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KAPITEL 1 Was Heilung bedeutet

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Als mich zum ersten Mal eine Krebspatientin fragte: „Soll ich meine Suche nach Heilung aufgeben und mich einfach dem Tod überlassen?“, drehte sich mir der Magen um, und ich bekam weiche Knie. Fast drei Jahre lang hatte für Robin die Heilung ihrer Krebserkrankung im Mittelpunkt gestanden. Sie hatte durch die Anwendung verschiedener Techniken auch eine Besserung erzielt. Aber nach neun Monaten war der Krebs in vollem Umfang zurückgekehrt und zehrte den Körper durch vielfache sekundäre Tumore (Metastasen) im Wirbelsäulenbereich und in den Hauptorganen aus. Sie litt starke Schmerzen. Unfähig, länger als eine oder zwei Minuten ruhig sitzen oder liegen zu können, wußte sie weder ein noch aus. Ihre Frage bohrte sich in meinen Körper und lähmte meinen Verstand. Ich schaute in ihre Augen, und weder aus meinem Wissen noch aus irgendeiner Erfahrung heraus war ich in der Lage, sie zu beantworten.

Zweifellos war dies eine Frage, die nur vom Herzen beantwortet werden konnte. Und mein Herz flüsterte wie aus einem tieferen Wissen heraus: „Eigentlich muß die Frage lauten: Wo können wir Heilung finden?“ Es ist die Frage, die das Leben selbst stellt: „Was ist Vollendung?“ Sie stellt das Niemandsland zwischen Herz und Geist in den Brennpunkt. Wie können wir das, was scheinbar voneinander getrennt ist, zu einer Ganzheit vereinen? Worin besteht das Wesen der Heilung, in der sich alle Dualität auflöst?

Als die Heilung für Robin zum Gegenstand innerer Erforschung wurde und nicht mehr ausschließlich an ihre vorgefaßte Meinung gebunden war, begann sich ihr Schmerz zu verringern. Je tiefer sie diesen Prozeß erkundete und fragte: „Auf welcher Ebene kann man Heilung finden?“, desto geringere Bedeutung maß sie ihrer ursprünglichen Frage bei, die das Leben dem Tod entgegenstellte. Nachdem Robin ihre Selbsterforschung einige Wochen fortgesetzt hatte, äußerte sie den Wunsch nach einem Heilungskreis. Mehrere bekannte Heiler/innen kamen bei ihr zusammen, um einen Kreis um sie zu bilden und alle Energien in sie hineinzuleiten, die auch immer für ihre Gesundung zur Verfügung stehen mochten. Ein intensives Auflegen der Hände wurde vollzogen. Ein paar Freunde, die dem Kreis von außen her zusahen, meinten später, daß die Energien förmlich greifbar gewesen seien. Es bestand in diesem Raum kein Zweifel darüber, daß die „heilenden Kräfte vorhanden waren“.

Eine Woche später entdeckte man auf Robins Kopfhaut und an ihrem Rücken dreißig neue Tumore. Sie sagte zu mir: „Die Heilung hat funktioniert. Ich habe in meinem Herzen nie eine größere Offenheit gespürt, und es scheint, als würde sich die Krankheit ihrer Vollendung nähern.“

In der Tat, die Heilung schien „funktioniert“ zu haben. In den Wochen vor ihrem Tod sprach sie davon, ein Gefühl von Ganzheit zu erfahren, wie sie es nie zuvor erlebt hatte.

Ondrea und ich hatten bereits mehrere Jahre lang mit Schwerkranken gearbeitet, ehe wir das Wesen der Heilung zu erforschen begannen. Während eines Großteils dieser Zeit leiteten wir das Sterbe-Projekt der Hanuman Foundation und unterhielten jahrelang einen kostenlosen, vierundzwanzigstündigen Telefonberatungsdienst für all jene, die mit schwerer Krankheit, Trauer oder Tod konfrontiert waren.

Unsere Erfahrungen mit Schwerkranken waren ein wesentlicher Bestandteil unserer eigenen, innersten Heilung. Ermutigt durch Jahre der psychologischen und spirituellen Praxis wie auch durch eine zunehmende Anerkennung meditativen Dienens wurden wir von dieser Arbeit förmlich angezogen. Sie brach unsere Herzen auf. Sie gab uns neue Hoffnung.

Es war eine schmerzvolle Gnade, den Tod von Kindern mitzuerleben, die uns oft an unsere eigenen Kinder erinnerten - oder die sanfte, pergamentene Hand einer sterbenden Urgroßmutter zu halten, unsere Blicke in diesem großen Moment miteinander verschmelzen zu lassen und teilzuhaben am Hauch ihres letzen Atemzuges, während das Licht sie verließ und entschwand. Oder in einem sommerlichen Garten am Liegestuhl eines jungen Mannes zu sitzen, der vor seinem Tod ein letztes Mal den freien Himmel genießen wollte und im Kreis seiner Kinder und Angehörigen ein letztes Schlückchen Wasser zu sich nahm. Und als dann, wenig später ein kleines Insekt über sein Auge kroch, ohne daß er blinzelte, waren wir tief beglückt, daß er nach Jahren der Schmerzen und Qualen seinen letzten Atemzug so friedlich vollzogen hatte, daß keiner etwas davon gemerkt hatte.

Aber diese außergewöhnlichen gemeinsamen Erfahrungen mit Menschen, die sich an uns gewandt hatten, beschränkten sich nicht etwa auf die Oberflächlichkeit von „Todesvorbereitung Nr. 101“. Jeden einzelnen begleiteten wir bei seiner Selbsterforschung, und jeder einzelne entdeckte seinen eigenen Pfad zum gemeinsamen Ziel. Alle fanden zu einer tieferen Erkenntnis, zu einem tieferen Lebensgefühl. Manche widmeten sich dieser Arbeit der liebevollen, sanften Selbstergründung in einer Weise, als wären sie verirrte Kinder, die im dunklen Wald auf einen Pfad gestoßen sind - tief beglückt darüber, dem Jetzt, dem Leben selbst endlich direkt zu begegnen. Für andere war es ein Kampf, zugleich aber eine große Erlösung von alten Ängsten und Verhaftungen - ein mühsam errungener Durchbruch auf einem Weg in ein neues Leben.

Unsere Arbeit mit Sterbenden hat uns über Jahre hinweg darin bestärkt, für den unmittelbaren Augenblick, in dem sich alles Leben offenbart, völlig offen zu sein, und die optimale Vorbereitung auf den Tod in einer vorbehaltlosen Offenheit für das Leben in all seinen Nuancierungen und Wandlungen zu sehen. Manchen erleichterte diese Offenheit für das Leben zwar nicht den Weg zum Tod, erschloß ihnen aber statt dessen Ebenen der Heilung, die vorher unvorstellbar für sie gewesen waren.

So zeigte es sich, daß eine Vorbereitung auf das Sterben, eine neue Offenheit für das Leben, stets zu einer tieferen Heilung führte. Bei manchen wirkte eine solche Heilung sowohl auf den Körper als auch auf das Herz. Nicht alle, die zum Sterben zu uns kamen, starben tatsächlich. Im Verlauf der Jahre begegneten wir vielen Menschen, die in einem bestimmten Stadium der Öffnung tatsächlich körperlich zu gesunden schienen. Unsere Anteilnahme an der Freude derjenigen, die mit fortgeschrittenen Tumoren zu uns gekommen waren und nun auf ein ganz neues Leben ohne Krebs hoffen konnten, lenkte unsere Aufmerksamkeit mehr und mehr auf diesen Prozeß, auf dieses Phänomen, welches Heilung genannt wird.

Manche, die zu uns kamen, um ihre geistigen Verhaftungen zu erkunden und sich von ihnen zu lösen, erfuhren dabei auch eine körperliche Heilung. Während sie eine bestimmte Herzenswärme in sich erweckten, begegneten sie ihren Schmerzen mehr und mehr mit Bewußtheit und Mitgefühl - eine optimale Strategie für das Leben wie auch für das Sterben, die schon für sich allein eine tiefgreifende Heilung darstellt.

Als Ondrea und ich die Bedeutung der Heilung zu erforschen begannen, weitete sich der Kontext rasch aus. Wenn Heilung das war, was sie zu sein schien, wenn sie in der Auflösung von Beklemmungen, im Ausbalancieren von Energien und in der Schaffung inneren Friedens bestand, dann war sie zweifellos nicht auf den Körper, ja auf die sichtbare Welt beschränkt. Sie mußte die Möglichkeit umfassen, selbst die tiefsten, unsichtbarsten Wunden zu heilen - all die Qualen, die den Tod als einen Ausweg erscheinen lassen.

Eine Therapeutin, die diese Techniken etwa ein Jahr lang bei ihren Patienten angewandt hatte und sie dann auch täglich selbst auszuüben begann, sagte später: „Ich wurde sogar von Wunden geheilt, von denen ich überhaupt nichts wußte. Ich meine, ich hatte sicher keine lebensgefährliche Krankheit wie zum Beispiel Krebs. Aber ich litt unter der lebensgefährlichen Krankheit der Verzweiflung, der Depression, der Wut, der Trunksucht und der Selbstverachtung. Hübsch, was? Aber als ich mich mit diesen Dingen zu konfrontieren begann, anstatt mich aus ihnen herauszutherapieren und sie immer wieder von neuem zu analysieren, da fing ich an, sie richtig zu erforschen. Was für eine Abwechslung, das alles mal richtig kennenzulernen, anstatt immer nur auf der Oberfläche herumzutanzen! Ich kam mir selbst ein ganzes Stück näher dabei. Ich hörte mit dem Trinken auf. Ich besorgte mir einen jungen Hund, das erste Haustier, welches ich mir überhaupt gegönnt habe. Mir ist nicht mehr so bange vor dem, was kommt.“

Bei dem Versuch, unsere Arbeit zu definieren, verdeutlichte sich die Schwierigkeit, Heilung auf eine bestimmte Ebene zu beschränken, mehr und mehr. Wenn Heilung tatsächlich die Integration von Körper und Geist in das Herz beinhaltet, dann haben wir uns seit jeher an ihr orientiert. Heilung ist das Wachstum, nach dem wir alle streben. Heilung tritt ein, wenn wir an unsere Grenzen stoßen, das unerforschte Territorium von Geist und Körper betreten und dann mit einem einzigen Schritt ins Unbekannte hinausschreiten, in den Raum, in dem sich alles Wachstum vollzieht. Heilung bedeutet Entdeckung. Sie überschreitet Leben und Tod. Heilung erwächst uns nicht aus den kleinen Gedanken unserer Selbsteinschätzung oder unseres Wissens, sondern aus der unermeßlichen, undefinierbaren Weite des Seins. Wir begegnen ihr in unserem essentiellen Wesen, nicht in unserem fiktiven Selbstbild.

Aus der Rückschau auf die letzen zehn Jahre der Arbeit mit krisenbelasteten Menschen resultiert die Erkenntnis, daß es nicht unsere Absicht sein kann, Menschen am Leben zu erhalten oder ihnen beim Sterben zu helfen. Wir wollen sie jedoch durch unsere Arbeit darin bestärken, alle Aufmerksamkeit auf den Augenblick zu konzentrieren - Heilung im Jetzt zu finden und die Zukunft aus dieser inneren Hingabe heraus ganz natürlich zur Entfaltung kommen zu lassen. Wenn dieser Augenblick vom Schmerz geprägt ist, dann wird das Gewahrsein auf den Schmerz gerichtet. Wenn der Augenblick Trauer bedeutet, dann wird die Trauer zum Brennpunkt. Wenn der Augenblick Krankheit beinhaltet, dann ist die Krankheit jene Lehre, auf die sich das Gewahrsein richtet.

Als wir mit unserer Arbeit begannen, glaubten wir wie die meisten, die zu uns kamen, daß Heilung nur den Körper beträfe. Nachdem wir aber einige hundert Menschen auf ihrem Weg zum Tod begleitet hatten und in vielen Fällen Zeugen des Krankheitsverlaufes gewesen waren, wurde uns klar, daß Heilung auf vielen Ebenen möglich ist.

Es fiel uns auf, daß es denen, die wieder gesund wurden, oft besser ging als vor Ausbruch ihrer Krankheit. Eine Zeitlang glaubte ich, daß diese „Extra-Besserung“ eine Nebenwirkung der Heilung sei. Doch später sah ich ein, daß es sich eher umgekehrt verhielt und die Heilung des Körpers bei vielen eine Nebenwirkung der neuen Balance zwischen Geist und Herz war. Es war nicht so, daß diese Menschen sich deshalb besser fühlten, weil sie Heilung gefunden hatten, sondern daß sie gesundet waren, weil sie in sich einen Raum größerer Ruhe und tieferen Friedens gefunden hatten. Bei vielen glich die Heilung einem Aufblühen, das von Wurzeln genährt wurde, die tief in die dunkle, feuchte Erde des bislang unerkundeten Geistes hineinreichten. Im Erforschen des Geistes enthüllten sie das Herz. Und es waren viele, die das Licht des Herzens innerlich erblühen ließ.

Obwohl alle ein größeres Wohlbefinden, ein Gefühl stiller Erfüllung zu erfahren schienen, konnte nicht jeder, der sich dem Leben öffnete, auch das Leben im Körper fortsetzen. Jeder fand Heilung im Leben. Manche erlebten, wie ihr Körper wieder zur Ganzheit fand. Andere erlebten die Ganzheit des Todes. Wir begleiteten Menschen, deren Sterben die Vollkommenheit des Seins offenbarte - ihr Herz war so offen, ihr Geist so völlig befreit, daß es offenkundig war, wie gesund sie in den Wochen und Monaten ihres Sterbens geworden waren. Wie sehr waren sie doch geheilt! Sie erfuhren im Augenblick ihres Todes eine größere Heilung, eine größere Ganzheit als jemals zuvor in ihrem Leben. Sie fanden ihre Heilung im Tod, ihre Geschäfte waren bereinigt und ihre Zukunft stand weit offen.

In den neun Jahren, die nun seit Robins Frage und den Anfängen unserer Suche nach dem Wesen der Heilung vergangen sind, haben wir eine große Anzahl von Büchern mit Hunderten von verschiedenen Heilmethoden gesammelt, die sowohl den medizinischen Traditionen des Westens als auch den Heilpraktiken des Ostens entstammen: Bücher über die Gerson-Diät, die Weizen-Therapie, die Fiebermethode, die Makrobiotik, die Akupunktur, die Moxa-Medizin, über Ernährungs- und Bewegungstherapien, die Autosuggestion, die Bach-Blüten-Therapie, die Farbentherapie, die Harntherapie, die Bestrahlungstherapie, die Chemotherapie, über verschiedene Formen des Gebets und eine Unzahl von weniger bekannten experimentellen Therapieformen. All diese Bücher wurden uns von sterbenden Patienten überlassen.

Im Verlauf der Jahre stellte sich klar heraus, daß es keine einzige Methode gab, die bei allen gleichermaßen wirkte. Es schien keine Methode zu geben, die sich in entscheidendem Maße günstiger auf den Körper auswirkte als irgendeine andere. Es mag auch erwähnt sein, daß sich auf einem anderen Regal Dutzende von Büchern über spirituelle Disziplinen und die aus ihnen hervorgehenden heilbringenden Kräfte angesammelt haben - über den Buddhismus, das Christentum, den Sufismus, den Hinduismus und über Selbsterforschungs-Techniken des Judentums. Wir erhielten sie von Patienten, die in ihnen „den besten Weg“ gefunden zu haben glaubten, deren Einsichten aber keineswegs bedeutsamer erschienen als die aller anderen. Die Parallele zwischen einer körperlichen und einer spirituellen Heilung war nicht zu übersehen.

Es schien keine körperliche Heilmethode zu geben, die bei allen Erfolg hatte, keine einzige Technik, die von all jenen gemeinsam vertreten wurde, die augenscheinlich geheilt wurden. Doch auf der anderen Seite begegneten wir hier und da auch einigen strahlenden Wesen, die sich in der Erforschung des Mysteriums und in der Loslösung von der scheinbaren Solidität der isolierten Persönlichkeit geübt hatten und mit einer universalen Essenz in sich selbst verschmolzen waren. Ohne daß diese Menschen in jedem Fall das Bedürfnis oder die Fähigkeit dazu hatten, ihre Erfahrungen zu definieren oder zu beschreiben, öffneten sie sich von ganzem Herzen für etwas, das jenseits der alten Pfade ihres Daseins lag. Zweifellos ging das, was den Eintritt der Heilung ermöglicht hatte, über irgendeine Heilmethode hinaus. Irgendetwas tief im Herzen begegnete der Krankheit in einer Weise, die alles Ungleichgewicht durch eine neue Harmonie ersetzte.

Manche meinen, daß die von uns angewandten Techniken zu einer sogenannten „spirituellen Heilung“ führen. Ich fühle mich bei diesem Begriff jedoch nicht ganz wohl, denn er verleitet zu dem Glauben, als könne der spirituelle Geist verwundet werden - was nicht der Fall ist. Er ist das Unverwundete und Unverwundbare, die Grenzenlosigkeit des Seins - die Unsterblichkeit. Was von uns angeboten wird, ist somit keine spirituelle Heilung, sondern eher eine Heilung, die in den spirituellen Geist hineinführt. Auch die Redewendung „das Herz öffnen“ kann leicht in die Irre führen, weil sie impliziert, daß das Herz manchmal verschlossen sei - während es in Wirklichkeit ebenso wie die Sonne immer erstrahlt und nur gelegentlich von vorüberziehenden Erscheinungen verdunkelt wird. Wir öffnen genaugenommen nicht das Herz, sondern machen den Weg zum Herzen frei. Wir erkennen, daß Hindernisse auf diesem Weg auch Hindernisse für die Heilung sind. So lassen wir auf unserem Pfad alles los, was den Weg blockiert. Heilen bedeutet nicht, die Sonne zum Scheinen zu zwingen, sondern sich von persönlichem Separatismus, von Selbsteinschätzungen, vom Widerstand gegen Veränderungen, vom Zorn, von der Angst und von Verwirrungen zu lösen - denn dies alles bildet den undurchsichtigen Panzer, der das Herz umschließt. Der Heilungsprozeß beginnt, wenn sich die dichten Wolken unserer Achtlosigkeit und Unfreundlichkeit auflösen. Er öffnet den Weg, auf dem sich in unserem Innern das Ewig-Heile enthüllt.

Ondrea und ich stellten nach einigen Jahren der Arbeit mit schwerkranken Patienten zuweilen fest, daß uns das Wort „Heilung“ einen Schauer über den Rücken laufen ließ. Wir sahen viele, die im Namen der Heilung großes Leid erdulden mußten. Was man Heilung nannte, mochte in bestimmter Hinsicht sogar eine Beschleunigung des Todes darstellen. Viele schienen in der Schlacht um ihre „Heilung“ intensive Gefühle der Selbstbewertung zu manifestieren. In manchen Fällen bekundete sich diese geringe Selbstachtung als Abscheu, in anderen als Schuld- oder Schamgefühl, und in wieder anderen als tiefste Angst. Diese Zustände schienen viele zu entkräften, und es hatte den Anschein, als würden sie im Namen der Heilung krankheitsfördernde Eigenschaften entwickeln. Angst und Schrecken strahlten in die Krankheit aus. Anspannung und Verwirrung schienen den „Geist der Krankheit“ zu nähren, indem sie das „Herz der Heilung“ verdunkelten.

Ursprünglich hatten jene wenigen Patienten unser Interesse auf die Heilung gelenkt, die mit Krebs im vierten Stadium oder fortgeschrittenen degenerativen Herzkrankheiten zu uns gekommen waren und nicht daran starben. Wir erlebten, daß Krankheiten aus Körpern verbannt wurden, für die es zuvor keine Rettung mehr zu geben schien. Den Ärzten blieb nichts anderes, als diese Patienten für „kuriert“ zu erklären, wenngleich sie über die eigentliche Ursache der Heilung nur verwundert ihre Köpfe schütteln konnten.

Es gibt sogar ein Forschungsprogramm, das sich mit außergewöhnlichen Remissionen und Heilungen langwieriger Leiden beschäftigt. Doch mir geht es weder darum, die „Besonderheit“ von Patienten hervorzuheben, die ihre physische Gesundheit wiedererlangten, noch will ich überhaupt die Besonderheit rein körperlicher Heilungen akzentuieren. Meinem Gefühl nach kommt hier eher etwas ganz Gegenteiliges zur Wirkung. Gerade das, was allen gemeinsam ist, was für alle wirklich universal ist, sehe ich als die eigentliche Grundlage unserer Heilung an. Viele Heilungen scheinen ein wirklich allgegenwärtiges Kriterium zu bedingen - nämlich das Gewahrsein selbst, das auf einen erkrankten Bereich konzentriert wird. Wir beobachteten, daß sich in Menschen, die von einem scheinbar unerträglichen physischen oder mentalen Zustand kuriert wurden, etwas ganz Einfaches, etwas Essentielles abspielte. Uns war es nicht darum zu tun, physische Heilung zu etwas Unerreichbarem, zu einem Luxus für die Elite zu machen und eine Autokratie der Kranken zu schaffen. Statt dessen tauchten wir in das Wunder der intensiven Erforschung der Hindernisse ein, die eine Heilung blockieren. Es ging uns um eine Befreiung von altgewohnten Posen und Versteckspielen, um ein wachsendes Vertrauen in das Mysterium, um eine zunehmende Konzentration von Mitgefühl und Bewußtheit auf den Bereich körperlichen oder seelischen Unbehagens. Ebenso wie man das zerstreute Licht der Sonne durch ein Vergrößerungsglas zu einem hellen Brennpunkt bündeln kann, wird das Licht heilenden Gewahrseins auf einen Bezirk konzentriert, der vorher im Dunkeln lag.

Hier aber besteht eigentlich ein Paradoxon. Obgleich die Kraft des Gewahrseins zur Heilung und Vertiefung nichts Besonderes, sondern ein allgemeines Geschenk für alle ist - wenn sie auf den Geist zu wirken beginnt, dann enthüllt sie unsere Einzigartigkeit. Sie enthüllt die besondere Konstellation von Eigenschaften, die uns befähigen, unseren eigenen Durchbruch, unseren eigenen Pfad, unseren eigenen Genius zur Heilung zu entdecken.

Während wir zu der Einsicht kamen, daß sich Heilung auf vielen Ebenen vollziehen kann, wurde auch deutlich, daß diejenigen, die nicht körperlich gesunden konnten, in spiritueller oder psychologischer Hinsicht keinesfalls unvollkommen waren. Wir beobachteten, daß die über lange Zeit gepeinigten Seelen vieler Sterbender im Herzen tiefen Friedens Heilung fanden. Und so empfanden wir großes Unbehagen, wenn manche Ärzte die körperlich Geheilten als „Superstars“ oder „außergewöhnliche Patienten“ bezeichneten. Sollten all jene, deren Krankheit ihren Höhepunkt im Tod erreichte, Durchschnittstypen, Menschen zweiter Klasse sein? Das konfuse Elitedenken, wonach diejenigen, die ihren Körper kurieren, irgendwie „besser“ seien als jene, bei denen das nicht der Fall ist, kann sich auf dem Totenbett, wenn die letzte Krankheit unausweichlich vor uns steht und uns aus dem Körper verdrängen will, in ein quälendes Gefühl der Niederlage verwandeln. Der Tod ist keine Niederlage, sondern vielmehr ein Ereignis in einem unaufhaltsamen Prozeß, das man auf dem Pfad der Heilung überschreitet, um weiter zu lernen und zu wachsen.

Manche Menschen ließen sich fast mühelos durch ihre Heilung führen, während andere stolperten, immer wieder zu Fall kamen und ihrer eigenen, latenten Vollkommenheit mißtrauten. Nie waren sie völlig bereit, sich die Frage zu stellen: „Auf welcher Ebene kann ich Heilung finden?“ Wir waren Zeugen tiefgreifender, spiritueller Heilungen bei denen, die am Leben blieben, erlebten aber auch wunderbare Heilungen bei denen, die starben. Einige von denen, die ihr natürliches Gleichgewicht wiederfanden, wurden von ihrer Krankheit befreit, während sich andere weiter auf den Tod zubewegten. Manche schienen in einer Weise zur Heilung des Geistes gefunden zu haben, die alle Menschen in ihrer Umgebung mit Frieden erfüllte, obgleich ihr Körper immer weiter verfiel. Offensichtlich war Heilung nicht das, was wir uns einmal darunter vorgestellt hatten. Offensichtlich war Heilung nicht auf den Körper beschränkt.

Die Frage „Wo mögen wir unsere Heilung finden?“ weitete sich aus. Es ging um die Heilung unseres ganzen Lebens. Um die Heilung, um derentwillen jeder von uns Geburt angenommen hat.

Viele von denen, die sich sowohl in physischer und psychologischer als auch in spiritueller Hinsicht einer Heilung näherten, schienen eine bestimmte gemeinsame Eigenschaft zu haben. Sie zeigten eine gewisse Bereitwilligkeit, eine Art von Aufgeschlossenheit für die Umstände, mit denen sie konfrontiert waren, ein bestimmtes Einverstandensein. Das war nicht immer auf den ersten Blick zu erkennen, denn unterschiedliche Temperamente bekundeten diese Eigenschaft auf ganz unterschiedliche Weise. Es war keine bestimmte Angewohnheit, kein bestimmter Tonfall, kein bestimmter Sprachgebrauch. Aber jeder Einzelne schien einen Prozeß zu durchlaufen, der ihn lehrte, loszulassen und mit jedem Augenblick, mit jedem Atemzug zu tieferer Lebenserfüllung zu gelangen.

Andererseits stellten wir fest, daß viele, die nicht wieder gesund wurden, ihrer Krankheit widerwillig gegenüberstanden und beispielsweise sagten: „Davon lasse ich mich doch nicht unterkriegen!“ Sie richteten sich gegen ihre Krankheit oder ihre Tumore, um sie zurückzuschlagen - mit Selbst-Geißelung, mit Selbstverneinung, im „Kampf mit mir selbst“, im „Kampf gegen den Schmerz“. Andere jedoch lebten mit ihrer Krankheit statt gegen sie, nahmen einen innigen Kontakt zu ihr auf, erforschten sie und verzichteten auf alle Selbstpeinigung, indem sie ihr freundlich und mitfühlend begegneten - „gemeinsam mit mir selbst“, „gemeinsam mit meinem Schmerz, mit meiner Krankheit.“ Die gegen sich selbst ankämpften, die uneins mit sich waren und ihre Krankheit „kleinzukriegen“ versuchten, waren auch jene, deren Leidensperioden am schmerzhaftesten waren und deren Heilung am schleppendsten fortschritt - sofern eine Heilung überhaupt zu verzeichnen war. Diejenigen aber, die ihrer Krankheit in ihrem Herzen begegneten statt in ihrem Verstand, schienen völlig andere Erfahrungen zu machen. Zwar konnten nicht alle, die ihre Krankheit annahmen, im Körper überleben. Doch konnten wir bei ihnen eine Heilung beobachten, die über unsere früheren Definitionen oder Einsichten hinausging. Unbereinigte Geschäfte lösten sich in der liebevollen Güte auf, mit der diese Menschen dem Schmerz in ihrem Körper und der Verwirrung in ihrem Verstand begegneten. Der Schmerz schien zeitweilig einfach dahinzufließen. Uralte Widerstände und Ressentiments schienen in einer tieferen Harmonie aufzugehen. Vertrauen erhielt den Vorrang.

Diese Patienten erkannten, daß Krankheit keine Niederlage und Schmerz keine Bestrafung ist. Während sie ihren Schmerz und ihr Leiden in heilender Bewußtheit erforschten und den Zwiespalt, den Argwohn und die Resignation erkundeten, die das Leben nur allzu leicht als „nicht lebenswert“ erscheinen lassen, schienen sie sich neu zu orientieren. Sie waren nun bereit, jede Auswirkung ihrer Krankheit als Lehre aufzufassen und zu erkennen, daß ihnen dieser Grenzbereich der Lebensanforderung geboten wurde, um erkundet und mitempfunden zu werden. Dies waren die Menschen, die ihren Schmerz und ihre Angst anerkannten und ihren aus Furcht und Widerwillen entstandenen Prägungen mit neuer Offenheit gegenübertraten - manchmal auch in einer ganz neuen Ehrfurcht vor dem Leben.

Wir betreuten einen Mann, der durch seinen Krebs unter starken Schmerzen litt und eine besonders schwere Zeit durchlebte. Eines Tages sagte er zu uns: „Wenn ich dem Schmerz voller Ruhe standhalten konnte, wurde er richtig transparent.“ Er sah die andere Seite des Schmerzes. Er erkannte, daß der Schmerz keine Bestrafung war. Er hatte immer geglaubt, daß all der Schmerz in seinem Körper den früheren Irrtümern seines Lebens zuzuschreiben sei. Er sagte: „Aber jetzt ist mir klar, daß das einfach nur die alte perverse Kehrseite der lange versteckten Schuldgefühle war, die ich auf den Körper projiziert habe.“ Von Kindesbeinen an hatte er Bestrafung mit Schmerz gleichgesetzt. Als er krank wurde, hielt er deshalb seine Schmerzen für eine Bestrafung. „Ich hatte das Gefühl, völlig versagt zu haben. Ich meinte fast, daß ich es so verdient hätte.“ Kein Wunder, daß es so schwer für ihn war, Heilung zu finden! Als er den Kampf gegen seine Krankheit einstellte und es sich gestattete, Zugang zu ihr zu finden, ja ihr manchmal vielleicht sogar zu vergeben, wurde sein Körper stärker und stärker. „Mein Schmerz belastet mich nicht mehr so stark. Es ist wirklich ein Wunder, daß ich nach all den Jahren Freundschaft mit mir selbst geschlossen habe. Meine Lebensfreude ist jetzt größer als jemals zuvor. Und ich glaube daran, daß ich leben werde.“

Inzwischen sind seit seiner Remission zwei Jahre vergangen, und er bekennt, daß ihm der Krebs seine Angst vor Augen geführt und ihn mit allem in Berührung gebracht habe, „was ich in mir selbst verloren hatte“. Er lehrte ihn, sich selbst zu finden. „Mit dem Krebs fing für mich eine Heilung an, die nie aufhören wird.“

Viele Patienten in Krankenhäusern haben uns erzählt, daß ihre Erschöpfung und ihre Krankheit sie äußerst sensibel für ihre Umgebung gemacht habe - jedes Geräusch, jeder Geruch, jedes Wort sei durch ihre zarten und empfindlichen äußeren Schalen gedrungen. Die Krankheit hatte sie verwundbar und achtsam gemacht. Viele sagten, sie hätten bei allen Leuten, die während des Tages in ihr Zimmer gekommen waren - Hospizmitarbeiter, Ärzte, Schwestern, Verwandte oder Freunde - deutlich gespürt, ob sie ihnen Kraft gegeben oder Kraft genommen hatten. Bei manchen fühlte sich der Patient nach dem Besuch wohler, zuversichtlicher und gefestigter. Bei anderen fühlte er sich anschließend körperlich unausgeglichen, angespannt und schonungsbedürftig, und war verwirrt darüber, „wie das nun eigentlich gemeint war“. Diese Erfahrungen zeigen, daß diese Patienten vermutlich spüren konnten, ob man ihrem Schmerz mit Angst oder aber mit Liebe begegnet war.

Eine Krankenhauspatientin, die unter beträchtlichen Schmerzen litt, erzählte uns, daß es ihrem Gefühl nach zwei Arten von Leuten gebe, die in ihr Zimmer kämen. Sie würde es bemerken, daß sich Leute von der einen Art nur widerstrebend an ihr Bett setzten, „auf ihrem Hinterteil hin und herrutschen“ würden und kaum einen Moment stillsitzen könnten. „Sie lockern mir das Haar, tragen mir Lippenstift auf oder blättern meine Zeitschriften durch. Sie gehen zum Fenster, öffnen es, wenn es geschlossen war, und schließen es, wenn es offenstand. Aber sie können es nicht lange bei meinem Schmerz aushalten.“ Sie sagte, sie hätten in ihrem Herzen keinen Platz für ihren Schmerz, denn sie hätten dort auch keinen Platz für ihren eigenen. „Aber da waren auch die anderen“, sagte sie, „die einfach hereinkommen und sich zu mir setzen konnten. Und wenn ich an diesem Tag sehr starke Schmerzen hatte oder so zappelig war, daß ich es noch nicht mal ertragen konnte, berührt zu werden, dann saßen sie einfach still neben mir. Sie mußten mir nicht unbedingt irgendetwas geben oder selbst irgendetwas bekommen. Sie mußten mich nicht von meinen Schmerzen befreien, doch sie gaben mir auch nicht das Gefühl, daß ich mich anders verhalten müsse, wenn ich Schmerzen hatte. Sie waren offen für meinen Schmerz, weil sie auch offen für ihren eigenen waren.“

Was diese Frau von den Menschen zu spüren bekam, die es nur schwer bei ihr aushielten, war Mitleid. Mitleid entsteht, wenn wir Angst vor Schmerzen haben. Es veranlaßt uns, die Wirklichkeit des Augenblicks verändern zu wollen: „Ich will, daß du keine Schmerzen mehr hast, weil ich auch keine Schmerzen haben will.“ Mitleid kann eine sehr selbstorientierte Emotion sein, die sehr bedrükkend und unangenehm ist. Mitleid vermittelt ein Gefühl der Notlage. Wenn es sich auf den eigenen Schmerz richtet, erzeugt es aufgrund seiner „Ich-und-die-anderen“-Mentalität ein Gefühl der Isolation - einen der widersinnigen Kriege zwischen Verstand und Körper, die eine Krankheit zuspitzen können. Aber wenn wir jenem Schmerz Raum geben, wenn wir ihm mit Liebe und Barmherzigkeit begegnen statt mit Angst oder Haß, dann ist dies Mitgefühl. Wenn ich meinen eigenen Schmerz oder den eines anderen in einer ruhigen Erforschung des Augenblicks akzeptieren und jedes Gefühl von Bedrängnis oder Sorge vorbehaltlos beobachten kann, dann scheint die Verzweiflung, die uns bei einer problematischen Heilung oft überkommt, ihren Einfluß zu verlieren. Vielleicht erweist sich sogar die Angst nur als eine Seifenblase, die wie eine Wolke an uns vorüberschwebt - die Verzweiflung zerrinnt, Barmherzigkeit und heilende Bewußtheit breiten sich aus.

Wenn wir unserer gewohnten Konditionierung zur Überwindung des Schmerzes folgen, werden wir uns nur allzu leicht überwältigt fühlen, wenn die Dinge nicht nach unseren Wünschen laufen. Vielleicht haben wir sogar das Bedürfnis, den Schmerz eines anderen zu „bezwingen“. Es wird uns schwerfallen, mit einer Person einfach dort in Verbindung zu treten, wo sie gerade steht. Wir werden nicht fähig sein, sie mit unserer Liebe zu berühren, denn wenn wir irgendetwas von ihr wollen, und sei es nur, daß sie frei von Schmerzen ist, dann wird diese Person eher zu einem Objekt unseres Verstandes als zum Subjekt unseres Herzens. Wenn wir uns unserem eigenen Schmerz öffnen und unsere tief eingeprägten Widerstände und Aversionen erforschen können, dann erschließt sich uns die Möglichkeit, dem Schmerz des anderen voller Mitgefühl zu begegnen und ihm wie auch uns selbst mit klarerem Blick und tieferer Güte gegenüberzutreten. Wir erkennen bei diesen Gelegenheiten, daß die Arbeit an uns selbst eindeutig für alle fühlenden Wesen von Nutzen ist. Jeder, der sich um die Öffnung seines Herzens bemüht, kommuniziert mit den Herzen aller Menschen. Wenn wir einem Problem keine Nahrung mehr geben, unterstützen wir damit seine Lösung. Wir entdecken jeden Tag aufs neue, daß die Heilung, die wir uns selbst erschließen, eine Heilung für alle ist.

Wir arbeiteten mit Hazel, einer Frau, die in einem sehr angespannten Zustand ins Krankenhaus gekommen war. Sie war eine äußerst schwierige Patientin. Die Schwestern nannten sie einen „Satansbraten auf Rädern“. Kaum jemand wollte mit ihr zusammensein. Ärzte und Pfleger erzählten, daß sie immer, wenn sie auf Hazels Klingeln bei ihr erschienen, mit gehässigen Bemerkungen und üblen Schimpfworten empfangen wurden. Und so dauerte es von Mal zu Mal natürlich immer länger, bis jemand auf ihr Klingeln reagierte. Ihr ganzes Leben hatte sie darum gekämpft, alles zu kontrollieren. Kaum einmal hatte sie den Gang der Dinge einfach akzeptiert. Alles, was sie nicht wollte oder haben konnte, wurde verdammt und aus ihrem Herzen verstoßen. Fieberhaft griff sie nach allem, was sie bekommen konnte. Und so lag sie nun in ihrem einsamen Sterbebett und litt große Schmerzen. Sie hatte über so viele Menschen so oft ihr Urteil gefällt, daß nicht einmal ihre eigenen erwachsenen Kinder zu Besuch kamen. Ihr Zorn und ihre Verzweiflung waren zum Beispiel einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung geworden.

Sechs Wochen lang nahmen ihre Isolation und ihr Schmerz ständig zu, bis eines Nachts eine Veränderung eintrat. Sie erreichte ein Stadium, in dem sie den Schmerz in ihrem Rücken und in ihren Beinen, vielleicht aber auch das Leid ihres ungelebten Lebens nicht länger ertragen konnte. Um vier Uhr morgens, als sie das Gefühl hatte, „die Wände hochgehen“ zu können, zog inmitten der pulsierenden Schmerzen ihr ganzes Leben an ihr vorüber. Mit einem Male war ihr klar geworden, wie sehr ihre heftigen Schmerzen, ihr Gefühl von Trostlosigkeit und Einsamkeit mit ihrer intensiven Verklammerung in Verbindung standen. Sie erkannte, daß das große Maß an Leid, das sie anderen in ihrem Leben zugefügt hatte, auf ihrem Sterbelager zu ihr zurückgekehrt war. Ihr blieb kein Ausweg. Noch nie war sie so einsam und hilflos gewesen. Im Gefühl ihres nahen Todes dachte sie an ihre Jugendzeit zurück, in der sie so lebenshungrig und weltoffen gewesen war. Sie erkannte, daß sie sich im Verlauf der Jahre immer mehr verschlossen hatte. Mit einem tiefen Seufzer ließ sie sich in all ihre Hilflosigkeit versinken. Entkräftet und unfähig zu weiterem Kampf, wie sie war, ergab sie sich, löste ihre Verklammerung und „starb in ihr Leben hinein“, in den Augenblick. Sie ließ in den Schmerz hinein los, der in ihrem Rücken und in ihren Beinen wütete, und begann jenseits aller Vernunft zu fühlen, daß sie in ihrem Schmerz nicht allein war. Sie spürte etwas, das sie später „die Zehntausend Leidenden“ nannte. Sie begann eine Empfindung für all die anderen Wesen zu spüren, die in diesem Moment ebenso wie sie im Todeskampf lagen. Zuerst erlebte sie sich selbst als eine dunkelhäutige, ausgezehrte Frau mit erschlafften Brüsten, die kraftlos am Boden liegt und ein verhungerndes Baby hält, dem sie keine Milch mehr geben kann. Für einen Augenblick war sie diese äthiopische Frau, die sich unter denselben Schmerzen im Rücken und in den Beinen krümmte wie sie selbst, und sterbend auf dem schlammigen Boden lag. Dann erfuhr sie sich als Eskimo-Frau, die an der Geburt ihres Kindes sterben muß und mit ungeheuren Schmerzen im Rücken, in den Beinen und Hüften auf ihrem Lager kauert und denselben Tod erlebt wie sie. Dann verwandelte sich ihr Körper in den einer Frau, die, mit gebrochenen Beinen und Rückenwirbeln in einem zerbeulten Autowrack eingeklemmt, am Rande einer verlassenen Straße ihren langsamen, einsamen Tod erleidet.

Bild für Bild der „Zehntausend Leidenden“ zog an ihr vorbei. Sie erlebte sich als einen jungen Mann mit gelb verfärbter Haut, der sich in einer Junkie-Wohnung auf einer schmutzigen Matratze zusammengekauert hat und an Hepatitis zugrunde geht - und als alte, blaßgesichtige Frau, die an Alterschwäche stirbt. Immer wieder war es der gleiche Schmerz im unteren Rücken und in den Beinen. Sie sah sich als eine Frau, deren unterer Rückenbereich von einem herabstürzenden Felsen zerschmettert wurde, und die allein und bar jedes menschlichen Beistands am Ufer eines Flusses liegt und stirbt. Sie sah sich als asiatische Mutter eines kranken Kindes in einer strohgedeckten Hütte an Cholera sterben. Jeder dieser Tode war ihr eigener Tod. Sie erlebte „die Zehntausend Leidenden gleichzeitig“.

In dieser Stunde größter Qual war etwas in ihr entstanden, das sie mit dem gewaltigen Maß an Leiden verband, an dem sie in diesem Moment teilhatte. „Der Schmerz war nicht mehr zu ertragen. Ich konnte das alles nicht mehr aushalten, und irgendetwas in mir zerbrach. Vielleicht war es mein Herz. Aber ich wußte plötzlich, es war nicht einfach mein Schmerz, es war der Schmerz. Es war nicht einfach mein Leben, es war alles Leben. Es war das Leben selbst.“ In den Tagen, die auf diese außergewöhnliche Erfahrung folgten, öffnete sich Hazels Herz mehr und mehr für all die anderen Patienten, die unter Schmerzen im Krankenhaus lagen. Ständig fragte sie nach ihnen. Während der folgenden Wochen verinnerlichte sie die Erfahrung, die in ihr aufgebrochen war, noch weiter. Sie schritt über sich selbst hinaus. Und ihr Zimmer wurde zu einem Ort, den die Schwestern in ihren Pausen gerne aufsuchten, weil es zu einem Raum der Liebe geworden war. Auch ihre Kinder, die ihre Herzlichkeit und Hingabe am Telefon gespürt hatten, kamen nun zu Besuch und erfüllten ihre Bitte um Verzeihung. Am Rand des Bettes saßen ihre Enkelkinder, die sie vorher nie gesehen hatte - Herzen, die sie abgewiesen hatte, bevor sie geboren wurden. Ihr Zimmer wurde zu einem Raum der Heilung, der bereinigten Geschäfte, der allumfassenden Achtsamkeit. Ein paar Wochen später, wenige Tage vor ihrem Tod, brachte ihr jemand ein Bild von Jesus, das Ihn als guten Hirten inmitten einer Schar von Kindern und Tieren zeigte. Und diese Frau, deren Leben von so viel Hartherzigkeit und Isolation geprägt gewesen war, betrachtete das Bild und sagte mit brechender Stimme: „Ach Jesus, hab’ Erbarmen mit ihnen, vergib ihnen, es sind nur Kinder.“ Hazels Heilung war eine der erstaunlichsten, die wir je erlebt haben.

Wenn sie auch nicht in ihrem Körper blieb, hatte sie uns doch vor Augen geführt, was eine tiefe und umfassende Heilung bedeutet. Sie hatte uns gezeigt, wie weit sich ein verschlossenes Herz öffnen kann, wie sehr ein Mensch in seiner Weisheit und in seiner Teilhabe am Leben wachsen kann.

Wir konnten aus Hazels Beispiel wieder einmal lernen, daß wirkliche Heilung das Herz mindestens ebenso umfaßt wie den Körper - daß wir alle zuvor aufgestellten Definitionen von Heilung aufgeben mußten, um ihre tiefere Bedeutung erahnen zu können.

Uns wurde allmählich klar, daß wir auch nicht den leisesten Begriff davon hatten, was Heilung bedeutet. Offensichtlich war Heilung nicht darauf beschränkt, die Disposition des Körpers zu verändern. Ondrea und ich mußten unserem „Nichtwissen“ vertrauen, wenn wir in unserem eigenen Lebensprozeß - in der Essenz von Geist, Körper und Herz, die wir alle miteinander teilen - forschen und vielleicht sogar herausfinden wollten, was Heilung bedeutet.

Hazel lehrte uns, daß die tiefgreifendste Heilung nicht isoliert zur Wirkung kommen kann. Sie muß sich auf die Gesamtheit auswirken, auf den Schmerz, den wir alle miteinander teilen. Der Wesenskern der Heilung birgt ein Gefühl für die Universalität, die dem Abgesonderten, dem Persönlichen innewohnt. Wir stellten immer wieder fest, daß diejenigen, deren Körper zu gesunden schien, bereit dazu waren, nicht nur die Schmerzen des Augenblicks, sondern auch das Leid ihres ganzen Lebens sanft und klaren Blickes zu erforschen. Wir beobachteten, daß sich die Heilung ihres Herzens und ihres Geistes weiter vertiefte, wie ihre Fähigkeit wuchs, sich einstmals beklemmenden und schreckensvollen Erfahrungen voller Erbarmen zu nähern. Sie lernten es, ihr Herz für etwas zu öffnen, das sie während eines ganzen Lebens aus ihm verbannt hatten. Ihre Heilung schien ein Prozeß zu sein, bei dem sie die Wirklichkeit des Lebens akzeptierten. Ihr Umgang mit der Krankheit, mochte er sich auch manchmal äußerst problematisch gestalten, ergab eher das Bild einer Pilgerschaft des Vertrauens und der Einsicht als eines Flüchtlingstromes. Die Erforschung der Krankheit hatte den uralten, selbstgeschaffenen Kerker, die Gefängniszelle der Angst und des Widerwillens zerfallen lassen, die wir offenbar unter Umständen für ein Krankenhauszimmer einzutauschen bereit sind.

Natürlich sprechen wir hier niemals von der Angst anderer. Es geht nicht um „andere Menschen“, sondern stets um einen Gesichtspunkt unser selbst. Es gibt keine „anderen“, sondern nur erweiterte Aspekte unseres inneren Lebens. Es sind nicht die Fluchtversuche eines anderen Menschen. Wir alle haben uns bemüht, vorbildliche Gefangene zu sein, und unser Schmerz kennzeichnet unsere stumme Verzweiflung. Jeder von uns ist in die Falle der Verhaftung getappt. Wir ähneln ein wenig dem Urwaldaffen, der sich leicht einfangen läßt, wenn man nur eine Bananenstaude mit einer Kette an einem Baum befestigt. Der Affe grabscht ungestüm nach der Bananenstaude, versucht sie vom Baum zu winden, kreischt auf, wenn er den Jäger nahen hört und brüllt, wenn er getötet wird. Es kommt ihm gar nicht in den Sinn, daß er vielleicht nur loszulassen braucht, um wieder in die sichere Freiheit zu gelangen. Es fällt stets leichter, diese mißliche Lage bei einem anderen zu erkennen, als bei sich selbst. Es ist schwierig, die eigene Verklammerung, die eigene Angst vor dem Schmerz, das eigene Mißtrauen in den Augenblick anzuerkennen. Wir bilden uns ein, wir müßten viel eher Resultate erzwingen, müßten uns eher einen Weg zur Freiheit bahnen, als den Grund unter unseren Füßen zu entdecken. Doch wenn wir nur einen einzigen Schritt machen und dem Augenblick vertrauen, werden wir gewahr, daß ein vollständig ausgeführter Schritt mühelos zum nächsten führt. Wenn wir an diesem Moment gänzlich teilhaben, wird der nächste Moment selbst für sich sorgen.

In den Jahren, die seit Hazels einzigartiger Heilung vergangen sind, haben wir oftmals unsere eigenen körperlichen Schmerzen und Krankheiten als Mittel gebraucht, um das Universale im scheinbar Abgesonderten, Persönlichen zu erkennen. Gleichfalls haben wir auch andere dazu ermutigt. Diese Entdeckung des Makrokosmos im Mikrokosmos bietet ein großes Potential der Heilung. Die Erkenntnis, daß ich nicht einfach meinen Schmerz, sondern den Schmerz empfinde, dehnt das Wirkungsfeld der Heilung so weit aus, daß es die ganze Welt umfaßt.

Bei Hazel, die in ihrem Sterben für alle Kinder um Erbarmen bat, war eine großartige Heilung möglich. Die Verfassung ihres Körpers änderte sich nicht, wohl aber die ihres Herzens. Sie lernte es, sich ihrem Schmerz mit Erbarmen zu nähern statt mit Angst. Erbarmen ist das Gegenteil von Bewertung. Es ist die geistige Anteilnahme, welche die Weiträumigkeit des Herzens widerspiegelt. Wir gebrauchen den Ausdruck „Erbarmen“ hier allerdings nicht im Kontext der Bitte um göttliche Gnade, sondern als ein Charakteristikum der Friedfertigkeit, der Güte. Ebenso wie liebevolle Anteilnahme ist das Erbarmen eine Eigenschaft des Geistes, die sich an der unverhafteten Natur des Herzens orientiert.

In den Augenblicken, in denen Hazel all diese anderen Identitäten in sich erlebte, die untrennbarer Bestandteil ihrer Erfahrung wurden, verringerte sich ihr Schmerz, und der Raum, in dem er dahinfloß, weitete sich erheblich aus. Der Schmerz war nicht etwa verschwunden, aber er hatte sich von einem Problem in eine Erfahrung verwandelt.

Sie hatte gelernt, daß der Schmerz nicht einfach ihr eigener Schmerz war, sondern von allen empfunden wird, die in dieser Welt leben. In tiefer Hingabe, im Teilen ihres Schmerzes und ihres Körpers schritt sie über ihr altes Selbstbild eines isolierten Wesen hinaus. Diese Erfahrung ließ ihr eine innere Freiheit zuteil werden, die dem Leben und auch dem Tod Raum bieten konnte.

Während wir an den Erfahrungen von Menschen wie Hazel teilhatten, begannen wir die natürliche Kraft im Kern solcher Heilungen zu spüren. Wir lernten, was es heißt, die Geschäfte mit sich selbst und allen anderen zu bereinigen, an der ganzen Wirklichkeit des Augenblicks teilzuhaben, in klarer Bewußtheit positive wie negative Erfahrungen zu erforschen und sich Schritt für Schritt der wahren Herzensfülle des eigenen Wesens zu nähern. Wir lernten die Heilung kennen, die sich jenseits aller Beschreibungen und jenseits des zwanghaften Bedürfnisses vollzieht, den grenzenlosen Raum in einen kleinen Gedanken zu pressen und ein weiteres Etikett für etwas zu prägen, das letztlich unermeßlich ist.

Wie an jedem anderen Tag wachen wir auch heute

leer und furchtsam auf. Laßt uns nicht die Tür

des Studierzimmers öffnen, um zu lesen.

Greifen wir doch zur Zimbel.

Laßt unser Tun so sein wie die Schönheit, die wir lieben.

Auf hunderterlei Art können wir niederknien und den Boden küssen.

Rumi


Sein lassen

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