Читать книгу Sein lassen - Stephen Levine - Страница 13

KAPITEL 5 Das Ungeheilte erkennen

Оглавление

Wenn man bedenkt, wie vieles in unserem Leben nicht ausgelebt wird und wie viele ungelöste Probleme den meisten bleiben, kann es nicht überraschen, wie schwer manchen von uns das Sterben fällt. So sind Ondrea und ich in all den Jahren der Arbeit mit todkranken Menschen immer wieder auf ein sehr ergreifendes Phänomen gestoßen. Betroffen erlebten wir, daß viele Menschen nur allzu bereit waren, aus dieser Welt zu scheiden, daß viele so enttäuscht und des Lebens so müde waren, daß sie „nur noch sterben und alles hinter sich haben“ wollten. Vielen erschien das Leben unerträglich. Unsere heutigen Lebensumstände machen es sicherlich oftmals verständlich, daß wir die Verhaftungen eines ganzen Lebens im Augenblick des Todes nicht einfach aufgeben können. Indessen hat dieser lebensverneinende Hang zu beständigem Rückzug unsere Aufmerksamkeit auf die zahlreichen Lebensaspekte gelenkt, welche diese Menschen ungeheilt hinter sich zurückließen.

Wenn wir von den Tendenzen sprechen, den Schmerzen des Lebens auszuweichen, sprechen wir eindeutig nie von anderen Personen, sondern immer von einem Zustand, der in jedem von uns existiert. Und da dieser innere Drang zur Flucht selbst die oberflächlichste Heilung zu erschweren scheint, müssen wir uns selbst ebenso mit ihm auseinandersetzen wie all jene, die Heilung finden wollen.

Weil wir spürten, wie wichtig die Erforschung der Barrieren ist, die das Leben eingrenzen und vielleicht sogar unseren Zugang zur Krankheit blockieren, stellten wir jeden neuen Patienten vor eine Aufgabe: Stelle Dir einmal vor, Du gehst heute zum Arzt und erfährst von ihm, daß Du nur noch ein halbes Jahr zu leben hast. Anschließend bittet man Dich, ein großes Blatt Papier zu nehmen, in zwei Spalten zu unterteilen und in die linke Spalte all die Gründe hineinzuschreiben, um derentwillen Du noch weiterleben möchtest. Sicherlich fallen Dir dabei Hunderte von Dingen ein - Dein Interesse an der Welt, die Liebe zu Deiner Familie und zu Deinen Freunden, Dein Verlangen nach neuen Erfahrungen, Dein Wunsch nach einer Erfüllung alter Träume und nach der Zerstreuung alter Alpträume, das Verlangen nach dem Genuß dieser ungemein schönen, vielfach glitzernden Lebenssphäre. Du möchtest die Enkelkinder noch erleben, Deine Kenntnisse erweitern, weitere Liebesabenteuer auskosten, neue Bekanntschaften machen, weitere Projekte verwirklichen und noch oft in die leuchtenden Augen alter Freunde schauen. All diese Gründe würdest Du in die A-Spalte eintragen, welche die Überschrift trägt: „Warum ich am Leben bleiben möchte.“ Nun bittet man Dich, zur rechten Spalte zu gehen und dort alle Gründe aufzuzählen, um derentwillen Du in irgendeiner Weise Erleichterung verspüren würdest, wenn man Dich mit der Todesprognose konfrontiert - mögen diese Gründe auch noch so irreal und unbegreiflich anmuten. Was würde Dir dazu einfallen? Was könnte ein Grund dafür sein, daß Dir die Aussicht auf das Sterben nicht allzu unangenehm erscheint? Führe nicht die Liebe zu Gott oder Dein Vertrauen in den Gesamtprozeß an, sondern Deine Widerstände gegen das Leben, all die Umstände, denen gegenüber der Tod eine akzeptable Alternative wäre. Schreibe dies alles in die Spalte B und gib ihr die Überschrift: „Warum ich nichts gegen das Sterben hätte.“

Was fiele Dir wohl ein, wenn man Dich fragte, warum Dir der Tod nichts ausmachen würde? Was könntest Du in Dir selbst entdecken? Weshalb hättest Du nichts dagegen, diese Welt zu verlassen? Welcher Grad von Lebensüberdruß, von Erschöpfung, von Trauer, von Verwirrung, von Angst, von Schmerz, von Unfertigkeit, von Verlassenheit, von Hilflosigkeit und von Hoffnungslosigkeit würde in der rechten Spalte zum Ausdruck kommen?

Wir investieren einen Großteil unserer Energie in das Bemühen, uns an Spalte A zu klammern, unsere Hochgefühle zu untermauern und unser Verlangen nach Resignation zu verdrängen. Und immer wieder stehen wir verwundert vor der Tatsache, daß wir nicht so richtig schmecken und riechen, nicht so richtig berühren, sehen und fühlen können. Wir sind schockiert, wenn wir schließlich erkennen, daß vieles von dem, was wir „Leben“ nannten, nur eine nachträgliche Reflexion des Lebens war - daß wir unser Leben nur in den Gedanken, aber nicht in der Wirklichkeit gelebt haben. Wir haben das Leben zu einem Kampf und zu einer Zwangslage gemacht, statt uns seinem Strom zu öffnen. Und indem wir darum kämpfen, in Spalte A zu bleiben, werden wir nur noch tiefer in die Spalte B hineingezogen. Vielleicht besteht unser größter Schmerz darin, daß wir den Schmerz einfach nicht akzeptieren wollen. Die Märchenzeile „…und sie lebten glücklich bis an ihr Lebensende“ infiziert unsere Pläne, verschleiert und abstrahiert unser Leben. Wir halten ständig außerhalb unser selbst nach dem Glück Ausschau und sind ständig von äußeren Voraussetzungen abhängig, um Freude empfinden zu können. Wir hadern mit dem Gefühl der Hoffnungslosigkeit und des schwelenden Grolls, in dem wir uns immer wieder verkapseln. Erwartungsvoll harren wir auf den nächsten Augenblick, anstatt ihn einfach zu leben.

Während unseres ganzen Lebens geben wir der linken Spalte Nahrung und fördern den Aspekt in uns, der „am Leben bleiben“ möchte. Es ist fast so, als würden wir - wie ich es in meinem Sommerurlaub getan habe - an einem Aufsatz schreiben, der detailliert aufzeigen soll, weshalb wir das Leben so schätzen, welcher Durst zu stillen, welcher Hunger zu sättigen und welche Verlangen zu befriedigen sind. Vielleicht fällt uns dabei auf, daß es gerade unsere Unfähigkeit ist, diesen Verlangen dauerhaft Genüge zu tun oder unseren Durst für immer zu stillen, aus der die Apathie und Frustration resultiert, die in der Spalte B Zeile um Zeile füllt. Wir mögen in dieser Spalte zwar einige gute Gründe finden, um derentwillen uns das Leben „ein bißchen zu viel“ geworden ist. Aber gerade sie definieren wahrscheinlich auch unsere Widerstände gegen eine Heilung. Es mag sogar sein, daß die Einstellungen in Spalte B die Krankheit auf irgendeine Weise entschuldigen wollen und sie eigentlich für ganz gerechtfertigt halten.

Vielleicht ist es diese Spannung zwischen den Polen der Begierde und der Verzweiflung, aus der die tiefe Erschöpfung stammt, die unsere Heilung einschränkt. Wenn wir Spalte A und Spalte B genau untersuchen, können wir fast den Konflikt zwischen rationalem Geist und Körper erkennen - zwischen dem Wunschbild unser selbst und der drohenden Lebenswirklichkeit. In diesem Niemandsland zwischen Spalte A und Spalte B, zwischen Geist und Körper, zeichnet sich das Ungeheilte scharf ab. In diese dämmerige Kluft hinein wird unser Herz als Vermittler gerufen - jenes Herz, das Jung als „den Ort des Zusammentreffens der Gegensätze“ definiert. Es ist der Ort, an dem wir die heilende Kraft des Gewahrseins und des Erbarmens dankbar anerkennen.

Nur selten erforschen wir die Spalte B. Selten können wir uns selbst voll und ganz akzeptieren. Vieles in uns schieben wir einfach beiseite. Schließen wir uns etwa selbst in die Arme und wiegen uns zärtlich hin und her, wenn wir Angst, Schuldbewußtsein und Selbstverachtung in uns fühlen? Behandeln wir uns selbst so, wie wir unser einziges Kind behandeln würden? Begegnen wir unserem Schmerz nicht vielmehr so ablehnend, feindselig und stur, daß ein Teil von uns immer unerforscht und ungeheilt bleiben muß?

Wie begegnen wir dem Schmerz, wenn wir uns beim Bilderaufhängen versehentlich mit dem Hammer auf den Daumen schlagen oder beim Durchqueren des Zimmers irgendwo mit der Zehe anstoßen? Nähern wir uns ihm liebevoll oder widerwillig und aggressiv? Wenn wir unsere Reaktionen beobachten, wird uns auffallen, wie oft wir dem Schmerz ganz automatisch mit Wut oder gar Haß begegnen. Wir erkennen den engen Spielraum unserer Konditionierung. Ausgerechnet wenn wir unser eigenes Mitgefühl am meisten brauchen, ist von ihm am wenigsten vorhanden. Wo verbirgt sich die edle Güte, die zwar potentiell vorhanden ist, die wir aber so selten in uns erwecken? Wo treffen wir sie an? Wie soll es uns jemals gelingen, unsere Heilung anzunehmen, wenn wir bedenken, wie sehr wir von unserer Fixierung auf die Flucht vor dem Schmerz, auf den Sieg über den inneren Feind beherrscht werden? Sind wir denn fähig, uns dem Schmerz mit einer neuen Sanftmut zu öffnen, statt ihm mit der altgewohnten Härte und Ablehnung zu begegnen? Können wir uns überhaupt erbarmungsvoll für etwas öffnen, das wir immer wieder unerbittlich verdammt und dem wir eine Daseinsberechtigung fast abgesprochen haben?

Wir haben festgestellt, daß viele Menschen allmählich in ihr Leben zurückfanden, indem sie die Wesensmerkmale ihrer selbst erkundeten, die den Tod eventuell höher einschätzten als das Leben. Wenn wir dem Überdruß, dem Selbstzweifel, der Verwirrung und dem beharrlichen Bewertungsstreben auf den Grund gehen, erkennen wir, daß sich der rationale Geist in diesen Zuständen oft gerne selbst ausschalten würde. Seine heftige Reaktion auf alles Unangenehme verdeutlicht auch seine Beziehung zu körperlichem Unbehagen, die sich in vernichtender Ablehnung äußert, in dem Wunsch, sich von der eigenen Existenz wie auch von aller Erfahrung zu befreien - in der Essenz von Spalte B. Wenn wir das Wesen der Verklammerung des rationalen Geistes an seinem Leiden erkennen, beginnen wir loszulassen und den Schmerz eines ganzen Lebens voller Mitgefühl zu betrachten, so daß nichts die Lösung alter Konflikte beeinträchtigen oder unsere natürliche Heilung blockieren kann.

Unsere Heilung vertieft sich, wenn uns bewußt wird, daß wir uns diesen Konflikten und Schmerzen mit einer neuen Sanftheit, mit einem innigeren Erbarmen nähern müssen. Daß wir aus einem weitherzigen Gefühl der Vergebung heraus zu akzeptieren haben, daß diese Wirrnisse existieren, obwohl wir unseren Rückzug aus dem Leben, der sich in Spalte B niederschlägt, nicht „freiwillig“ vollziehen. Er resultiert aus den Reaktionen des unerforschten Geistes auf die Gefühle der Panik und Hilflosigkeit, die so oft in unserem Leben in Erscheinung treten und uns scheinbar keinen Ausweg lassen.

Hinsichtlich der Spalte B oder der Konflikte, die auf subtile Weise im Geist und vielleicht sogar unter der Schwelle unseres normalen Gewahrseins im Widerstreit liegen, können wir wahrlich nicht von Schuld sprechen. Wir brauchen sie nicht zu bewerten. Wir sollten sie einfach nur erkennen. Schuldgefühle führen uns nur vor Augen, mit welcher Unbarmherzigkeit, Unwilligkeit und Angst wir unserem Schmerz begegnen.

Wie können wir aber zur Heilung und Ganzheit finden, solange wir jene Komponenten unseres Lebens, die wir für inakzeptabel oder sogar verachtenswert halten, noch aus unserem Herzen verbannen? Wir sind durchaus imstande, den Geist sanft und behutsam zu durchforschen und die Wesensmerkmale, die uns immer wieder blind für jede Heilung machten, ein wenig mitfühlender, verständnisvoller und optimistischer zu betrachten. Wir sollten uns nicht immer wieder von denselben alten Mechanismen überrumpeln lassen, sondern Ängste und Zweifel mit einem humorvollen „Ahaaa!“ beherzt zur Kenntnis nehmen - auch wenn sie uns schon nicht mehr in echtes Erstaunen versetzen können. Was wir in tiefer Selbsterforschung ans Licht gebracht haben, kann uns nicht mehr überraschen. Die „Top-Charts“ des rationalen Geistes, seine altbekannten „Hits des Jahrhunderts“, die ständigen Wiederaufführungen der schmerzvollen Sehnsüchte, die uns immer wieder ergriffen haben, solange wir zurückdenken können, versetzen uns nicht mehr in Erstaunen.

Auch hier geht es uns nicht um die Heilung anderer, sondern um unsere eigene Heilung. Frei von jeder Selbstanklage finden wir uns inmitten unserer eigenen schmerzvollen Wirklichkeit wieder - absolute Anfänger, die sich Schritt für Schritt vorwärtstasten, um eine Heilung zu finden, die so tief ist wie unsere Verklammerung, so tief wie unser Schmerz.

Unsere Heilung und Ganzheit setzt nicht einmal eine Veränderung voraus. Es geht weniger um Veränderung als vielmehr um mitfühlende Offenheit. Wir müssen nicht einmal unseren Zorn, unsere Ängste und unsere Zweifel reduzieren. Wir müssen auch nicht liebevoller, mitleidsvoller oder weiser werden. Um heil und ganz zu sein, müssen wir uns nur von ganzem Herzen selbst annehmen und auch unserer Lieblosigkeit, unserer Erbarmungslosigkeit mit einem tiefen „Ahaaa!“ begegnen.

Es mag so klingen, als wäre es einfach zu schön, um wahr zu sein, daß wir nichts anderes tun müssen, als den Augenblick voller Güte anzuerkennen. Aber wir sind nicht so weit von unserer Heilung entfernt, wie wir glauben. Im Licht des klaren Gewahrseins können wir alles meistern, auch unsere Schmerzen und Ängste. Wenn wir uns der tiefen Selbsterforschung widmen, tritt die Heilung schon mit der Ausbreitung des Gewahrseins ein. Und alles beginnt sich ganz von selbst zu ordnen. Eine tiefe Heilung tritt ein - wir erkennen, daß uns „überhaupt nichts Besseres passieren konnte“.

Im I Ging, dem chinesischen Weisheitsbuch, wird im Hexagramm „Das Heer“ ausgesagt: „Man kann den Feind nicht überwinden, solange man sich nicht von der Verachtung befreit, mit der man den anderen straft.“ Dieser „andere“, das sind wir sehr oft selbst. Aber auch hier kann man das Wesentliche leicht übersehen, denn wir müssen uns nicht von irgendetwas befreien, um heil und ganz zu sein. Wir brauchen nichts weiter zu tun, als alles, was bereits vorhanden ist, mitfühlend und bewußt zu akzeptieren und zur Entfaltung kommen zu lassen. Gewahrsein heilt.

Heil und ganz zu sein heißt, sich der Veränderung zu öffnen, nicht sie zu erzwingen. Manchen mag sich dies in ihrem Glauben an Gott offenbaren, anderen durch das Vertrauen in den Lebensprozeß. Veränderung entsteht nicht so, wie wir es uns vorstellen, sondern ganz von allein. Gerade weil wir so oft auf Veränderung drängen, bleibt alles gleich, und unser Gefühl der Unbewußtheit, Unvollkommenheit und Friedlosigkeit besteht weiter. Vieles von dem, was uns unsere Erziehung vermittelt hat, ist uns zuwider. Unser Egoismus ist uns lästig. Wir fühlen unsere Hilflosigkeit und Verzweiflung, unsere Hartherzigkeit und Verlassenheit sehr deutlich.

Wenn wir uns den Inhalten des Geistes öffnen, und sei es selbst am Punkt unseres intimsten, persönlichsten Schmerzes, haben wir die Möglichkeit, die im wesentlichen unpersönliche Universalität des Prozesses zu erkennen, in dem sich alles entfaltet. Indem wir jeden erfaßten Gedanken wieder loslassen, indem wir sein Erscheinen und Verlöschen auf der Leinwand des Bewußtseins beobachten, beginnen wir wahrzunehmen, wie der Prozeß, der uralte Impuls der Erfahrung, im grenzenlosen Gewahrsein dahinfließt. Schon der flüchtigste Einblick in die unermeßliche Weite, in der alles dahinschwebt, verändert den gesamten Kontext. Wir erleben die Freude der Unendlichkeit unseres Seins. Wir entdecken die Heilung, die immer und ewig vorhanden ist, wenn wir es uns nur gestatten, Zugang zu ihr zu finden.

Unser Leid loszulassen ist die schwerste Arbeit, die uns überhaupt erwarten kann. Aber es ist auch die Arbeit, die am meisten Früchte trägt. Zu heilen heißt, uns selbst in einer neuen Weise anzunehmen - in der Neuheit jedes Augenblicks, in der alles möglich ist, in der die Vergangenheit keine Schranken setzt und in der wir unserer Verklammerungen ohne Verwirrung oder Bewertung gewahr werden. Wenn jeder Moment, mag er Freude oder Schmerz enthalten, sich in der unendlichen Weite unseres Seins verliert, dann erreicht die Heilung eine größere Tiefe, als wir es uns je vorstellen konnten, als wir es uns je erträumt haben.

Diese Lehre der achtsamen und gefühlvollen inneren Öffnung für unser tiefstes Leid ist Teil unserer essentiellen Heilung. Ich erinnere mich lebhaft daran, wie ich vor fünfzehn Jahren nach einem zehntägigen Retreat nach Hause kam und sehr froh darüber war, wieder „in die Welt“ zurückgekehrt zu sein. Ich saß am nächsten Morgen ganz ruhig am Küchentisch, nippte an meiner Teetasse und beobachtete die aufgehende Sonne, als mich ganz plötzlich ein Gefühl der Selbstverachtung überkam. Mein Körper mit seinen 68 Kilogramm schien auf einmal 68 Tonnen zu wiegen. Ich war wie vom Donner gerührt und konnte mich nicht mehr bewegen. Ich war völlig starr vor Überraschung. Noch nie hatte ich so intensiv gespürt, wie gründlich ich mich selbst aus meinem Herzen verbannt hatte. Der Augenblick erfüllte mich mit Angst, und ich dachte: „Oh je, die Meditation hat mir den Verstand geraubt.“ Aber so war es natürlich nicht. Die Vertiefung des Gewahrseins hatte meine Aufmerksamkeit auf den Teil des Geistes gelenkt, der all meine Verzweiflung enthielt, der sich von sich selbst und von allem anderen abgetrennt fühlte. Die Meditation hatte mir tatsächlich den Zugang zu den Bereichen geöffnet, denen ich mich verschlossen hatte. Sie hatte mir den Schmerz bewußt gemacht, der sich tief in mir eingekapselt und mit jedem Moment der Selbstverneinung und der Verdrängung des Schmerzes tiefer in mich eingegraben hatte. Unwillkürlich geriet ich in Panik und rief meinen Meditationslehrer an, von dem ich Trost erwartete und hören wollte, daß ich beileibe nicht so schlecht sei, wie ich dachte. Aber stattdessen sagte er: „Nun setz’ Dich erstmal hin und rieche ein wenig an den Blumen - sie wachsen auf Deinem eigenen Mist. Verdränge diesen Geisteszustand nicht. Du hast durch Deine harte Arbeit jetzt erkannt, wie wenig Platz Du in Deinem Herzen für Dich selbst hast. Ziehe Dich nicht wieder zurück. Gehe in diesen Schmerz mit etwas Neuem hinein - mit Güte und Bewußtheit.“ Ich konnte den lebenslangen Verteidigungsmechanismus in mir erkennen. Und wenn dieser Moment auch überaus schmerzhaft war, so war er doch auch äußerst kostbar. Er leitete eine Periode ein, in der ich mich der Heilung tiefer öffnete als jemals zuvor. Während der nächsten zwei Tage sann ich über die Wesenszüge meiner selbst nach, denen auszuweichen ich mich ein ganzes Leben lang bemüht hatte. Ich unternahm nichts, um mich von dem gewaltigen Maß an Selbstverachtung abzulenken, das da in mir aufgespeichert war. Immer wenn ein Gefühl der Bedrängnis oder Angst in mir aufstieg, flüsterte mein Herz: „Bleibe jetzt nicht stehen, laß die Heilung in Dich ein. Sei barmherzig, sei achtsam.“ Es war der Punkt, an dem sich mir die Liebe zum ersten Mal auf einer tieferen Ebene erschloß - in einem Raum, der über das „Ich“ hinausging, das sich so lange an seine Schutzbedürftigkeit geklammert hatte und um dessentwillen selbst verachtete. Was ich erlebte, mögen manche als „heilsame Krise“ bezeichnen - eine mit dem klaren Erkennen der Wunde verbundene Zuspitzung der schmerzhaften Symptome, eine gründliche Läuterung des Lebensweges, eine Rückkehr ins Leben.

Ein Lehrer wies einmal darauf hin, daß die „Meditation wirklich eine Beleidigung nach den anderen“ sei. Und ein anderer Lehrer führte an: „Solange man Dich beleidigen kann, hast Du etwas zu verbergen.“ Denn das Sein kann nicht beleidigt werden, sondern nur unsere Abhängigkeiten und Krankheiten, unsere Selbsteinschätzungen. Die Anerkennung jener Wesenszüge in uns, die wir nicht akzeptieren, ist Teil der Großen Heilung, die uns zur Ganzheit finden und wirklich fortschreiten läßt, die uns erkennen läßt, daß Wachstum oft schmerzvoll ist.

Sollte ein/e Leser/in dieses Buches den Autor dennoch für jemanden halten, der in seinem Leben auf glatter See dahingesegelt ist, ohne mit den rauhen Wogen des Wachsens und Werdens kämpfen zu müssen, dann sollte ich vielleicht einmal meine Kinder aus ihrem Zimmer herbeirufen, damit sie erzählen können, wie „total daneben“ sie mich manchmal erlebt haben. Inneres Wachstum mag zwar zuweilen große Wirrnisse und Schwierigkeiten mit sich bringen, aber wahrscheinlich kann nichts anderes zu einer wirklich tiefen Befriedigung führen. Nichts kann uns ein solches Gefühl der Vollendung und Ganzheit vermitteln wie die Heimkehr in das eigene Herz.

Dieser Weg der Erkundung beginnt in der Isolation und führt in die Universalität - zur Quelle aller Heilung. Die Erforschung unserer Erfahrung erlaubt uns schließlich das völlige Erleben des Augenblicks. Jedes Ausweichen erübrigt sich. Indem wir mit klarem Gewahrsein und offenem Herzen an allem teilhaben, bleibt nichts, was wir berühren, ungeheilt zurück. All unsere „Geschäfte“ werden in der lebendigen Wahrheit jedes einzelnen Augenblicks ins reine gebracht. Das ist alles, was zu tun ist. Nichts bleibt am Ende verletzt und unvollendet zurück.

Sein lassen

Подняться наверх