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KAPITEL 2 Erfahrung gewinnen

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Auch wenn wir unter seelischen und körperlichen Schmerzen leiden und manchmal Hoffnungslosigkeit in uns fühlen, sind wir niemals hilflos. Uns stehen Möglichkeiten der Heilung offen, die bisher nur wenige Menschen zur Kenntnis genommen haben. Es stehen uns Werkzeuge zur Verfügung, die uns, sorgsam angewandt, selbst über schwerstes Leid hinwegtragen können.

Jede der in diesem Buch folgenden Meditationen ist ein solches Werkzeug, jede von ihnen kann einen Weg zur Heilung öffnen. Diese Techniken sind mit Gartengeräten vergleichbar. Manche dienen dazu, den Boden vorzubereiten, wie zum Beispiel die Trauer- oder die Vergebungs-Meditation. Andere wirken wie Nährstoffe, die das Keimen unterstützen, wie beispielsweise die Meditation der liebevollen Güte, die Meditation des weichen Bauches und die Ahh-Atemübung. Manche sind wie ein Pflug, der für die weitere Feldbestellung eingesetzt wird, wie zum Beispiel die Achtsamkeits-Meditation und die Meditation der Durchwanderung des Körpers - Heilübungen, die uns durch das ganze Leben begleiten können. Jede einzelne Meditation schafft die Bedingungen, unter denen sich innere Güte entfalten kann. Manche dieser Übungen werden eingesetzt, wenn es notwendig ist, „Felsblöcke wegzurollen“ oder „Baumstümpfe auszugraben“, wie zum Beispiel die Meditationen über bedrückende Emotionen und über das Herz des Mutterschoßes, die Meditation des Loslassens oder die Heil-Meditation. Sie sind Spezialwerkzeuge, mit denen bestimmte Hindernisse freigelegt und entfernt werden können. Jede Übung korrespondiert mit einem bestimmten Aspekt der Vorbereitung, Anpflanzung und Ernte des einzigartigen Blütenfeldes, das wir in unserem Heilungsprozeß durchschreiten. Die Übungen fangen beim Herzen an und weiten sich in den Körper und den Geist hinein aus. Jede Meditation hat das Potential, eine bestimmte hemmende Schicht zwischen Herz und Geist/Körper freizulegen. Vom Herzen aus ebnen wir den Weg, auf dem wir Geist und Körper vollständig und ohne Bewertung oder Furcht erfahren können. Während wir uns ins Herz hinein öffnen, treffen wir in Geist oder Körper möglicherweise auf bestimmte Barrieren des Schmerzes. Mit Hilfe spezieller Meditationen können wir uns solchen Hindernissen mit heilender Weisheit und Bewußtheit nähern, um diesen Augenblick in einem neuen Mitgefühl und Verständnis wahrnehmen zu können.

Allerdings geht es am Anfang oft etwas langsam, denn die Konzentration verbessert sich nur allmählich und vertieft sich erst mit einer gewissen Erfahrung. Die Heilung ist jedoch ein Prozeß, bei dem jeder Schritt überaus kostbar ist. Wenn wir die Übungen erstmals praktizieren, sei es allein oder mit einem geeigneten Lehrer, ist durchaus mit Schwierigkeiten zu rechnen. Wenn diese geleiteten Meditationen in großen Gruppen durchgeführt werden, ist es nicht ungewöhnlich, daß jemand anschließend von außergewöhnlichen inneren Durchbrüchen erzählt, während andere dasitzen und etwas verdrossen denken: „Warum ist bei mir nichts passiert? Ich bin wirklich eine Niete!“ Und die uralten Gefühle der Unsicherheit und Selbstverachtung, die das Herz so oft blockiert haben, können wieder um sich greifen. Aber gerade diejenigen, die meinen, daß sie es „nicht so richtig geschnallt“ haben, lassen später oft erkennen, daß sie recht deutlich verstanden haben, was die Eigenschaften beeinträchtigt, die sie zu entwickeln suchen. Sie können die Natur dessen, was ihre Vergebung, ihr Erbarmen, ihr Loslassen oder ihre Heilung beschränkt, durchaus klarer erkannt haben als jemand, der „in einem glücklichen Moment“ in der Lage war, hinsichtlich der von ihm erkundeten Eigenschaften eine gewisse Erfahrungstiefe zu erreichen. Gerade wenn „es nicht funktioniert“, eröffnet sich oftmals ein klarer Blick auf die Arbeit, die zu tun ist.

Mache Dir diese Meditationen zu eigen. Experimentiere! Finde die Sprache und Ausdrucksweise, die Dir geeignet erscheint. Vertraue Deiner eigenen großartigen Gabe zur Heilung. Laß das Herz bestimmen, welche Meditation angemessen ist. Vielleicht fühlst Du Dich nur von ganz wenigen von ihnen angesprochen. Arbeite mit denen, die Dir ein „gutes Gefühl“ vermitteln, nicht mit denen, von denen Du meinst, daß Du sie wählen „solltest“. Überlasse es dem Herzen, Geist und Körper zu heilen. Lasse Dir diese Meditationen zu eigen werden.

Einige dieser Meditationen sind „Basis-Übungen“ für das ganze Leben, wie zum Beispiel die Meditation des Loslassens, die Meditation der Durchwanderung des Körpers und die Achtsamkeits-Meditation. Es sind Grundübungen, die manche über Jahre hinweg täglich praktizieren. Andere Übungen, wie zum Beispiel die Heilmeditation, die Meditation über das Herz des Mutterschoßes, die Meditation des Loslassens und die Meditation über bedrückende Emotionen werden vornehmlich in bestimmten Situationen und für die Lösung bestimmter Probleme oder Verhaftungen gebraucht. Sie erweisen sich oft als „Durchbruchs“-Meditationen, mit denen tief eingewurzelte Hindernisse ausgeräumt werden, die dem tieferen Eindringen des Gewahrseins bei Grundübungen wie der Achtsamkeits-Meditation im Wege stehen. Manche Meditationen wie die der Vergebung oder des weichen Bauches ergänzen im weiteren Verlauf die Grundübungen. Die Arbeit mit der Vergebung und der Trauer ebnet den Weg, wie sie gleichermaßen auch Zweifel und Bewertungen abbaut und das Vertrauen in den Prozeß vertieft.

Unsere eigene Grundübung während der letzen zwanzig Jahre ist die Achtsamkeits-Meditation gewesen (näher beschrieben in dem Buch A Gradual Awakening). Aber es hat auch Perioden gegeben, in denen eine Ergänzungsübung unsere Fähigkeit vertiefte, die Erkenntnisse unserer täglichen Meditation anzuwenden. Die Vergebungs-Meditation, die wir seit etwa zwei Jahren in unsere tägliche Praxis integrieren, hat unsere eigene Heilung erheblich vertieft.

Wie bei den Heilmethoden gibt es auch unter den Meditationspraktiken keine, die besser wäre als irgendeine andere. Es gibt lediglich Übungen, die einem bestimmten Temperament besonders entgegenkommen. Es ist nicht einmal die Praxis selbst, die eine Heilung bewirkt, sondern die Intention, die Motivation und der Grad des Bemühens, welche in die Praxis einfließen. Selbst in einer Übung wie der Achtsamkeits-Meditation, die auf der Entwicklung eines absichtlosen Gewahrseins gründet, kann eine unbemerkt entstehende Selbstgefälligkeit oder Bewertungstendenz die Praxis erheblich beeinträchtigen, wenn sie nicht von ganzem Herzen und in mitfühlender und vergebungsvoller Bewußtheit ausgeführt wird. Auch Körpererfahrungs-Übungen können Schwierigkeiten noch vergrößern, wenn sie nicht im Sinne der Erforschung, sondern der „Überwindung“ ausgeführt werden. Jede Übung kann potentiell zu einer Falle werden, wenn wir danach streben, einfach nur „gut im Meditieren“ zu werden, ohne gleichzeitig auch unser Mitempfinden zu entwickeln und unser Konkurrenzdenken zu reduzieren.

Je mehr eine Übung aus dem Gefühl heraus ausgeführt wird, daß man sie praktizieren „sollte“, desto mehr Ichgefühl wird sie erzeugen. Je mehr Ich vorhanden ist, desto mehr wird man zum Leidenden. Manche Übungen, die sich auf den Schmerz konzentrieren, können den „heiligen Krieg“ in Geist und Körper anstacheln und das Bemühen um ein Niederringen des Schmerzes fördern, wenn sie unsachgemäß ausgeführt werden. Die Identifikation mit „jemandem“, der leidet, würde sich verstärken. Manchmal konzentrieren wir uns mit Übungen wie der Schmerz-Meditation auf das eigentliche Schmerzzentrum, doch zu anderen Zeiten entspannen wir uns auch einfach und lassen uns vom Atem tragen wie ein Surfer von einer idealen Welle. Nachdem wir vielleicht fünfzehn Minuten lang mit der Heil- oder Schmerz-Meditation gearbeitet haben, legen wir eine Pause ein, um zu vermeiden, daß sich der Widerstand, von dem uns die Meditation befreien soll, unbewußt verstärkt.

Dies alles kommt sozusagen einem Balanceakt gleich. Worte wie „loslassen“ oder „Hingabe“ können von unserem Verstand leicht mißverstanden werden und dann in die Irre führen. Solche Vorstellungen müssen mit Feingefühl auf ihren Sinn geprüft und sorgsam ausbalanciert werden. Wenn man auf Ungerechtigkeit stößt, ist es wenig sinnvoll, sie einfach „loszulassen“ und den Weg fröhlich fortzusetzen. Auch wenn wir der Unbarmherzigkeit in uns selbst gewahr werden, ist es ratsam, aufrichtig an sie heranzutreten und ihr auf den Grund zu gehen, um unsere tiefsten Verhaftungen nicht allzu voreilig unter dem Deckmantel des „Loslassens“ verschwinden zu lassen, durch den der Verstand in Wirklichkeit nur ihre Verdrängung bezweckt. Was zu tun ist, wenn wir in uns selbst oder bei anderen Menschen auf Hartherzigkeit stoßen, ist jedem einzelnen überlassen. Es wird von der Arbeit abhängen, die man bis zu diesem Moment an sich selbst verrichtet hat, welche Lösung von der leisen Stimme des Herzens als sinnvoll empfunden wird. Man muß nicht den Vergewaltiger töten, um Vergewaltigung zu beenden. Ebensowenig darf man, wie es der tibetische Lehrer Chogyam Trungpa ausdrückt, ein „Mitempfinden der Idiotie“ an den Tag legen und darauf verzichten, den Vergewaltiger zurückzuhalten, weil man einfach keinen Menschen verletzen will.

In der Sekunde, die nach einer Antwort verlangt, gibt es keine Lösungen, die von einem Moment auf den nächsten übertragen werden können. Klaren Blickes und offenen Herzens erspüren wir von Augenblick zu Augenblick, was wir tun müssen. Einfache Lösungen gibt es nicht. Deshalb ist es so wichtig, daß wir die notwendige Arbeit jetzt in Angriff nehmen, daß wir die erforderliche Heilung jetzt herbeiführen.

Von welchem Wert es ist, den Pfad der Heilung mit beiden Füßen zu beschreiten und eine Balance zu bewahren, die uns nicht leichtfertig in Extreme verfallen läßt, wird auf der Reise der Heilung manchmal erkennbar, wenn wir Perioden tiefen Friedens erleben und erkennen, mit welcher Perfektion sich der Prozeß entfaltet. Allzu voreilig ergeht sich der ungeduldige Verstand im ersten Erahnen dieser Perfektion in Phrasen wie: „Alles ist vollkommen.“ Das stimmt zwar, aber aus ganz anderen Gründen. Obwohl die Vollkommenheit, in der sich der Prozeß entfaltet, in der Tat Ehrfurcht und staunende Verwunderung gebietet, müssen wir die Tiefen dieses Ozeans der Bejahung mit der Sorge um diejenigen ausbalancieren, die an seiner Oberfläche ertrinken. Ist Hartherzigkeit vollkommen? Ist es der Tod Deines Kindes? Vollkommenheit ist nicht etwas, das wir herbeidenken können, Vollkommenheit ist etwas, woran wir teilhaben müssen, während wir gleichzeitig die Neigungen von Geist und Körper aus der Weite des Herzens heraus anzuerkennen haben. Wir brauchen einfach nur den gegenwärtigen Moment vollständig zu erfassen, um zuverlässig erspüren zu können, welche Lösung die richtige ist. Hierzu fällt mir die Bemerkung des Zen-Meisters Suzuki Roshi ein: „Alles ist vollkommen, aber es gibt noch genügend Spielraum für Verbesserungen.“

So muß also jede Technik mit der nötigen Balance und Einfühlsamkeit ausgeführt werden, damit uns das Praktizieren über die eigentliche Praxis hinausführen kann und wir nicht einfach nur Meditierende bleiben, sondern selbst zur Meditation werden. Heilen ist ein Hochseilakt, bei dem alles ins Gleichgewicht gebracht werden muß: Energie und Bemühung - Konzentration und Aufnahmefähigkeit - Weisheit und Mitempfinden - Gewahrsein und Barmherzigkeit - Verständnis und innere Loslösung - die äußere Erscheinungswelt und das, was sich jenseits der Erscheinungen vollzieht - das, was wir Geburt nennen und das, was wir unter Tod verstehen - und all das, was vor diesen Dingen kommt und über sie hinausgeht.

Man kann diese Meditationen langsam einem Partner vorlesen oder auch allein mit ihnen arbeiten. Manche erachten es als zweckmäßig, diese Übungen auf ein Tonband zu sprechen und sich solange vorzuspielen, bis sie „im Schlaf sitzen“. Wir haben festgestellt, daß wir bei einer Meditation nur selten zweimal denselben Wortlaut verwenden. Wenn sich die Worte erst einmal in das Herz übertragen haben, wird die leise Stimme des Herzens die optimale Führung durch die Erfordernisse des Augenblicks übernehmen.

Wenn man diese Übungen einem Kranken in der Meinung anbietet, sie könnten hilfreich für ihn sein, sollte man berücksichtigen, daß manche Menschen auf die Anleitungen anderer empfindlich reagieren und daher eine Führung von außen nicht sonderlich schätzen werden. Wenn wir diese feinen Werkzeuge zur Verfügung stellen, müssen wir daran denken, daß manche Leute sich bedrängt fühlen könnten, auch wenn wir die besten Absichten haben. Das Gefühl für den rechten Zeitpunkt ist ein wichtiger Faktor, wenn wir jemandem mit diesen Übungen helfen wollen.

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