Читать книгу Sein lassen - Stephen Levine - Страница 14
AHH-ATEMÜBUNG - EINE BRÜCKENMEDITATION
ОглавлениеDies ist unserer Erfahrung nach eine der einfachsten und wirkungsvollsten Übungen, um uns davon zu überzeugen, daß das Ewig-Heile nie weit von uns entfernt ist. Sie läßt uns das Herz erfühlen, das wir alle teilen, den einen Geist des Seins. Sie erschließt uns die Erfahrung immer neuer Ebenen unserer Verbundenheit. Sie kann uns durch den Geist hindurch und schließlich über ihn hinaus führen. Es ist eine Übung, in der zwei Menschen „mit sanften Augen sehen“ können, welche Ebenen der Vertrautheit und Hingabe einem ungetrübten Gewahrsein zugänglich sind. Wir kennen viele, die diese Übung zur Vertiefung ihrer Beziehungen gebrauchen - zu ihren Partnern, zu ihren Kindern, zu ihren Eltern, zu Kranken und zu all jenen, denen sie helfen möchten. Sie ist eine Führerin in die Offenheit, in der uns eine Ahnung unserer essentiellen Weiträumigkeit zuteil werden kann.
Diese Meditation kann von zwei Personen zwanzig bis fünfundvierzig Minuten lang praktiziert werden. Dabei können Dauer und Erfahrungstiefe im Erkunden dieser Übung immer wieder variieren. Wenn man sich die Übung ganz zu eigen machen möchte, ist es wichtig, daß man sich völlig mit den Erfahrungen sowohl der aktiv als auch der passiv beteiligten Person vertraut macht - obgleich Gebender und Empfangender am tiefsten Punkt der Übung in der Einheit aufgehen, die jenseits des isolierenden Verstandes auf uns wartet.
Die Einfachheit dieser Technik sollte nicht dazu verleiten, ihre innere Kraft zu unterschätzen, durch die zwei Wesen eins werden können.
Von einem solchen Zustand der grenzenlosen, nichtdualistischen Bewußtheit spricht Seng-Tsan, der dritte Zen-Patriarch, wenn er sagt:
Für den geeinten Geist, der sich
im Einklang mit dem Weg befindet,
hört alles ichbezogene Streben auf.
Zweifel und Unentschlossenheit verlieren sich,
und ein Leben des wahren Glaubens wird möglich.
Mit einem einzigen Hieb sind wir von der Fessel befreit;
nichts haftet uns an und nichts halten wir fest.
Alles ist leer und klar und leuchtet aus sich selbst,
ohne Einsatz geistiger Kraft.
Hier sind Gedanke, Gefühl, Wissen und Vorstellung ohne Wert.
In dieser Welt der Soheit gibt es weder ein Selbst noch etwas
anderes als das Selbst.
Willst Du Dich mit dieser Realität direkt in Einklang bringen,
dann sage, wenn sich Zweifel in Dir erhebt, ganz einfach:
“Nicht zwei.“
In diesem „Nicht zwei“ ist nichts voneinander getrennt,
und nichts ist ausgeschlossen.
Ganz gleich, an welchem Ort oder zu welcher Zeit:
Erleuchtung heißt, in diese Wahrheit einzugehen.
Und diese Wahrheit liegt jenseits einer Erweiterung oder
Verminderung von Zeit oder Raum;
in ihr sind zehntausend Jahre ein einziger Gedanke.
Bei dieser Atemübung wird die Person, mit der man in Verbindung treten möchte, gebeten, sich in bequemer Haltung je nach Belieben auf ein Bett oder auf den Boden zu legen und den Körper zu entspannen (ein Gürtel wird geöffnet, eine Brille wird abgenommen, die Arme liegen ganz bequem zu seiten des Rumpfes, die Beine ruhen nebeneinander - der ganze Körper ist gelöst). Das Atmen soll auf ganz natürliche Weise erfolgen. „Du brauchst nichts weiter zu tun als zu fühlen, was geschieht.“
Um die Person in ihrem Wissen zu bestärken, daß es um ihre ureigene Erfahrung geht, sei sie nun gewöhnlich oder spektakulär, solltest Du sie nicht berühren, obwohl Du neben ihr sitzt. Wenn sie von der Meditation in den nichtdualistischen Raum jenseits des alten Geistes getragen wird, soll sie nämlich nicht denken, daß dies einem Eingreifen von Deiner Seite zuzuschreiben sei oder daß etwas Magisches mit ihr geschehe. Sie wird hingegen spüren, daß diese sich in ihrem Innern ausbreitende Erfahrung nur von ihr selbst abhängt.
Du sitzt ungefähr in Höhe der Körpermitte Deines Partners, achtest auf seine Atemzüge und richtest Deinen Blick auf das Heben und Senken seines Bauches. Bestärke ihn darin, ganz natürlich zu atmen. Er braucht den Atem weder zu kontrollieren, noch anzuhalten, noch zu steuern, sondern kann sich auf ganz natürliche Weise entspannen. Ohne weitere Kommunikation löst Du Dich nun von Deinem eigenen Atemrhythmus und atmest so wie Dein Partner. Wenn Du das Heben seines Bauches wahrnimmst, atmest Du ein. Wenn Du das Senken des Bauches wahrnimmst, atmest Du aus. Löse Dich vollständig von Deinem eigenen Atem und gleiche Deine Atmung ganz der seinen an. Atme seinen Atem in Deinem Körper.
Wenn Du Dich erst einmal auf die Atmung des anderen eingestimmt hast, ist es wichtig, daß Du nicht „abschaltest“, sondern Deinen Blick stetig auf das Heben und Senken seines Bauches richtest, um Dich auch den feinsten Veränderungen seiner Atmung anpassen zu können, wenn er von wechselnden Geisteszuständen und Gefühlen bewegt wird. Auch wenn Dich ein tiefes Gefühl des Friedens überkommt, darfst Du Deine Augen nicht schließen und die Verbindung zu Deinem Partner unterbrechen. Stimme Deine Aufmerksamkeit sehr fein und genau auf die subtilsten Veränderungen im Heben und Senken seines Bauches ab, so daß sich Dein Atem diesen Veränderungen völlig anpassen kann.
Im Verlauf einiger Atemzüge, es mögen ungefähr acht oder zehn sein, beginnst Du den Atem Deines Partners in Deinem eigenen Körper zu atmen. Während Ihr beide ausatmet, läßt Du jedesmal ein AHHHH erklingen. AHHHH ist der große Klang des Loslassens. Ermögliche es diesem Klang, sich mit jedem Ausatmen tiefer und tiefer in Deinen Körper hinabzusenken, bis auch Dein Bauch das AHHHH im Einklang mit Deinem Partner atmet. Wichtig ist, daß der andere Dein AHHHH hören kann, daß es klar zu vernehmen ist. Laß Dich nicht abgleiten in ein unhörbar geflüstertes AHHHH, das zwar angenehm für Dich sein mag, die Verbindung zu Deinem Partner aber unterbricht.
Jedes gemeinsame Atemholen wird lautlos vollzogen. Während der neben Dir liegende Partner still ausatmet, entfährt Deinem Mund von Deinem Bauch her und am Herzen vorbei dieser große Klang des Loslassens, das tiefe AHHHH der Befreiung, das vom anderen so vernommen wird, als käme es von ihm selbst. Er selbst braucht das AHHHH nicht von sich zu geben.
Wie bei all diesen Meditationen ist es wichtig, daß Du sie Dir ganz zu eigen machst - jede Art des Experimentierens ist erlaubt. Wenn Du aber die ersten Male mit einem Partner arbeitest, dann erlaube ihm, Stille zu bewahren, und vertiefe das AHHHH, das innige Loslassen in diesem mächtigen inneren Klang mehr und mehr.
Halte diese Verbindung durch das Atmen aufrecht, indem Du den Atem Deines Partners in Deinem Körper atmest und das AHHHH bei jedem Ausatmen solange hervorbringst, wie es angenehm für Euch ist. Im Verlauf dieser Übung können die Zustände des Geistes immer wieder wechseln. Manche fühlen einen Frieden, der alles Begreifen übersteigt. Andere nehmen im Herannahen dieses Friedens wahr, wie sich vorübergehend Ängste vor der entstehenden Intimität, sexuelle Energien oder Gefühle des Zweifels aus dem Atem heraus bilden und wieder auflösen. Bleibe hierbei ganz ruhig. Doch laß die neben Dir liegende Person wissen, daß sie die Kontrolle behält und Dir immer dann, wenn sie die Übung beenden möchte, durch das Heben ihrer Hand das Signal zum Abbruch geben kann. Hier soll kein Druck ausgeübt, sondern einfach dem Wunder des Herzens die Möglichkeit gegeben werden, sich nach Belieben zu offenbaren und uns die Tiefen des Seins zu zeigen, das wir miteinander teilen können.
Es hat sich gezeigt, daß diese vermeintlich simple Übung für viele von außergewöhnlichem Nutzen ist. Wir kennen zahlreiche Krankenschwestern und Ärzte, die diese Übung in ihrem Krankenhaus bei Patienten anwenden, die unter starken Beklemmungen und Anspannungen leiden. Bei denjenigen, die in einer Krankenhaus-Atmosphäre nachts keinen Schlaf finden können, mag es geschehen, daß sie wohlig zu schnarchen beginnen, während die Meditation erst halb vollzogen ist. Laß es geschehen. Du brauchst keine Ergebnisse zu erzwingen. Laß die Meditation selbst die Führerin sein. Betrachte alle vorgefaßten Meinungen einfach als weitere Gedanken, als weitere Seifenblasen, die durch die sich überlagernden weiten Räume einer gemeinsamen Realität schweben. Manche erzählen, daß sie gar nicht unterscheiden konnten, wessen Gefühl es eigentlich war, das irgendwann während des Übungsverlaufs in Erscheinung trat. Ein nach der Meditation geführtes Gespräch darüber, was auf ihren verschiedenen Stufen alles geschehen ist, kann die Verbindung der beiden Partner oft noch vertiefen. Dies ist ein weiterer Aspekt ihres Potentials für eine Bereicherung der gegenseitigen Beziehung.
Wir kennen viele Menschen, die mit schwerkranken Patienten gearbeitet und diese Übung angewandt haben, um ihnen bei der Befreiung von geistiger und körperlicher Angst zu helfen. Sie scheint selbst dann Wirkung zu zeigen, wenn der Patient im Koma liegt. Bei verschiedenen Patienten war sogar im Augenblick ihres Todes ein Zeichen der Vollendung wahrzunehmen, wenn das AHHHH sich mehr und mehr vertiefte und ihr Atem schwächer und schwächer wurde, bis der sanfte Hauch des AHHHH endlich den Körper verließ und das Leben mit sich forttrug. Viele, die einem sterbenden Menschen zur Seite standen, haben die außerordentliche Möglichkeit entdeckt, an seinem Tod im tiefen AHHHH eines innigen Loslassens teilzuhaben, das ihn bis zur Schwelle begleitet und sie schließlich sanft überschreiten läßt. Es ist eine Übung, deren zahlreiche Anwendungsmöglichkeiten jeder für sich selbst entdecken wird, während er oder sie tiefer in sie eindringt.
Wenn Du den Atem eines anderen in Deinem Körper atmest, dann schenkst Du dieser Person vielleicht eine größere Aufmerksamkeit als jemals zuvor. Kaum einmal lauschen wir jeder Silbe, die ein anderer spricht, und noch viel weniger stimmen wir uns auf die subtile Ebene ein, auf der sich jedes von einer Pause gefolgte Einatmen und jedes in der Stille endende Ausatmen vollzieht. Diese tiefe Aufmerksamkeit läßt uns erkennen, daß wir nicht zwanzig Jahre in einer Höhle zu sitzen brauchen, um Einblick in unser höheres Wesen zu bekommen. Viele Menschen, die sich vorher nicht im entferntesten mit Meditation beschäftigt und diese Übung mit jemandem praktiziert haben, entdecken etwa um drei Uhr morgens, wenn sie allein sind und nicht schlafen können, wenn sie Ruhelosigkeit und Schmerz in sich fühlen, daß sie ihren eigenen Atem beobachten und im tiefen AHHHH ihres Loslassens große Erleichterung finden können. Sie entdecken einen Frieden, den sie vorher nicht für möglich gehalten haben. Diese Übung ist wahrhaftig ein Weg, um eine Form der Meditation, ein tiefes Lauschen auf den Atem und eine umfassende Befreiung von inneren Fesseln zu vermitteln, der keines Dogmas und keiner Philosophie bedarf. In der Wahrheit selbst liegt die Wahrheit verborgen. Was auch immer erfahren wird, muß ganz und gar erfahren werden.