Читать книгу Ins All - Stephen Walker - Страница 11

Kapitel 5 Schande und Gefahr

Оглавление

Gut drei Jahre zuvor, am 4. Oktober 1957, nahm Lieutenant Commander Alan Shepard – damals Bereitschaftsoffizier bei den Luftstreitkräften der US Navy und zum Stab der Atlantikflotte gehörend – seine zehnjährige Tochter Laura mit ans Ende ihrer Wohnstraße, der Brandon Road im Vorort Bay Colony von Virginia Beach, und zeigte auf einen leuchtenden Stern, der langsam seine Bahn am Himmel zog.[63] Für Laura war das nichts Ungewöhnliches. Ihr Vater nahm sie oft mit nach draußen, um ihr die Sterne, Planeten und Konstellationen zu erklären. Damals gab es noch keine allgegenwärtige Straßenbeleuchtung, und manchmal, in besonders klaren Nächten, kam es Laura vor, als würden ganze Galaxien von Horizont zu Horizont am Himmel funkeln. Shepard wurde immer sehr lebhaft, wenn er seiner Tochter und manchmal auch ihrer kleinen Schwester Julie und der verwaisten Cousine Alice, die bei der Familie lebte, erzählte, wie die Menschen eines Tages dorthin reisen würden, in diese riesige schwarze Weite. Eines Tages werde eine Zeit kommen, erzählte er den Kindern, in der die Menschen zum Mond und den anderen Planeten im Sonnensystem fliegen würden, und vielleicht sogar zu den Sternen, und sie würden Wunder entdecken, die sich heute noch niemand vorstellen könnte. Und diese Zeit wäre vielleicht weniger fern, als sie dächten.

Bei diesem Stern allerdings lagen die Dinge anders. Zum einen war es noch nicht einmal Nacht; es war Nachmittag, und dennoch war der Stern klar und deutlich zu erkennen. Außerdem war, wie sich Laura erinnert, ihr Vater keineswegs aufgeregt wie sonst in solchen Momenten, er war geradezu »unwirsch«. Und während dieser glitzernde Stern am Himmel seine Bahn zog, verfinsterte sich seine Laune noch mehr. Sie fragte sich, ob sie ihn wohl mit irgendetwas verärgert hatte. Erst später wurde ihr klar, worum es da ging. Ihr Vater regte sich nicht über sie auf. Er war sauer auf die Russen.

Und er war nicht der Einzige. Ein beachtlicher Teil seiner 172 Millionen amerikanischen Landsleute teilte dieses Gefühl. Fast alle waren sie wütend auf die Russen, und nicht bloß wütend, sie waren verängstigt, panisch, schockiert, fassungslos, neidisch, angewidert und ehrlich verblüfft. Denn just jene Russen, ein Volk, das nach landläufiger Ansicht aus hoffnungslos versklavten Kommunisten bestand und doch angeblich so rückständig war, dass sie noch nicht einmal einen funktionierenden Kühlschrank zusammenbauen konnten, eine Nation, die überdies am Ende des Zweiten Weltkriegs, also gerade einmal zwölf Jahre zuvor, rund 27 Millionen Tote zu beklagen gehabt hatte, ein Land, in dem viele Städte noch vom Krieg zerstört waren und die Wirtschaft am Boden lag, hatte es soeben geschafft, den weltweit ersten künstlichen Satelliten ins Weltall zu bringen – und das Schlimmste: Sie hatten es vor den Amerikanern geschafft.

Der Satellit hatte einen Namen, einen, den die sowjetische Presse nach seinem erfolgreichen Start an jenem denkwürdigen Oktobertag alle Welt wissen ließ. Es war ein Sputnik, ein »Reisegefährte« des Planeten Erde, eine auf Hochglanz polierte, unter Druck stehende und 83,6 Kilogramm schwere Aluminiumkugel, die die Erde in elliptischen Bahnen alle 90 Minuten mit einer unvorstellbaren Geschwindigkeit von 27250 Stundenkilometer umkreiste. Manche dieser elliptischen Bahnen führten das Gerät in großer Höhe über weite Teile der Vereinigten Staaten, darunter auch die Straße, in der Alan Shepard zu Hause war. In aller Ruhe schwebte es durch den amerikanischen Himmel, ungestört, unerreichbar – und unaufhaltsam; eine brutal überzeugende und verstörend sichtbare Demonstration sowjetischer technologischer Überlegenheit mitten im Kalten Krieg. Kein Wunder, dass Shepard so sauer war. Und noch schlimmer: Kaum hatte dieser Sputnik seine Umlaufbahn erreicht, hatte die Kugel vier Antennen ausgefahren, und zwei Funksender an Bord hatten begonnen, ein andauerndes und verstörendes, piependes Signal an jeden auf der Erde zu senden, der das geeignete Empfangsgerät zur Verfügung hatte. Wie es schien, hatten die sowjetischen Konstrukteure darauf geachtet, auf Frequenzen zu senden, die jeder Amateurfunker problemlos empfangen konnte, denn innerhalb weniger Stunden sendete praktisch jede TV- und Radiostation in den USA und im Rest der Welt jenes endlose Piep-Piep-Piep gleichsam als Siegesruf der Sowjets weiter, während die kleine Metallkugel ihre Runden um den Planeten drehte. Und das Signal wurde noch weitere drei Wochen aus dem All gesendet, bis die Batterien leer waren.

Der Erfolg des Sputnik löste eine nie dagewesene Orgie der Selbstgeißelung und Hysterie in der US-Presse aus, nicht bloß weil der technologische Triumph so offensichtlich war, sondern weil es sprichwörtlich fast über Nacht auf einmal so schien, dass die Bürger der Vereinigten Staaten auch gegenüber anderen, noch viel unzweideutiger feindlichen sowjetischen Maschinen gänzlich hilflos ausgeliefert waren, die vielleicht schon sehr bald des Weges geflogen kommen könnten, in atemberaubender Geschwindigkeit und in unantastbarer Höhe über ihren Häuptern. Lyndon Johnson, damals der Mehrheitsführer der Demokraten im Senat, malte eine schockierende Szenerie an die Wand, von russischen Bomben, die aus dem All abgeworfen werden könnten, »wie Kinder Steine auf die Straße werfen«,[64] ohne dass irgendwer etwas dagegen tun könnte. Und ein künftiger Präsident, Gerald Ford, damals republikanischer Kongressabgeordneter, stieß ins gleiche Horn, als er von sowjetischen thermonuklearen Sprengköpfen phantasierte, die auf jeden Punkt der Erde »in Überschallgeschwindigkeit herabstürzen« könnten.[65] Ein weiterer Senator, Henry Jackson, erklärte, die Errungenschaft des Sputnik sei nichts weniger als eine Frage von Leben und Tod für unser Land und die freie Welt«, und als er sich so richtig in Rage geredet hatte, verlangte er, die Regierung der Vereinigten Staaten müsste unverzüglich eine »Woche der Schande und Gefahr für das ganze Land« ausrufen.[66] Während die kleine piepsende sowjetische Kugel den amerikanischen Kontinent allein am ersten Tag vier Mal überquerte, wuchs die Panik immer weiter. Der gefeierte Science-Fiction-Autor Arthur C. Clarke, der später als Verfasser des Romans 2001: Odyssee im Weltraum und auch als Co-Drehbuchautor des gleichnamigen Films zu Ruhm gelangte, brachte die Stimmung im Land – beziehungsweise das nationale Trauma – vielleicht am besten auf den Punkt: Der Tag, an dem der Sputnik begann, seine Bahnen um den Planeten zu ziehen, war der Tag, an dem die Vereinigten Staaten zu einer zweitrangigen Macht herabgestuft wurden.[67]

Nur noch schlimmer wurde das Ganze, weil die Idee, Satelliten ins Weltall zu bringen, eigentlich als Idee der Amerikaner gegolten hatte. Schließlich hatte kein Geringerer als Präsident Eisenhower höchstpersönlich anno 1955 verkündet, die USA würden als Beitrag Amerikas zum sogenannten Internationalen Geophysikalischen Jahr einen Satelliten ins All bringen. Das war ein für die Jahre 1957/58 geplantes Projekt, an dem sich 67 Staaten beteiligten – darunter auch die UdSSR, mit unabsehbaren Folgen, wie sich herausstellte. Jedes Land sollte einen wertvollen wissenschaftlichen Beitrag zu diesem globalen Projekt leisten, darunter auch Studien zur Ozeanographie und Meteorologie, zu kosmischer Strahlung, zur Aurora borealis und zum Gravitationsfeld der Erde. Eisenhower hatte die Navy mit der Aufgabe betraut, diesen amerikanischen Satelliten ins All zu schicken. Die beiden anderen militärischen Abteilungen – die US Army und die Air Force – sahen das gar nicht gerne; sie hatten ohne Erfolg argumentiert, sie hätten doch Raketen, die diese Aufgabe viel besser und zuverlässiger erledigen könnten als die »Vanguard« der Navy. Die Navy arbeitete sich noch immer an der Aufgabe ab, als sich der Sputnik auf die Reise machte, und natürlich half es nicht, dass Eisenhower nicht nur den Zorn der Öffentlichkeit über die ganze Geschichte total unterschätzt hatte, er hatte auch die Bedeutung der Sache hoffnungslos heruntergespielt. Sorglos behauptete er, »Sputnik macht mir keine Sorgen, nicht die Spur«,[68] und er fragte sich, was die ganze Aufregung sollte, wegen einer »kleinen Kugel am Himmel«.[69] Als die Geschichte erstmals ruchbar wurde, begab er sich auf den Golfplatz, um eine Runde zu spielen.

Am 3. November 1957, gerade einmal vier Wochen nach dem Start des Sputnik, der vielen Amerikanern, außer dem Präsidenten offenbar, das Gefühl gegeben hatte, dies wäre vielleicht die schlimmste Demütigung der Vereinigten Staaten seit dem Überfall der Japaner auf Pearl Harbor, wiederholten die Sowjets das Spielchen und schickten Sputnik 2 auf die Reise. Diesmal befand sich allerdings ein Hund an Bord. Verglichen mit Sputnik 1 war Sputnik 2 riesig, wog sechs Mal so viel wie das Vorgängermodell, und darin gab es ein gepolstertes Abteil für eine weibliche Promenadenmischung mit einer Spur Husky und einem bisschen Terrier in den Genen, die auf den Namen Laika hörte. Die amerikanische Presse machte sich ihren eigenen Reim darauf und taufte das Ganze sogleich Muttnik[70] (»mutt« heißt Köter oder Promenadenmischung, Anm.d.Ü.).

Das war das erste Mal, dass ein Lebewesen den Planeten Erde verlassen hatte, um diese im Weltall zu umkreisen, wobei das Raumfahrzeug auf dem erdfernsten Punkt seiner elliptischen Reise die gute Laika in die erstaunliche Höhe von über tausend Meilen (gut 1600 Kilometer) beförderte. Es war ein wirklich bemerkenswerter Erfolg, wenngleich die Technologie, die es gebraucht hätte, um Laika wieder sicher nach Hause zu holen, damals noch nicht existierte, was bedeutete, dass ihr nicht nur der bleibende Ruhm winkte, der erste Hund im Weltraum zu werden, sondern auch das erste Todesopfer im Weltraum. Die sowjetische Presse behauptete, sie hätte eine Woche lang im Orbit überlebt, bis ihr der Sauerstoff ausging (die Russen blieben bis 2002 bei dieser Behauptung). In Wahrheit ereilte sie der Tod – vielleicht gnädigerweise – vermutlich bereits nach wenigen Stunden aufgrund von Überhitzung, als die Temperatur in ihrer versiegelten Kabine auf fast 43 °C kletterte. Ihr Tod trug jenen namenlosen sowjetischen Wissenschaftlern, die sie ins All geschossen hatten, die Ächtung der Hundeliebhaber in aller Welt ein, andere sahen die Sache eher aus geopolitischer Perspektive und bemerkten alarmiert, dass der Raumflug von Laika zeitlich eindeutig auf den 40. Jahrestag der Russischen Revolution abgestimmt war. Mit Laikas Flug glaubte Chruschtschow, und zwar durchaus mit einer gewissen Berechtigung, einen weiteren Wirkungstreffer in Sachen sowjetischer Überlegenheit über den dekadenten Westen gelandet zu haben; ein Gedanke, der später in seinen eigenen Memoiren noch untermauert wurde, in denen davon die Rede war, diese Sputniks hätten den potenziellen Gegnern einen gewaltigen Schrecken eingejagt, während andere vor Freude strahlten. Mit den »anderen« dürfte Chruschtschow zweifellos auch sich selbst gemeint haben.[71]

Fünfzehn Tage nach Laikas Eintreffen im Orbit, als Sputnik 2 mit dem toten Hund an Bord den Globus bereits etwa 250 Mal umrundet hatte, brachte das Magazin Life einen Kommentar mit dem Titel »Arguing the Case for Being Panicky« (frei übersetzt: Panik ist absolut angebracht). »Kurz gesagt:«, meinte darin Autor George Price, »Wenn wir nicht augenblicklich unser gegenwärtiges Verhalten komplett aufgeben, können wir davon ausgehen, dass die Vereinigten Staaten spätestens 1975 zu einem Mitgliedsstaat der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken geworden sein werden.«[72] Das mag ein wenig übertrieben daherkommen, aber dieses Gefühl erlaubt uns einen lebendigen Blick auf das Denken vieler Menschen zu jener Zeit, und es erklärt auch, warum am 6. Dezember 1957 der lange überfällige Start der Vanguard-Rakete der Navy, die Amerikas ersten Satelliten – namens TV-3 – beförderte, mit mehr als nur ein wenig gespannter Erwartung beobachtet wurde.

Jay Barbree war damals ein junger Reporter, der über den Start berichtete. Im Sommer 1956, auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzungen um die Bürgerrechte, hatte er Albany in Georgia verlassen, nachdem er heimlich eine Kundgebung des Ku-Klux-Klan für einen örtlichen Fernsehsender gefilmt hatte und dabei erwischt worden war. Die Klan-Leute prügelten ihn krankenhausreif, und da beschloss er, es wäre vielleicht eine vernünftige Idee, den »Standort zu wechseln«,[73] wie er sich ausdrückte, bevor ihm noch Schlimmeres widerfuhr. Der neue Standort, für den er sich entschieden hatte, war Cape Canaveral an der Ostküste Floridas. Hier schlug das Herz des amerikanischen Bemühens, im Wettlauf ums All wieder den Anschluss an die Sowjets zu finden. Es war eine riesige, dreiecksförmige Raketenbasis, die im Jahr 1950 auf rund 6500 Hektar Busch- und Salzmarschland zwischen dem Banana River und dem Atlantik errichtet wurde, wo sich bis dahin Alligatoren und Klapperschlangen getummelt hatten. Barbree war einst F-86-Kampfjets für die Air Force geflogen und fest davon überzeugt – vor allem nach Sputnik –, dass das Weltall in den späten Fünfzigern das aufregendste Betätigungsfeld war, das man sich als Reporter in Amerika denken konnte. Diese Überzeugung brachte ihn dazu, im Lauf der nächsten Jahrzehnte über sage und schreibe 166 Raketenstarts zu berichten, mehr als jeder andere.[74] Aber Vanguard, mit seinem winzigen TV-3-Satelliten an der Spitze, war seine Premiere.

Winzig traf die Sache recht gut, jedenfalls verglichen mit dem Sputnik 2 und seinem riesigen, über eine halbe Tonne schweren Klotz: TV-3 wog nur etwa eineinhalb Kilo und war kaum größer als eine Grapefruit. Aber immerhin: Eine Grapefruit war besser als gar nichts, und während Barbree und die anderen Schlagzeilenjäger von weit entfernten Dünen oder von Booten aus den Start beobachteten – die Navy hatte sich geweigert, irgendjemand Unbefugtes auf das Gelände von Cape Canaveral zu lassen –, stieg die dreistufige Vanguard mit gewaltigem Donnergrollen ihre ersten Zentimeter in Richtung Erdumlaufbahn empor; dann, als ob sie das Spiel bereits aufgeben wollte, fiel sie nach nur zwei Sekunden wieder zurück auf die Startrampe und explodierte augenblicklich.

Und es kam noch schlimmer. Der kleine, grapefruitgroße Satellit an der Spitze wurde irgendwie aus dem entstehenden Feuerball herausgeschleudert und purzelte – in Barbrees Erinnerung – »in die umgebende Wildnis des Cape, und der winzige Funksender sendete klagend sein einsames Signal«.[75] Das Ganze hörte sich »tieftraurig« an, eine endlos lange Folge klagender Pieptöne, die Dorothy Kilgallen, eine prominente Mitspielerin bei der CBS-Quizshow What’s My Line? (die amerikanische Vorlage für Robert Lembkes Was bin ich? – Anm.d.Ü.), veranlasste, für alle Amerikaner zu sprechen und zu fragen: »Warum geht nicht irgendjemand da hin, findet das Ding und dreht ihm den Saft ab?«[76] Derweil hatte die Presse einen weiteren großen Tag. Die ganze Operation wurde zum Flopnik – oder wahlweise auch Dudnik, Oopsnik oder Stayputnik.[77]

Es war eine dunkle Stunde für die USA. Die Navy hatte sich bis auf die Knochen blamiert und damit definitiv ins Abseits manövriert. Nun wendeten sich alle Hoffnungen zügig einem Mann zu, der auf der Titelseite just jener Life-Ausgabe vom 18. November 1957 abgelichtet war, in der es geheißen hatte, jetzt wäre wohl die richtige Zeit, um in Panik zu geraten. Sein Name war Dr. Wernher von Braun, und das Life-Cover präsentierte ihn groß in Farbe, in seinem elegant geschnittenen grauen Anzug, dabei Ruhe und Sachlichkeit ausstrahlend, neben einem atemberaubend futuristischen Modell jener Art Rakete, die sich vielleicht eines Tages auf die Reise zum Mond begeben würde; ein Porträt von männlicher Kraft, gutem Aussehen und leuchtender Intelligenz, das die gesamte Leserschaft im Lande wissen ließ, so der von Ehrfurcht gepackte Reporter, dass man hier den »Weissager des Weltalls« und einen »pragmatischen Propheten« vor sich habe; und dass er endlich der Mann wäre, der Amerika aus diesem technisch-wissenschaftlichen Schlamassel würde herausführen können.

Dass von Braun einst auch Mitglied der NSDAP gewesen war, und Sturmbannführer oder Major in der SS noch dazu, dass er die V-2 entworfen hatte, die beachtliche Teile von London und Antwerpen in Schutt und Asche gelegt und viele Einwohner dieser Städte umgebracht hatte, dass er mit seiner V-2 einst Hitler in derart überschäumende Begeisterung versetzt hatte, dass der Diktator von Braun auf der Stelle zum Professor erklärte – all diese Tatsachen kamen in der Reportage, wenn überhaupt, nur ganz am Rande zur Sprache. Nicht seine Vergangenheit zählte, auf die Gegenwart kam es an. Und dass von Brauns anerkannte Brillanz als Raketenkonstrukteur und Visionär des Weltraums vielleicht auf Verfälschungen zurückgehen könnte, da man es im Krieg mit der Wahrheit nicht so genau nahm, wen interessierte das schon? Schließlich war dieser Krieg ja ohnehin vorbei. Was dagegen interessierte, war die Tatsache, dass von Braun, der inzwischen für die US Army Ballistic Missile Agency in Huntsville (Alabama) tätig war, bereits eine Rakete hatte, die Jupiter-C, die mit ein paar Modifikationen im Prinzip startklar war und mit der sich die Chancen deutlich erhöhten, einen US-Satelliten ins All hieven zu können, bevor die Sowjets noch ein weiteres Kaninchen aus dem Hut zauberten.

Und überhaupt war der Mann ja auch gar kein Deutscher mehr, sondern ein ausgewachsener Amerikaner. In einer speziellen Zeremonie im Jahr 1955, an einem Tag, den er als den glücklichsten seines Lebens beschrieb, war von Braun offiziell in die USA eingebürgert worden, desgleichen seine Frau sowie über hundert deutsche Kollegen, Raketenexperten, die unter seiner Führung an den V-2-Raketen der Nazis gearbeitet hatten und die nun eifrig dabei waren, noch viel modernere Raketen für die USA zu entwerfen. Diese Männer hatten sich im allerletzten Kriegsmonat den amerikanischen Truppen ergeben, nicht ohne zuvor, nur zur Sicherheit, versteht sich, 14 Tonnen Blaupausen von V-2-Konstruktionszeichnungen in einem Grubenschacht im Harz zu verstecken. Damit verschafften sie sich im Rahmen einer streng geheimen Operation des US-Kriegsministeriums mit Namen »Paperclip« eine freie Passage über den Atlantik, wo sie nun für neue Herren und Meister weiter ihre Raketen bauen konnten. Die eher fragwürdigen Aspekte ihrer Tätigkeit im Krieg wurden von den US-Beamten schlicht und einfach aus den Akten getilgt. Die Tatsache, dass die deutschen V-2-Raketen unter unmenschlichen Bedingungen von aus Konzentrationslagern rekrutierten Zwangsarbeitern produziert wurden, von denen Tausende an Hunger und Krankheit gestorben oder im Verlauf der Arbeiten exekutiert worden waren – manche wurden von den Wachen der SS an den Brückenkränen aufgehängt, mit denen die V-2-Raketen in Stellung gebracht wurden –, all dies zählte einfach nicht mehr.

Für Herrn von Braun schienen all diese Dinge keinerlei Problem darzustellen. »Krieg ist Krieg«, sagte er einmal, »und da mein Land sich im Krieg befand, hatte ich die Überzeugung, dass ich nicht das Recht hatte, weiterhin moralische Gesichtspunkte ins Feld führen zu dürfen.«[78] Auf Nachfragen konnte er immer auf die Tatsache verweisen, dass er einmal fast zwei Wochen in einem Gefängnis der Gestapo verbracht hatte, weil ihn jemand bei der Behauptung belauscht hatte, der Krieg sei verloren.[79] Ein Journalist des Londoner Daily Express, der ihn 1945 interviewte, kurz nachdem er sich den Amerikanern ergeben hatte, schrieb: »Er hat keinerlei Schuldgefühl. […] Die einzige Leidenschaft in seinem Leben [war] der Erfolg seiner Raketen. Es war für ihn nicht von Belang, ob sie auf den Mond geschossen oder auf kleine Häuser in London abgefeuert wurden.«[80] Oder wie es der Sänger und Satiriker Tom Lehrer später ausdrücken sollte:

Once the rockets are up, who cares where they come down?

»That’s not my department«, says Wernher von Braun.[81]

Etwa:

Ich schieß’ sie bloß hoch – wo sie landen? Mal schau’n

»Das ist nicht meine Sparte«, sagt Wernher von Braun.

Dieser eine Zweck, ungetrübt durch Gewissensbisse und kombiniert mit einem eindrucksvollen Charme und einem ausgeprägten Talent zur Eigenwerbung, war genau das, was seine neue Heimat nun brauchte. Von Brauns modifizierte Jupiter-C-Rakete – sie hieß inzwischen Juno – wurde rasch in die Aufgabe eingebunden, einen neuen amerikanischen Satelliten ins All zu schicken, ein Objekt namens Explorer 1. Dieses Objekt wog knapp 14 Kilogramm, nicht einmal ein Vierzigstel des Gewichts von Sputnik 2 (ohne Hund). Aber immerhin gelang es von Brauns Juno am 31. Januar 1958 beim Start in den Himmel Floridas, nicht gleich zu explodieren, und Explorer 1 schaffte es tatsächlich in den Orbit. Die Presse feierte die Geschichte als enorme nationale Errungenschaft, aber »enorme nationale Erleichterung« träfe die Sache wohl besser. Von Braun wurde als Retter seines neuen Heimatlands gefeiert. Und diesmal schaffte er es sogar auf die Titelseite von Time.

Es war die Ausgabe vom 17. Februar, und das Künstlerporträt von Brauns, erneut in der schlichten Eleganz seines grauen Anzugs gehalten, zeigt ihn erkennbar mit einem feinen Lächeln, während im Hintergrund des Bilds eine seiner Raketen in einem Feuersturm vom Boden abhebt. Vielleicht liegt sogar der Anflug eines Grinsens in seinem Gesichtsausdruck, eine zuversichtliche Gewissheit, dass Amerikas Raumfahrtprogramm mit ihm an der Spitze nun endlich in den richtigen Händen lag. Er war jetzt reich und berühmt, und er legte sich einen weißen Mercedes zu. Er war außerdem zum engagierten Christen geworden. Seine spezielle Sorte von Glauben war vielleicht weniger davon geprägt, in sich zu gehen oder das eigene Gewissen zu hinterfragen; bei ihm lief es eher auf die gesellschaftlich konservative, militant antikommunistische Art von Christentum hinaus. »Irgendwie spürten wir, dass das Geheimnis des Raketenwesens nur in die Hände eines Volkes gelangen sollte, das die Bibel liest«, erklärte er einmal.[82] Viele seiner amerikanischen Landsleute hätten ihm da gewiss beigepflichtet.

Unglücklicherweise verfügten die gottlosen Sowjets bereits über dieses Geheimnis. Und im Mai 1958, nur drei Monate, nachdem Explorer 1 die Erdumlaufbahn erreicht hatte, zauberten sie ein weiteres Kaninchen aus dem Hut und ließen es um die Welt fliegen, und es war ihr bis dahin größtes Kaninchen. Sputnik 3 war ein Monstrum von atemberaubenden knapp eineinhalb Tonnen, fast das Hundertfache des Gewichts von Explorer 1, und an Bord hatte es praktisch ein komplettes Labor mit wissenschaftlichen Instrumenten. Trotz eines Problems mit dem Datenrecorder gelangen dem Satelliten 40000 optische Beobachtungen im Orbit, womit er sich auf überzeugende Weise den Ruhm als erstes wissenschaftliches Weltraum-Observatorium sicherte – und nebenbei wurde Amerika im Wettlauf ins All, wie die Medien diese Konkurrenz inzwischen unverblümt titulierten, ein weiteres Mal um Längen geschlagen.

Man konnte mit den Russen einfach nicht mithalten. Ihre gewaltigen ballistischen Interkontinentalraketen, gebaut zu dem Zweck, Wasserstoffbomben um die halbe Welt zu schießen, leisteten inzwischen gute Dienste beim Transport schwerer Lasten in den Weltraum. Die Details dieser Raketen wurden natürlich streng unter Verschluss gehalten, wenngleich die US-Geheimdienste fieberhaft daran arbeiteten, diese Geheimnisse zu durchdringen, wie wir noch sehen werden. Für den gewöhnlichen Amerikaner war dieser Vorsprung der Sowjets jedoch schlicht unbegreiflich. Wie konnte das reichste und fortschrittlichste Land auf dem Planeten derart ins Hintertreffen geraten? Wie war es möglich, dass man immer nur Zweiter wurde? In Wirklichkeit war es gerade die Rückständigkeit der sowjetischen Technologie, die ihr einen solch enormen Vorteil verschaffte. Sowohl die elektronischen als auch die mechanischen Gerätschaften, die sie für ihre Wasserstoffbomben benötigten, waren primitiv und schwer, die moderneren amerikanischen Wasserstoffbomben waren dagegen leicht. Und um die schwereren sowjetischen Bomben zu transportieren, brauchte es logischerweise größere, leistungsfähigere Raketen. Das US-Raumfahrtprogramm sah sich von Anfang an mit einem paradoxen Handicap konfrontiert: Die technologische Überlegenheit der Nation beim Bau von Bomben ermöglichte erst ihre mangelnde Überlegenheit im Weltraum. Sie gewann den Rüstungswettlauf aus dem gleichen Grund, aus dem sie den Wettlauf ins All gerade verlor.

Im Versuch, den Russen etwas entgegenzusetzen, arbeiteten von Braun und sein Team aus deutschen und amerikanischen Technikern an der Army Ballistic Missile Agency in Huntsville bereits eifrig an einer eigenen, sehr großen Rakete – der Saturn –, aber um 1958/59 existierte diese Idee allenfalls auf dem Reißbrett, vom Fehlen an staatlicher Finanzierung für das Projekt ganz zu schweigen. Also blieb den Amerikanern nichts anderes übrig, als mit ihren Redstones, ihren Junos, Jupiters und Atlases klarzukommen, so gut es eben ging. Die großen Namen, die sie ihren Raketen verpasst hatten, verschleierten die wirklichen Verhältnisse: Verglichen mit der sowjetischen Konkurrenz waren sie geradezu mickrig.

Und so nahmen die Demütigungen kein Ende. Amerikas Platz beim Wettlauf ins Weltall schien ein peinliches »unter ferner liefen« zu sein. Zwischen 1958 und 1960 gab es acht separate Versuche der Amerikaner, eine Raumsonde namens Pioneer zum Mond zu schicken; mit einer Ausnahme schlugen alle Versuche fehl. Derweil warfen die Sowjets mit Mondsonden um sich wie mit Konfetti. Dass einige davon ebenfalls fehlschlugen, wurde schlicht und einfach nie publik gemacht. Es kam darauf an, unbesiegbar zu erscheinen, und vor allem bei diesem Spiel waren die Sowjets wahre Meister. Als Luna 1, im Januar 1959 gestartet, den Mond aus Versehen verfehlte und stattdessen am Ende die Sonne umkreiste, behauptete Chruschtschow dreist, genau dies wäre der Zweck der Mission gewesen, und er tönte, »selbst die Feinde des Sozialismus müssen angesichts der unwiderlegbaren Fakten zugeben, dass dies eine der größten Leistungen des kosmischen Zeitalters ist«.[83]

Gar so oft musste Chruschtschow indessen gar nicht lügen, oder jedenfalls nicht so sehr wie in diesem Fall. Luna 2, die im September des gleichen Jahres gestartet wurde, erreichte tatsächlich den Mond. Es war das erste künstliche Objekt, das jemals Kontakt mit einem anderen Himmelskörper hatte. Nach dem Aufschlagen auf der Mondoberfläche zerlegte sich die Kugel in einen Regen glitzernder Fünfecke, und jedes einzelne davon zierte das Emblem der Sowjetunion nebst den Buchstaben CCCP – das russische Kürzel für UdSSR. Es war ein enormer Werbegag und lieferte sogleich die Vorlage für den nächsten, als Chruschtschow die Konstrukteure um einen Nachbau als Modell bat, den er als Geschenk ans Weiße Haus vorgesehen hatte. »Man solle auf jeden Fall darauf achten, das Ganze hübsch zu verpacken, betonte Chruschtschow.«[84] Das taten sie denn auch; wie geplant überreichte ein lächelnder Chruschtschow das Präsent Eisenhower bei seinem Staatsbesuch in den Vereinigten Staaten eine Woche danach, und die Schar der Fotografen hielt den Moment fest, damit die ganze Welt daran teilhaben konnte. Auf den Bildern sieht man auch Eisenhower lächeln – wenn auch ziemlich gequält.

Nur einen Monat nach dem von Luna 2 veranstalteten Schauer aus sowjetischen Fünfeck-Emblemen übertrug der Nachfolger, Luna 3, Fotos von der erdabgewandten – oder gängiger ausgedrückt: dunklen – Seite des Mondes an die Erde, von einer Region also, die bis dahin noch kein menschliches Auge erblickt hatte. Inzwischen lagen die USA im Wettlauf ins All so weit zurück, dass man sich fragte, ob sie überhaupt schon aus den Startblöcken gekommen waren. Und für den Fall, dass es noch immer Amerikaner gab, die die Sache anders beurteilten, hatte Chruschtschow sogleich eine freundliche Belehrung bereit. »Wir haben euch beim Wettlauf zum Mond besiegt«, sagte er beim Besuch einer Hotdog-Fabrik in Des Moines (Iowa) auf der erwähnten Amerikareise. »Aber ihr macht die besseren Würstchen«.[85]

Inzwischen war eine neu geschaffene Behörde für Amerikas Bemühungen in Sachen Raumfahrt zuständig. Durch eine immer länger werdende Liste von Fehlschlägen und schlechten Nachrichten zum Handeln gedrängt, hatte Eisenhower im Juli 1958 den »National Aeronautics and Space Act« unterzeichnet, und damit war die Gründung der NASA (National Aeronautics and Space Administration) beschlossen. Die neue Bundesbehörde war explizit ziviler Natur, zur Verärgerung und Bestürzung einiger Teile des Militärs, die darauf beharrten, das Weltall müsse als militärische Angelegenheit betrachtet werden. Die NASA führte eine Reihe wichtiger Organisationen unter einem Dach zusammen, um das nationale Programm zur Erkundung des Weltalls zu koordinieren. Manche Zyniker mögen argumentiert haben, die neue Organisation habe vor allem ein Ziel gehabt: die Sowjets zu besiegen.

Nicht dass die NASA ihre Zielsetzung explizit so beschrieben hätte. Der erste Leiter der neuen Weltraumbehörde, Dr. T. Keith Glennan, scheute keine Mühen, um – wenn auch erkennbar mit einem Hauch von Widerwillen – das exakte Gegenteil zu behaupten, dass nämlich wir, die Amerikaner, keineswegs gedachten, mit den Russen Schlag um Schlag darum zu konkurrieren, wer die spektakulärsten Ergebnisse im Weltall erzielt. Unter den gegebenen Umständen war das eigentlich gleichbedeutend mit der Feststellung, dass die Amerikaner bislang eine spektakuläre Niederlage nach der anderen hatten einstecken müssen.[86] Und doch, selbst in dieser Krise hatte die NASA noch ein Ass im Ärmel; und dieses Ass sollte mit der Hilfe einer weiteren von Wernher von Brauns vielseitig verwendbaren Raketen letztlich den Fluch brechen und das Spektakulärste überhaupt schaffen: den ersten Menschen auf den Mond zu bringen.

Blaupausen für dieses Vorhaben gab es bereits: aufregende, futuristisch geflügelte Maschinen, die Menschen in den Orbit und noch weiter hinaus tragen sollten, zum Mond und zu den Planeten des Sonnensystems. Das Problem war, dass sie nur auf dem Papier existierten. Immerhin konnte niemand bestreiten, dass sie einige phantastische Namen trugen, viele davon klangen nach dem Jargon jener Zeit, wie etwa der X-20 Dyna-Soar von Boeing, ein Überschall-Gleitflugzeug, dessen Name irgendwie nach Familie Feuerstein klang – die Erstausstrahlung dieser in der Steinzeit angesiedelten Zeichentrickserie erfolgte im Jahr 1960. Das Gerät sollte schwebend in den Himmel und darüber hinaus aufsteigen (»soar«) und anschließend aerodynamisch gleitend zur Erde zurückkehren und wie ein Flugzeug auf einer Rollbahn wieder landen. Basierend auf der vorhandenen North American X-15, einem raketengetriebenen Experimentalflugzeug, das mehrfache Schallgeschwindigkeit und Höhen von 80 Kilometern und mehr erreichte, war der Dyna-Soar vor der Gründung der NASA das bemannte Raumfahrzeug der Wahl für die US Air Force. In gewisser Weise nahm es das Space Shuttle um zwei Jahrzehnte vorweg. Aber genau das war das Problem: Das Ding war viel zu modern und ausgefeilt, und seine Entwicklung würde zu lange dauern. Eine schnelle Lösung war gefordert – etwas, womit man den Sowjets eins auswischen konnte, und zwar so bald wie möglich. Eine wesentlich bessere, wenn auch weniger exotische Lösung bestand darin, einfach einen Menschen in die kegelförmige Spitze einer ballistischen Rakete zu setzen und ihn in den suborbitalen Raum zu schießen, die kegelförmige Kapsel mit dem Mann an Bord abzukoppeln und anschließend den ganzen Apparat wieder in Richtung Erde fallen zu lassen. Das war primitiv, unschön, kein bisschen aerodynamisch, schmutzig und bar jeder Eleganz; aber es war auch ziemlich einfach, jedenfalls im Vergleich zu so etwas wie dem Dyna-Soar.

Zusammen mit dem Dyna-Soar packte die US Air Force diese schlichtere Rauf-Runter-Idee in ein Programm, das sie »Man In Space Soonest« titulierte (»Mensch im Weltraum schnellstmöglich«). Das klang wie ein voller Erfolg, bis irgendjemand, wenn auch verspätet, darauf hinwies, dass das dazugehörige Akronym ja MISS lautete, und das hörte sich an wie, nun ja: Misserfolg. Als jedoch die NASA das Raumfahrtprogramm im Herbst 1958 übernahm, fand man eine ausgefeiltere Version jener Rauf-Runter-Konzeption für einen Menschen im suborbitalen Raum. Sie sollte die Grundlage der ersten Programmphase des Project Mercury liefern. Später, wenn die Technologie entsprechend weiterentwickelt war, sollten in der zweiten Phase bemannte Flüge in der Erdumlaufbahn folgen. Alles, was man für den Moment brauchte, war ein Entwurf für eine Kapsel, die einen Menschen ins All tragen konnte, und einen Menschen, der bereit war, sich in das Ding zu setzen und erfolgreich, wie alle hofften, ins All zu düsen. Und natürlich lebend wieder zurückzukehren.

Ins All

Подняться наверх