bereitet? Wird mir dieses ‚Etwas’ jemals verzeihen können?“ Im Verlauf der Wochen konnte man spüren, daß es anfangs das Bein war, das die Fragen stellte - später aber, als sich der Prozeß vertiefte, schien es sein Herz zu sein, das nach seiner lange ersehnten Heilung rief. Innerhalb weniger Monate wurden seine Anrufe unregelmäßiger, seine Fragen aber umso eindringlicher: „Wenn ich mich meinem Herzen zuwende, um mit meinem Bein zu sprechen, dann höre ich manchmal überhaupt keine Worte mehr, sondern empfinde nur noch ein Gefühl, das die beiden verbindet. Wenn das passiert, scheinen auch die Schmerzen im Bein verschwunden zu sein. Aber worauf soll ich mich dann konzentrieren?“ Er arbeitete so angestrengt wie möglich, um in allem seine Offenheit zu bewahren.
Nachdem wir ungefähr ein halbes Jahr nichts mehr von ihm gehört hatten, betrat er bei einem Workshop unversehens unseren Raum und ließ dabei nur noch ein ganz leichtes Hinken erkennen. Als ich ihn fragte, was geschehen sei, erwiderte er: „Die Wunden haben aufgehört zu ‚weinen’, seit ich die Trauer und auch das Bein in meinem Herzen aufgenommen habe. Jetzt kann ich auf beiden Füßen stehen.“ Es war nicht so, daß der Schmerz in seinem Bein völlig verschwunden war, aber er hatte sich verändert. „Ich habe das Gefühl, daß ich meiner Verwundung vergeben habe, und ich glaube, so sonderbar es auch klingen mag, daß auch sie mir vergeben hat. Jedenfalls fühle ich mich jetzt wohl in meinem Leben. Nun wollen wir einmal sehen, woran ich sonst noch arbeiten kann.“ Die Offenlegung und Verarbeitung seiner Trauer hatte eine tiefgreifende Heilung in ihm bewirkt, die sich vielleicht noch jahrelang fortsetzen wird. Und er sagt: „Mein Körper holt jetzt irgendwie auf. Ich habe mich so lange verschlossen und vor meinen Gefühlen gefürchtet, daß erst all dieser Schmerz kommen mußte, um mich darauf aufmerksam zu machen.“
Was es bedeuten kann, die Heilung völlig anzunehmen, zeigte sich ebenso klar bei einem befreundeten Therapeuten, der infolge einer degenerativen Herzkrankheit keine Treppen mehr steigen konnte und auch seine Praxis als Tanz-Therapeut aufgeben mußte. Er erzählte uns, daß er dann einmal ein Bild des heiligen Herzens Jesu betrachtet und an jenem Tag damit begonnen habe, „mein Herz für mein Herz zu öffnen“. Er fing an, dieses leuchtende Herz in sein „altes, hinfälliges“ Herz hineinzuatmen. Er sagte, daß sich mit jedem Atemzug ein Mitgefühl in ihm ausgebreitet habe, wie er es sich selbst nie zuvor zugestanden hätte. Er atmete das Herz Jesu direkt in sein eigenes Herz hinein.
“Ich ließ das heilige Herz mehr und mehr mit meinem kranken Herzen verschmelzen, und das machte mich richtig high.“ Seine Meditationen, die anfangs etwa zehn Minten gedauert hatten, erweiterten sich im Verlauf der Monate auf mehrere zwanzigminütige Perioden am Tag. Er suchte die Gnade der Heilung, und seine Krankheit schritt nicht weiter fort. Seit drei Jahren hat sich der Zustand seines Herzens nicht weiter verschlechtert. „Jetzt kann ich wieder eine Treppe hochsteigen, und hin und wieder ermuntert mich mein Herz sogar zum Tanzen - aber das Umherwirbeln macht meinen Körper immer noch ein wenig müde.“
Bei manchen Menschen bedarf es vieler Monate des Schmerzes und der Hilflosigkeit, bevor sie ihre Suche nach Heilung vertiefen. Andere scheinen in einem einzigen Moment zu erfassen, auf welchem Pfad sie ihre Ganzheit finden können. Eine krebskranke Frau, die einmal an einem zehntägigen Retreat über bewußtes Leben und Sterben teilnahm, hatte mich am dritten Tag angesprochen und gesagt: „Ich fahre wieder nach Hause, um mich auszuruhen - ich bin nur gekommen, um zu erfahren, was ich als nächstes tun muß. Und ich habe bekommen, was ich gesucht habe.“ In den sechs Jahren, die seitdem vergangen sind, hat sich ihr Gehirntumor vollständig zurückgebildet. Als ich sie zuletzt traf, kam sie mit einem glücklichen Lächeln auf mich zu und sagte: „Kein Krebs mehr.“ Als ich sie fragte, ob er vollständig verschwunden sei, erwiderte sie: „Das weiß ich nicht, aber ich lebe mehr im Jetzt als jemals zuvor.“
Bei manchen beginnt dieser ahnungsvolle Weg durch die Krankheit erst, wenn sie eine lange Periode schwerer Kämpfe und Leiden hinter sich haben - wenn sie infolge der mit ihrer Erkrankung verbundenen Probleme das Gefühl einer Niederlage bekommen und „einfach keine Kraft mehr zum Weiterkämpfen“ haben. Wenn sich die inneren Widerstände dann abschwächen, beginnt sich ihr Herz jedoch oftmals zu öffnen, und das Gefühl der Niederlage geht trotz aller Schmerzen in eine neue Bewußtheit über. Thomas Merton sagte: „Die wahre Liebe und das wahre Gebet erlernen wir dann, wenn wir des Betens nicht mehr fähig sind und das Herz zu einem Stein geworden ist.“
Dies war zweifellos bei May der Fall, deren vierzehnjähriger Sohn in ihren Armen an einer Krankheit starb, die sie für eine schwere Erkältung gehalten hatte. Sie hatte ihren Sohn immer wieder beruhigt, nachdem der herbeigerufene Arzt gesagt hatte, daß er „nur eine leichte Grippe“ habe und „das allein wieder ausschwitzen und wie ein Mann durchstehen“ könne. Aber der Junge starb. Die Schuldgefühle und Selbstzweifel, die seinem Tod folgten, ließen May innerlich zerbrechen. „Länger als ein Jahr war ich schier am Verrücktwerden, bis mir das Herz einfach brach. Ich konnte mich kaum noch rühren und nicht einmal selbständig zur Toilette gehen. Ich war nur noch ein Wrack. Ich dachte, ich würde nie mehr auf die Beine kommen. Ich fragte alle Leute, die ich traf, ob sie jemanden kennen würden, der an seinem Kummer gestorben ist. Mein Leben war vorbei, ich hatte es verpfuscht. Alles hatte ich ruiniert. Und es wurde immer schlimmer, bis ich glaubte, ich müsse in Stücke zerspringen. Ein Jahr lang hatte ich täglich an Selbstmord gedacht. Ich wußte, daß jetzt etwas geschehen mußte - so oder so. Nachdem mich viele Therapeuten dazu ermutigt hatten, ließ ich den Schmerz einfach in mich ein. Ich dachte, er würde mich vernichten. Und vielleicht passierte das auch, denn irgendwie erlebte ich eine Wiedergeburt, als ich dem Schmerz und der Trauer Gelegenheit gab, mich zu töten - und dennoch am Leben blieb. Ich sah, daß dieser Schmerz den Rest meines Lebens bestimmen würde, und ich wußte, daß ich einfach mit ihm leben mußte. Seit diesen Tagen habe ich angefangen, dem Schmerz ebenso zu vertrauen wie der Vergebung. Und nun bin ich wieder mit meiner Familie vereint.“
Die meisten von uns schieben die notwendige Heilung hinaus. Die Frage „Auf welcher Ebene kann man Heilung finden?“ existiert für uns solange nicht, bis wir Krebs in unserem Körper entdecken - bis wir mit dem Tod eines Kindes, dem Verlust einer vermeintlich sicheren gesellschaftlichen Position, dem Altwerden, einer Ehescheidung oder einer chronischen Erkrankung konfrontiert werden.
Wir können die Trauer, die wir in unserem leidenden Körper und in unserem schmerzhaft isolierten Geist eingeschlossen haben, auf vielen Ebenen erforschen. Vielleicht muß wirklich erst ein traumatisches Ereignis eintreten, bevor wir dem Leben auf einer Ebene Beachtung zu schenken beginnen, auf der wir Heilung finden und von unseren subtilen, inneren Wunden erlöst werden können.
Als mir dies immer klarer wurde, änderte sich auch die Art und Weise meiner Arbeit mit Menschen, die Schmerzen litten. Wenn ich in den ersten Jahren Patienten mit extremen körperlichen Beschwerden betreute, nahm ich manchmal wahr, daß sich mein Herz dem Gebet zuwandte, um Fürsprache für sie einzulegen und eine Linderung ihrer Schmerzen zu erbitten. Doch im Lauf der Zeit erkannte ich, daß mein Wissen nicht ausreichte, um beurteilen zu können, was für den einzelnen am besten war. Als ich dann eines Tages bei jemandem saß, der große körperliche Qualen erdulden mußte, und mich dem, was auch immer das Göttliche sein mag, zuwenden und für diesen Menschen um ein wenig Erleichterung bitten wollte, fühlte ich etwas, das mir dieses Gebet untersagte. Offensichtlich war es für den Kranken nicht sinnvoll. Seither kann ich immer nur darum beten, daß jemand aus seiner Erfahrung alle Weisheit und Heilung gewinnen möge, der er sich öffnen kann. Ich kann es nicht mehr „besser wissen“ als Gott, wenn es um die Bedeutung, Ursache oder Auswirkung einer Krankheit geht. Ich vertraue einfach dem Nichtwissen, um für den Prozeß offen zu bleiben und zu erkennen, wie tief unsere Heilung wirkt, wenn wir unsere Aufmerksamkeit auf das Leben richten und auf alles, was es umfaßt.
Unsere alte Freundin Vivien erwachte eines Morgens und mußte entdecken, daß ihre junge Tochter im benachbarten Schlafzimmer ermordet worden war. Sie konnte es sich nicht verzeihen, daß sie ihrer Tochter nicht zu Hilfe gekommen war. „Wie konnte es nur passieren, daß ich nichts gehört habe? Wie konnte es mir entgehen, daß sie mich brauchte?!“ Die Ermittlungen ergaben, daß ihre Tochter schon getötet worden war, bevor Vivien an diesem Abend nach Hause zurückkehrte. Und doch wurde der rationale Geist angesichts seiner Unfähigkeit, den Tod abzuwehren oder den geliebten Menschen zu beschützen, tief erschüttert. Sie sagte, daß sie in den ersten Monaten fassungslos darüber gewesen sei, die ganze Nacht durchgeschlafen zu haben, während ihre Tochter erwürgt im angrenzenden Schlafzimmer gelegen habe. Ihr Körper begann zu schmerzen, und alte körperliche Leiden stellten sich wieder ein. Sie klagte: „Ich bin todunglücklich über dies alles.“ Sie meinte, daß sie alles tun würde, um ihre Tochter wieder lebendig zu machen - und ihre starke Anspannung war ihr nur allzu deutlich anzumerken. Dann erkannte sie eines Tages während der Arbeit mit der Trauer-Meditation: „Nichts wird wieder so sein, wie es einmal war.“ Sie ließ den enormen Schmerz dieser machtvollen Wahrheit in ihr Herz hinabsinken und begann, sich der Heilung zu öffnen. Anstatt fortwährend in sich selbst gegen die Bilder ihrer erwürgten Tochter anzukämpfen, ließ sie sich gänzlich von ihnen überfluten. Sie weinte und schrie und lachte und redete - redete ununterbochen mit ihrer toten Tochter. Und schließlich schlief sie ein. Anstatt gegen das anzukämpfen, was gewesen war, begann sie sich den Dingen zu öffnen, wie sie wirklich waren. Sie erlaubte es dem Schmerz, die Schichten ihrer alten Verklammerungen von ihrem Herzen abzuschälen. Er brannte sich durch ihr ganzes Leben der Isolation und der Angst hindurch, so daß sie in ihrem Mitempfinden und ihrem Heilsein nahezu transparent wirkte. Und wenn sie auch heute sagt, daß sie die Unmöglichkeit einer Wiederkehr ihrer Tochter völlig akzeptiert, fügt sie doch gewöhnlich hinzu: „Aber sie ist mir auch noch nie so nah gewesen.“
Diese vielfältigen Ebenen der Heilung wie auch die mit ihnen einkehrenden Einsichten offenbarten sich besonders klar bei unserem alten Freund Bob. Er litt an Schmerzen, seit er sich einige Jahre zuvor bei einem Motorradunfall zahlreiche Knochenbrüche zugezogen hatte. Nachdem er jahrelang mit verschiedenen medizinischen Thearapieformen und Analgetika experimentiert hatte, um die Schmerzen zu unterdrücken und die extreme Körperreaktion auf die akuten Beschwerden zu mildern, erzählte er uns: „Vor kurzem hatte ich Gelegenheit, einen alten Traum zu verwirklichen. Ich bekam ein Stück Land geschenkt und genügend Bauholz, um mir ein eigenes Haus bauen zu können. Aber ich hatte immer wieder Bedenken und dachte, daß ich das bestimmt nicht schaffen würde. Trotzdem dachte ich oft darüber nach und stellte mir immer wieder die Frage, wie ich das wohl bewerkstelligen könne. Und irgendetwas in mir sagte: ‚Überlege doch mal - wenn Du Deine Gedanken auf Gott richtest, schmerzt Dein Rücken doch nicht mehr so sehr.’“ Und so gelang es ihm, sein lange ersehntes Haus in den weiten Wäldern zu bauen, indem er für Gott sang. Damit war es geschafft. Nun lebt er nicht einfach in einem Haus, sondern in einem Tempel. Und Gott singt für ihn. Hin und wieder schmerzt sein Rücken noch, aber das spornt ihn dann nur dazu an, noch eine Oktave tiefer zu singen.
Wenn wir von den Erleuchteten sprechen, von den Heiligen und Illuminati, dann meinen wir vielleicht einfach nur, daß sie die Geheilten sind - die, deren Geist tief im Herzen versunken ist, die das Eine entdeckt haben, aus dem das Viele entsteht - das Ungeteilte, das Ganze. Victor Frankl berichtet in seinem Buch TROTZDEM JA ZUM LEBEN SAGEN von den wenigen Menschen, welche die Schreken der Konzentrationslager überlebten, weil sie anderen dienten. Er erzählt von den Ärzten und Nonnen, von den Priestern und Rabbis, von den Menschen, die väterlich und mütterlich für andere sorgten. Sie überlebten, weil sie wußten, wofür sie lebten: für die Liebe und für die Heilung. Sie schritten über die den Körper so oft vernichtende Krankheit hinaus. Selbst in dieser Umgebung, die sie aller Kontrolle, aller Würde und aller damit scheinbar verknüpften Unabhängigkeit beraubte, hatten sie Liebe zu verschenken. Sie wußten, daß allein die Liebe ein wirkliches Geschenk ist. Sie wußten, daß wir uns in der liebevollen Bemühung um andere in Wirklichkeit um uns selbst bemühen. Ihr Leben offenbarte eine hohe Anerkennung des Seins, das wir alle miteinander teilen.
Der Pfad der Heilung ist ein Prozeß, bei dem wir die Verhaftungen der Vergangenheit in unserem Herzen aufnehmen und die Gegenwart in klarer Bewußtheit erleben. Er ist eine Rückkehr nach Hause, eine Rückkehr zum lebendigen Augenblick. Doch weil unser Sein viel mehr umfaßt als nur Geist und Körper, weil unser wahres Wesen unermeßlich ist, können wir die Grenzenlosigkeit dieses Pfades nicht beschreiben. Wir müssen ihn erleben.
Was wir hier mit dem „Pfad der Heilung“ bezeichnen, kann sicherlich auch auf andere Art formuliert werden. Schwarzer Elch, der große Schamane der Sioux-Indianer, spricht davon, „in einer weihevollen Weise zu gehen“. In einer weihevollen Weise zu gehen bedeutet, aus dem Leben eine Kunst zu machen - an jedem Moment so teilzuhaben, als würde es der letzte sein, und jeden Schritt so auszuführen, als wäre es der erste. Es bedeutet, Liebe und Bewußtheit in diesen kleinen Körper hineinzuatmen, um in den größeren Körper einzugehen, den wir alle miteinander teilen. Es bedeutet, daß wir unsere Schritte nicht erzwingen, sondern leichtfüßig vollführen - daß wir nicht noch mehr Ego erschaffen, nicht noch mehr zu „Machern“ werden, nicht noch mehr isolierte Persönlichkeit schaffen, die nur weiteres Leid auf sich herabzieht. In einer weihevollen Weise zu gehen heißt, unser Leid loszulassen und der schillernden „Soheit“ jedes einzelnen Augenblicks zu erlauben, den nächsten Schritt zu stärken und zu lenken.
Wenn wir in einer weihevollen Weise gehen, wirft uns nichts aus der Bahn, denn da ist nichts, was sich mit einem Ego, mit einem Gehenden identifiziert. Statt dessen ist uns alles heilig - alles wird zu einem Prozeß, der sich entfaltet, zum göttlichen Moment, der für unsere Heilung vorgesehen ist.
Im offenen Körper, im offenen Geist und im offenen Herzen sind die Möglichkeiten unbegrenzt. Heilung kann überall gefunden werden. Jeder Schritt ist sehr kostbar. Jeder Schritt bringt neue Heilung.
Hältst Du Ausschau nach mir?
Ich habe den Platz neben Dir.
Meine Schultern berühren die Deinen.
Du findest mich weder in Stupas noch in indischen Tempeln,
weder in Synagogen noch in Kathedralen,
nicht in Messen, nicht in Kirtans, nicht darin,
daß Du Deinen Hals mit den Beinen umschlingst
oder ausschließlich vegetarisch lebst.
Wenn Du wirklich nach mir Ausschau hältst,
wirst Du mich sofort erblicken -
Du wirst mich finden im winzigsten Haus der Zeit.
Kabir sagt: Schüler, sprich, was ist Gott?
Es ist der Atem im Innern des Atems.
Kabir