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Kapitel 3 Das Haus im Wald
Оглавление18. Januar 1961
Militäreinheit 26266, 41 Kilometer nordöstlich von Moskau
Tief in einem Birkenwald im Distrikt Schtschelkowski nordöstlich von Moskau, weit weg von der Haupteinfallstraße in die Metropole und verborgen vor neugierigen Blicken, stand ein kleines, altmodisches zweistöckiges Gebäude, halb im Schnee versunken. Hier lag noch mehr Schnee als 8000 Kilometer weiter westlich in Washington. Er türmte sich auf dem steil abfallenden Dach des Hauses, auf dem überhängenden Vordach über der Haustür, auf den Ästen der Birken, alles verstärkte die gewichtige Stille des Waldes nur noch mehr.
Von der merkwürdigen Lage abgesehen hatte das eigentliche Gebäude nichts Besonderes an sich. Vielleicht sollte gerade diese Anonymität auch zur Tarnung des wahren Zwecks beitragen. Denn in diesem unauffälligen Bau mitten im Wald befand sich in Wirklichkeit eine der geheimsten Einrichtungen der ganzen UdSSR. Der Codename lautete »Militäreinheit 26266«, bekannt aber auch unter den Initialen TsPK, für Tsentr Podgotowki Kosmonawtow: das Trainingszentrum der Kosmonauten. Und es war genau hier, genau an jenem Mittwoch, zwei Tage vor der Amtseinführung des Präsidenten Kennedy in Washington und am Tag vor der Auswahl Alan Shepards als erstem amerikanischem Astronauten, wo jene sechs Männer darum konkurrierten, der erste Kosmonaut der Sowjetunion und vielleicht auch der erste Mensch im All überhaupt zu werden.
Genau wie die Mercury Seven in Langley, Virginia, saßen auch diese sechs in einem Klassenzimmer. Aber das war es dann auch fast schon mit den Gemeinsamkeiten. Sie alle waren offensichtlich jünger als die Amerikaner, alle in ihren Zwanzigern, keiner hatte die dreißig überschritten. Alle trugen sie Militäruniformen, keine lockeren Ban-Lon-Shirts. Und sie alle waren kleiner als die Amerikaner – Gus Grissom war die Ausnahme –, klein genug, um in die kugelförmige Wostok-Raumkapsel zu passen, die an die Stelle des Atomsprengkopfs an der Spitze der R-7-Rakete trat, die sie, wie alle hofften, eines gar nicht mehr fernen Tages ins All schießen sollte.
Und anders als die Mercury Seven warteten diese sechs Männer auch nicht darauf, dass jemand hereinkam. Sie saßen in einer Prüfung. Später am Nachmittag würden sie nacheinander von einem für ihre Ausbildung zuständigen Komitee eingehend befragt werden. Dasselbe Komitee hatte bereits tags zuvor ihre in einem primitiven Simulator der Wostok-Kapsel erbrachte Leistung beurteilt. Dieser Simulator, der einzige in der ganzen UdSSR, befand sich nicht in dem Haus im Wald, sondern in einem feudalen Gebäude aus vorrevolutionären Zeiten in Schukowski, 45 Kilometer südöstlich von Moskau mit dem Namenskürzel LII: Ansonsten nannte es sich das Michail-Gromow-Institut für Flugforschung. Bis zu 50 Minuten lang hatte jeder der sechs Männer im zweiten Stockwerk des ehemaligen Tuberkulose-Sanatoriums, das einst unter der Oberaufsicht des Volkskommissariats für Arbeit gestanden hatte, unter der aufmerksamen Beobachtung durch die Prüfer diverse Prozeduren im nachgebauten Cockpit der Wostok geübt.
Das Haus im Birkenwald, in dem die Männer nun ihre Prüfungen ablegten, war das erste Gebäude dessen, was im Lauf der Zeit zu einem riesigen, schwer bewachten Komplex anwachsen sollte, abgeschirmt von der Außenwelt und nur einer einzigen Aufgabe verpflichtet: dem Training der Kosmonauten der UdSSR. 1968 würde es in Swjosdny Gorodok – Sternenstädtchen – umbenannt werden, aber das lag noch weit in der Zukunft. Bis dahin war die Region selbst bekannt als Grünes Dorf, vielleicht ein Hinweis auf die vielen Hektar Wald, die den Ort schützend umgaben. Als das neue Trainingszentrum für Kosmonauten am 11. Januar 1960 gegründet wurde, auf Anordnung des Kommandeurs der sowjetischen Luftstreitkräfte, Hauptmarschall Konstantin Werschinin, wurde das Grüne Dorf als bester Standort für den Bau ausgewählt. Es bot zahlreiche Vorteile: abgeschirmt durch den umgebenden Wald, aber dennoch nicht weit von Moskau. Auch die Luftwaffenbasis Tschkalowski, der größte Militärflugplatz der Sowjetunion, lag nur wenige Kilometer entfernt. Und es befand sich nicht allzu weit vom OKB-1, der geheimen Konstruktions- und Fertigungsstätte in Koroljow (Kaliningrad) unweit Moskaus, wohin Arvid Pallos ramponierte Wostok erst in der Vorwoche zurückgebracht worden war, bevor die sechs Kandidaten in ihren Prüfungen saßen – und wo auch die Wostok-Kapseln der nächsten Generation gebaut wurden, die Menschen ins All befördern sollten.
Die sechs Männer hatten seit März 1960 zehn Monate lang trainiert, auch wenn das Gebäude mit dem Schulungsraum erst seit Juni in Betrieb war. Sie hatten noch weitere namenlose Trainingseinrichtungen in Moskau genutzt und taten dies auch weiterhin. In den folgenden Jahren sollten viele von ihnen in speziell dafür errichtete Wohnblöcke in der Sternenstadt ziehen, aber im Januar 1961 wohnten sie unweit der Luftwaffenbasis Tschkalowski in schlichten Zweizimmerwohnungen mit Frau und Kindern, wenn sie Familie hatten. Für die Junggesellen gab es noch schlichtere Quartiere – kein Vergleich mit Alan Shepards komfortablem Eigenheim in den waldigen Vorstädten von Virginia Beach oder mit überhaupt irgendetwas, was amerikanische Astronauten und ihre Familien bereitwillig hingenommen hätten, aber für sowjetische Verhältnisse wohnten sie durchaus privilegiert. Derweil wusste kein Mensch in Tschkalowski außerhalb ihres geschlossenen Zirkels, warum diese sechs Männer dort waren oder worauf sie sich vorbereiteten. Selbst ihre Eltern, ihre Freunde, die ehemaligen Kollegen in der Luftwaffe wussten von nichts. Sogar den Ehefrauen wurde nahegelegt, nicht zu viele Fragen zu stellen. Anders als die Mercury Seven, die in ganz Amerika, wenn nicht weltweit Prominentenstatus besaßen, lebten diese sechs sozusagen im Schatten.
Und noch einen wichtigen Unterschied gab es zu den Mercury Seven. Die sechs waren nicht die einzigen Kosmonauten, die sich in Ausbildung befanden. Es gab noch 14 weitere. In einem Auswahlprozess, der noch strenger war als bei den amerikanischen Astronauten, waren 20 Männer aus einer Gruppe von ursprünglich 3500 Militärpiloten in die engere Wahl gekommen. Das sowjetische Raumfahrtprogramm hatte Ambitionen, das Weltall zu erobern, oder zumindest den Teil davon, der die Erde unmittelbar umgab, und dafür brauchte es Manpower. Alle 20 hatten ihr Training im Frühjahr 1960 aufgenommen, nur zwei Monate nachdem der sowjetische Premier Nikita Chruschtschow seine leitenden Raumfahrtexperten zur Eile gedrängt hatte. Die Amerikaner würden gerade alle Hebel in Bewegung setzen, und es bestehe die Gefahr, dass sie es vor uns schaffen, meinte Chruschtschow.[24] Zu der Zeit hatten die Mercury Seven bereits fast ein Jahr Training hinter sich. Die Sowjets mussten rasch aufholen, und dafür sollten diese 20 Kosmonauten sorgen. Aber abgesehen von solchen allgemeinen Andeutungen über den bevorstehenden Besuch des »Sowjetmenschen« im All wurden in der straff kontrollierten Presse die Fakten entweder verschwiegen oder absichtlich verfälscht. Die Raketen, die Kapseln, die Entwickler, die Techniker, die Trainingszentren und die Startbasen, und natürlich die Kosmonauten selbst – alles blieb hinter verschlossenen Türen.
Im Herbst 1960 war das bemannte Raumfahrtprogramm für die Sowjetunion zu einem nationalen Ziel ersten Ranges geworden, nicht zuletzt, weil damals die NASA drauf und dran schien, noch im Dezember dieses Jahres einen Amerikaner ins Weltall zu schicken. Um die Dinge zu beschleunigen und dem Training am einzigen verfügbaren Simulator Priorität zu geben, wurde eine engere Wahl von sechs Favoriten aus den ursprünglichen 20 Kandidaten herausgefiltert. Sie sollten in jedem Fall vor den anderen zum Zug kommen. Im Prinzip war das die erste Liga, die den Wettlauf mit den Mercury Seven aufnehmen sollte. Für die Eingeweihten bekam diese Sechsergruppe auch einen Namen. Vielleicht als absichtliches Plagiat der Mercury Seven titulierte man sie von nun an die »Vorhut-Sechs«.
Je nach Quelle, auf die man sich beruft, stellen sich die Auswahlkriterien für diese sechs offenbar recht unterschiedlich dar. Dr. Adilja Kotowskaja, Expertin für Pathophysiologie, die bereits die Zentrifugentests der Kosmonauten überwacht hatte, behauptete, die Männer wären schlicht nach ihrer Fähigkeit ausgewählt worden, extreme Beschleunigungen, vergleichbar denen, die eines Tages bei einem Raketenstart auf sie zukommen würden, auszuhalten, ohne ohnmächtig zu werden.[25] Einer der sechs, Andrijan Nikolajew, ein ruhiger, stämmiger, mürrischer Junggeselle, erwies sich diesbezüglich als der Belastbarste und durchlief die heftigen Zentrifugenritte von Dr. Kotowskaja mühelos.
Ein anderer Kosmonaut, Alexei Leonow, der vier Jahre später, im Jahr 1965, als erster Mensch einen Raumspaziergang absolvieren sollte, erinnert sich an eine andere Überlegung hinter der Kandidatenauswahl, der zufolge es ausschließlich auf Körpergröße und Gewicht ankam.[26] Da beides entscheidende Werte für die Wostok waren, kamen nur die leichtesten und kleinsten Männer infrage. Leonow selbst war nach diesem Kriterium ein wenig zu groß. Alle in der ersten Garde mussten kleiner sein als 1,70 Meter. Der kleinste mit nur 1,57 Meter war ein 26 Jahre alter ehemaliger Gießereitechniker, verheiratet, blaue Augen, mit einem offenen Blick und einem gewinnenden Lächeln, das ein wenig an John Glenn erinnerte. Sein Name war Juri Gagarin. Auch er schaffte es in die Vorhut-Sechs.
Als Dritter war da Grigori Neljubow. Der dunkelhaarige, gut aussehende Pilot war genauso alt wie Gagarin und einer der ganz wenigen unter den ursprünglich 20 Kandidaten, die bereits den ersten Überschalljet der UdSSR geflogen hatten, die MiG-19. Er war von überaus scharfem Verstand, vielleicht der Gescheiteste der gesamten Kosmonautengruppe – und er verfügte über blitzschnelle Reaktionsfähigkeit. In gewisser Hinsicht ähnelte er Alan Shepard, vielleicht einschließlich seiner Neigung zur Arroganz und seines Mangels an Selbstkritik, was von seinen Ausbildern oft moniert wurde. Manche hielten ihn gar für einen Narzissten. Viele konnten ihn definitiv nicht leiden. Ein paar glaubten, er würde für den Erstflug auserkoren werden. Aber Neljubow gehörte ursprünglich gar nicht zu den sechs, die es in die engere Auswahl geschafft hatten. Er war für einen anderen Kosmonauten eingesprungen, Anatoli Kartaschow, der sich in Dr. Kotowskajas Zentrifuge im Juli 1960 eine schwere Verletzung zugezogen hatte. Aus niemals öffentlich aufgeklärten Gründen war etwas schiefgelaufen, und Kartaschow wurde bei seinen Runden in der Testgondel exzessiven Beschleunigungen ausgesetzt. Ein Kollege, Dmitri Saikin, erinnerte sich an das Ergebnis des Unfalls. »Die Blutgefäße in seinem Rücken«, erzählte Saikin, »sind einfach geplatzt.«[27] Kartaschow wurde endgültig aus dem Programm gestrichen, und Neljubow nahm seinen Platz ein.
Diese Entscheidungen konnten brutal sein – und unwiderruflich. Im Monat von Kartaschows Unfall genoss ein weiteres ursprüngliches Mitglied der Vorhut-Sechs, Walentin Warlamow, einen seltenen Tag der Freizeit und Entspannung in Medweschje Osera, einem Gebiet mit flachen Seen, in der Nähe des Trainingszentrums gelegen. Mit ihm zusammen war Waleri Bykowski unterwegs, ein Kosmonaut mit berüchtigtem wettkämpferischem Ehrgeiz. Warlamow forderte Bykowski zu einem Sprung in einen der Seen heraus. Bykowski nahm die Herausforderung ohne Zögern an und handelte sich am Grund des Sees eine Schürfwunde am Kopf ein. Er warnte Warlamow sogar noch. Aber als Warlamow ins Wasser sprang, schlug er hart auf dem Grund des Sees auf. Er wurde mit der Ambulanz ins Krankenhaus gebracht, wo man einen verschobenen Halswirbel diagnostizieren musste. Er wurde in einen Streckverband gesteckt – und endgültig aus dem Kosmonautenprogramm gestrichen. Bykowski übernahm seinen Platz.
Zwei weitere Männer komplettierten die Sechsergruppe. Pawel Popowitsch, Ukrainer und ehemaliger Kampfpilot, und nach allem, was man weiß, einer der beliebtesten Männer in der gesamten Kosmonautentruppe. Alle mochten Pawel. Er besaß einen ansteckenden Humor und konnte gute Laune verbreiten wie kein Zweiter. »Er vermittelte einem Lebensfreude«, sagte seine Tochter Natalja, die vier Jahre alt war, als Popowitsch seine Kosmonautenprüfungen absolvierte.[28] Wenn es ein Gegenstück zu ihm unter den Mercury Seven gab, war es wohl Walter Schirra, der Mann, der den anderen so gerne Streiche spielte. Popowitsch sang auch sehr gern, am liebsten ukrainische Volkslieder, und er hatte in seinem schönen Bariton aus dem Stegreif die schmachtenden, sentimentalen Liedertexte parat, die er als Kind im winzigen Dorf Uzin in der Nähe von Kiew gelernt hatte, darunter auch sein Lieblingsstück, »So eine Mondnacht«:
Der Mond und die Sterne leuchten so hell,
So hell, dass man die Nadeln der Bäume zählen kann,
Komm, meine Liebe, von Mühsal geplagt,
Nur für eine Minute, mit hinüber zum Hain …
»Jeder von uns wollte der Erste sein«, sagte Popowitsch Jahre später, genau wie es auch Alan Shepard und John Glenn bekräftigt hatten.[29] Aber um der erste Kosmonaut der UdSSR zu werden, musste Popowitsch mehr draufhaben als schöne Liebeslieder. Zwei Dinge standen ihm im Weg. Vor allem war er kein Russe, sondern Ukrainer. Da konnte die Propagandamaschine der Sowjetunion ihr Lippenbekenntnis zu den sozialistischen Idealen ethnischer Gleichheit noch so sehr bekräftigen: Popowitschs Herkunft war ein Handicap. Der Erste, der ins All fliegen durfte, hatte ein Russe zu sein. Offiziell sprach das natürlich niemand laut aus.
Das andere Problem war seine Frau. Marina Popowitsch war selbst eine brillante Pilotin, die schon als 16-Jährige versucht hatte, in die sowjetische Luftwaffe einzutreten. Sie wollte in einem der drei damals bestehenden weiblichen Pilotenregimenter dienen, ein Umstand, der in den USA zur damaligen Zeit undenkbar gewesen wäre. 1961 hatte sie bereits drei Jahre als herausragende Flugausbilderin hinter sich. Später sollte sie eine der besten Testpilotinnen der UdSSR werden. Sie war bezaubernd, schön, klug, eigenwillig, mitunter jähzornig, und übrigens auch Mutter; und diese Gesamtkonstellation war ein Problem. Generalleutnant Nikolai Kamanin, der Leiter der Kosmonautenausbildung, schrieb, Popowitsch »macht immer den Eindruck, streng zu sein, aber er ist zu nachgiebig gegenüber seiner Frau. Familiäre Schwierigkeiten stehen ihm im Weg.« Und Kamanin fügte ein wenig ominös hinzu: »Wir werden Maßnahmen ergreifen, um ihm zu helfen.«[30]
German Titow komplettierte die sechs. Titow hatte das Aussehen eines Filmstars, war sehr sportlich, exzellent im Spielen und Turnen, Amateurviolinist und passionierter Pilot, der 1957 die Luftfahrtakademie mit Bestnoten abgeschlossen hatte und anschließend Kampfjets in Leningrad flog. Dort lernte er seine Frau Tamara kennen, die damals als Kellnerin in der Kantine der Luftwaffenbasis arbeitete. Vier Monate später heirateten die beiden. »Er war Kampfpilot«, sagte sie. »Alles, was er machte, machte er schnell.«[31] Titow erblickte in einer Blockhütte in Sibirien das Licht der Welt und war von einem strengen, fordernden Vater erzogen worden, der auch der Schullehrer seines Heimatorts war. Angeblich soll der Vater seinen German nach der Hauptfigur in Puschkins Erzählung »Pique Dame« benannt haben, und der Vater vererbte definitiv seine Verehrung für Puschkin an seinen Sohn. Titow konnte komplette Passagen aus den Werken Puschkins auswendig rezitieren, ebenso wie Popowitsch ukrainische Liebeslieder vortragen konnte. Aber seine Gewohnheit, genau dies mitten in Ausbildungssitzungen zu tun, brachte mit Sicherheit seine knallharten proletarischen Ausbilder auf die Palme. Seine Belesenheit war ebenso eindrucksvoll wie hinderlich. Er war fast schon zu gebildet, zu bürgerlich, zu gescheit, und er neigte dazu, Regeln zu hinterfragen. Oberst Jewgeni Karpow, der mit der Leitung des Ausbildungszentrums betraut war, wurde nur zu oft von Titows Weigerung, Befehle auszuführen, in den Wahnsinn getrieben, vor allem Anordnungen von Ärzten, wie er selbst einer war. »Er hörte sich an, was die Ärzte zu sagen hatten, und dann machte er die Dinge trotzdem, wie er wollte, oder er ignorierte ihre Anweisungen vollständig«, sagte Karpow. »Und wenn sie auf der Einhaltung ihrer Vorgaben beharrten, […] war er sauer.«[32] Andererseits bewunderte Karpow auch Titows Direktheit und seine Weigerung, Ausreden zu erfinden, wenn er in Schwierigkeiten kam.[33] Es war immer das gleiche Lied: Einerseits ein hitzköpfiger, skeptischer Mensch, der bisweilen gegen Regeln verstieß, wenn er sie für kleinlich oder töricht hielt, war er andererseits brillant, attraktiv und jeder Aufgabe gewachsen. Er war ein weiterer Spitzenkandidat für den ersten Flug.
Die Titows wohnten Tür an Tür mit Juri Gagarin und dessen Frau Walentina in ihrem Wohnblock in Tschkalowski. Die beiden Kosmonauten verbrachten viel Zeit gemeinsam, kletterten auch schon mal über die Brüstungen ihrer schmalen Balkone im fünften Stock, weil es der schnellste, wenn auch nicht der sicherste Weg von einer Wohnung zur anderen war. Ihre Freundschaft vertiefte sich im Verlauf der Ausbildung, als im Herbst 1960 Igor, das Baby der Titows, im Alter von sieben Monaten an Komplikationen mit dem Herzen starb. Gagarin und Walentina, die selbst eine einjährige Tochter hatten, taten alles Menschenmögliche, um den beiden über diesen traumatischen Verlust hinwegzuhelfen. Tamara Titowa war bald 60 Jahre danach noch immer nicht in der Lage, mit dem Autor über die tragische Geschichte zu sprechen. In einem Interview in den neunziger Jahren würdigte Titow die Herzenswärme und Hilfe, die Gagarin damals an den Tag legte: »Ohne rührselig oder sentimental zu werden: Er hat sich einfach wie ein echter und wirklich guter Freund uns gegenüber verhalten. Ich war ihm dankbar, und obwohl ich ihn damals nicht besonders gut kannte, begann ich, ihn ins Herz zu schließen.«[34] Während sie im Januar 1961 in ihren Prüfungen saßen, war die Verbindung zwischen den beiden Kosmonauten sehr stark, obwohl sie Konkurrenten um das gleiche hohe Ziel waren.
»Alle sechs Kosmonauten sind wunderbare Jungs«,[35] notierte Generalleutnant Nikolai Kamanin, ihr Ausbildungsleiter, am Tag der Abschlussprüfungen für die Vorhut-Sechs. Aber diese Worte konnte niemand sehen – auch nicht das, was er über Popowitschs komplizierte Ehe zu Papier gebracht hatte – und das sollte noch Jahrzehnte so bleiben. Kamanin, inzwischen 51 Jahre alt, war ein legendärer Flieger und Held der Sowjetunion, ein untersetzter Mann mit schütter werdendem Haar und durchdringendem Blick. Auf Fotos aus jener Zeit sieht man ihn kaum einmal lächeln. Manche der Kosmonauten betrachteten ihn als Schleifer und Stalinisten alter Schule. Aber dieser Stalinist hatte auch ein Geheimnis. Er führte heimlich Tagebuch.[36] Das verstieß gegen sämtliche Vorschriften und war mit einem großen persönlichen Risiko verbunden. Ein Tagebuch zu führen, noch dazu in dieser verantwortungsvollen Position im sowjetischen Raumfahrtprogramm, war eine ernste strafbare Handlung. Und dennoch schrieb er immer weiter, von 1960 bis in die späten siebziger Jahre. Seine Notizen geben einen seltenen Einblick in eine Welt, die uns bis heute nur allzu oft undurchdringlich erscheint, umwoben von Mythen, Verfälschungen und Verschwörungstheorien. Kamanin ist wie eine versteckte Kamera im Herzen des Geschehens, ein faszinierender, wenngleich nicht immer zuverlässiger heimlicher Zeuge. Mitunter sind seine Beobachtungen durch Vorurteile und Verbitterung verzerrt, aber auch geprägt von einem persönlichen Respekt, und bisweilen sogar tiefer Zuneigung gegenüber den ihm unterstehenden Kosmonauten. Wir werden ihm auf den folgenden Seiten noch oft begegnen.
Die Abschlusszeugnisse der Vorhut-Sechs wurden am gleichen Tag ausgegeben, an dem sie ihre schriftlichen Arbeiten fertigstellten. Alle bekamen die Note »herausragend«. Kamanin war einer der Prüfer. »Wer von diesen sechs wird als erster Mensch im Weltall in die Geschichte eingehen?«, schrieb er an jenem Abend in sein geheimes Tagebuch. »Wer wird der Erste sein, der sein Leben für dieses verwegene Vorhaben opfert?«[37] Abgesehen von der durchaus fraglichen Annahme, die UdSSR würde das Rennen gegen die Amerikaner gewinnen, offenbaren die beiden Sätze auch das implizite Paradox, das den Kern des Abenteuers Weltraumfahrt ausmachte: Ins All zu fliegen konnte sehr leicht bedeuten, im All zu sterben. »Es gibt noch immer«, fuhr Kamanin im gleichen Tagebucheintrag fort, nachdem er all die Fehlschläge der zahlreichen Wostok-Missionen mit Hunden hat Revue passieren lassen, »keine Garantie für eine sichere Landung.«
Im Dezember waren alle 20 Kosmonauten – eine der vielen verblüffenden Parallelen zu den Mercury Seven – aufgefordert worden, abzustimmen, welcher ihrer Mitstreiter als Erster dran sein sollte. Eine Mehrheit hatte für Juri Gagarin gestimmt – einer Quelle zufolge waren es zwölf, an anderer Stelle war sogar von siebzehn die Rede.[38] Doch selbst nachdem sämtliche Prüfungen abgeschlossen waren und die Ergebnisse auf dem Tisch lagen, wurde noch keine Entscheidung getroffen. Angesichts der komplexen und nicht selten undurchsichtigen Hierarchien in der sowjetischen Politik wäre eine solche Entscheidung ohnehin nicht vorstellbar gewesen. In Langley, Virginia, konnte Bob Gilruth, Leiter der Space Task Group und der Verantwortliche für Project Mercury, seine sieben Astronauten in einem Klassenzimmer zusammentrommeln und ihnen ganz schlicht und kraft seiner eigenen Autorität mitteilen, wer der Gewinner war. In der UdSSR gingen die Uhren anders. Anders als die Mercury Seven würden die Vorhut-Sechs noch warten müssen – und zwar bis fast zum allerletzten Moment.
Doch auch während dieser Warterei, in der keiner wusste, wer aus ihren Reihen der Auserwählte war, legte das Prüfungskomitee, ohne die Kosmonauten zu informieren, eine »vorläufige« Empfehlung für die Rangfolge vor.[39] An dritter Stelle war Grigori Neljubow. Auf Platz zwei kam German Titow. Und auf Platz eins setzten die Prüfer Germans Freund, Wohnungsnachbarn und engen Vertrauten, der auch die Abstimmung unter seinen Kollegen gewonnen hatte, den Mann mit dem gewinnenden Lächeln: Juri Alexejewitsch Gagarin.
Neun Tage zuvor, am 9. Januar, zeichnete der Leiter von Militäreinheit 26266, Oberst Karpow, einen umfassenden Gesundheits- und Trainingsreport zu Gagarin vor dessen Prüfungen ab.[40] Zuerst waren dort der ausgezeichnete Blutdruck (110/65), die Tatsache, dass er Nichtraucher war, sein sparsamer Alkoholkonsum (»Verträglichkeit ist gut«) und kurioserweise auch die Beschaffenheit seiner Haut (»weiß und zart«) vermerkt, dann widmete sich Karpow den wesentlichen Merkmalen von Gagarins Charakter. Ein bedeutender Wesenszug war seine »hohe intellektuelle Reife«, und es wurde vermerkt, dass er »ausgeglichen unter schwierigen Bedingungen« war – vielleicht ein Euphemismus für die vielfältigen Möglichkeiten, in denen ein Raketenflug ins Weltall weniger ausgeglichene Persönlichkeiten aus der Fassung bringen könnte. Unter Gagarins vorrangigen Wesenszügen verzeichnete Karpows Liste Optimismus, Präzision, Mut, Selbstdisziplin, Entschlossenheit und Furchtlosigkeit. Zweifellos achtete Bob Gilruth von der Space Task Group der NASA auf ganz ähnliche Qualitäten bei Alan Shepard. An dieser Stelle ist es jedoch mit den Ähnlichkeiten schlagartig vorbei. Immerhin stand als weitere Qualität Gagarins auf der Karpow-Liste auch sein »Sinn für das Kollektiv« – schwerlich ein Wesenszug, den man mit einem der Mercury Seven verbinden würde –, und der Bericht schloss mit dem klangvollen Positivvermerk, Gagarin sei auch »ideologisch verlässlich [und] den Zielen der Kommunistischen Partei sowie dem Sozialistischen Mutterland zutiefst verbunden und […] fähig, militärische Geheimnisse zu wahren«. Mit anderen Worten: Er war fit, freundlich, in der Lage, den Mund zu halten, und es war nicht damit zu rechnen, dass er in Panik geriete, wenn die Dinge richtig böse aus dem Ruder liefen. Und wenn alles gut ging, würde er ein wunderbares Aushängeschild für die UdSSR abgeben. Kurz gesagt: Gagarin war schlicht und einfach die perfekte Besetzung für die Rolle des ersten Kosmonauten. Aber wer war dieser Mann eigentlich genau?
Geboren wurde er 1934 im Dorf Kluschino, einer Ansammlung von ein paar Hütten entlang einer einzigen Straße, in ebenem, ländlichen Ackerland in der Region Smolensk, 190 Kilometer westlich von Moskau gelegen. Die Landschaft ist geprägt von Weite und Offenheit, fernen Horizonten, heißen Sommern und langen, eisigen Wintern. Sein Vater Alexei war Zimmermann und ein Handwerker von bemerkenswertem Geschick, er baute das Holzhaus der Familie mit eigenen Händen. »Er konnte einfach alles«, erinnerte sich Gagarin. »Möbel tischlern, valenki nähen [traditionelle Filzstiefel], Schuhe reparieren.«[41] Er konnte auch Akkordeon spielen, ein Talent, das ihn in Verbindung mit seinem lukrativen handwerklichen Können zu einer ausgesprochen guten Partie machte. Im Jahr 1923 heiratete er Gagarins im Vergleich zum Vater besser gebildete und überaus belesene Mutter. Wenn Juri seine Liebe zu Handwerk und Präzision vom Vater geerbt hatte, dann verdankte er Anna seine gewaltige Lernfähigkeit und jene sorgfältige, gefestigte Klugheit, die sich eines Tages als sehr dienlich für seine Ambitionen erweisen sollte.
Als Gagarin geboren wurde, hatten seine Eltern bereits zwei Kinder, den Sohn Walentin und die Tochter Soja. Ein viertes Kind, Boris, bekamen sie 1936, zwei Jahre später. Aber als Gagarin sieben Jahre alt war, veränderte sich seine Welt vollkommen. Am 22. Juni 1941 überfiel Hitler die Sowjetunion. Drei Millionen deutsche Soldaten drangen auf einer 2900 Kilometer langen Front über die sowjetischen Grenzen mit furchterregender Geschwindigkeit in Richtung Osten vor – es war die größte Invasion in der Geschichte der Menschheit. Betäubt von Ausmaß und Grausamkeit dieses Überfalls wurden die sowjetischen Verteidiger von der vorrückenden deutschen Wehrmacht kurzerhand überrannt. Gagarins Dorf Kluschino lag genau auf ihrem Weg. Am 12. Oktober erreichten die Deutschen das kleine Dorf. Als Erstes brannten sie die Schule nieder und schlachteten das Vieh, um sich selbst mit Nahrung zu versorgen. Im Verlauf der nächsten Tage brannten sie 27 weitere Häuser des Dorfes nieder. Sie konfiszierten auch das Haus der Familie Gagarin. Alexei, Anna und die vier Kinder wurden mit Gewalt aus ihrem Haus gejagt.
Alexeis universelles handwerkliches Geschick wurde nun auf eine Weise hilfreich, die er und seine Familie sich niemals hätten ausmalen können. Mit Erlaubnis der Deutschen konstruierte er eine Art Bunker hinter dem Haus, in dem die ganze Familie die nächsten zwei Jahre lebte, einschließlich zweier bitterkalter russischer Winter. Der Bunker existiert noch heute: ein winziger Ort mit niedriger Decke, in dem man Platzangst bekommt, mit Stockbetten, einem Tisch und einem erdigen Boden, ausgekleidet mit dem gleichen Fichtenholz, aus dem Alexei schon sein eigenes Haus gezimmert hatte. Nahrung war immer Mangelware. Gagarin und Boris konnten nicht zur Schule gehen. Aber Anna tat ihr Möglichstes, um die Kinder selbst zu unterrichten. Der ältere Bruder Walentin erinnerte sich, wie schnell sich Gagarin von einem lebenslustigen kleinen Jungen in ein stilles, introvertiertes Kind verwandelte. »Er lachte kaum in jenen Jahren, obwohl er von Natur aus ein sehr fröhliches Kind war. Ich erinnere mich, dass er kaum einmal vor Schmerz weinte, oder wegen all der schrecklichen Dinge, die um uns herum geschahen. […] Viele der Charakterzüge, die ihm in späteren Jahren als Pilot und Kosmonaut zugutekommen sollten, haben sich in dieser Zeit herausgebildet, während des Krieges.«[42]
Spätere Gagarin-Biographien aus der Sowjet-Ära – und auch noch die moderneren aus postsowjetischen Zeiten – blenden oft die dunkleren Seiten seines Charakters und der früheren Vergangenheit aus. Der Impuls, eine von Russlands großen Ikonen gleichsam zum Heiligen zu verklären, ist einfach zu stark. Es gibt allerdings ein grauenvolles Kriegserlebnis, das in keiner der Biographien fehlt und das Gagarin fürs gesamte Leben geprägt hat. Sein jüngerer Bruder Boris war gerade mal fünf Jahre alt, als ein besonders sadistischer deutscher Soldat, den sie »Albert« nannten, den Jungen beschuldigte, Sabotage zu betreiben. Er schnappte Boris, band einen Schal um seinen Hals, hängte ihn an einem Baum auf und ging weg. Der siebenjährige Gagarin hat alles mit angesehen. Er lief zu seinem Bruder und versuchte verzweifelt, den Knoten zu lösen, aber er schaffte es nicht, er war zu fest gebunden. Er schrie nach seiner Mutter, und Anna rannte aus der Wohnhöhle herbei und sah, wie ihr Sohn schlaff vom Baum hing. Verzweifelt schnitt sie den Schal durch und befreite ihn. Boris war bewusstlos, aber am Leben. Mehrere Monate nach dem Vorfall konnte er noch nicht gehen. Er schrie und weinte im Schlaf. Und die Erinnerung verfolgte ihn noch Jahre später. Während Gagarin zu weltweitem Ruhm gelangte, hatte Boris große Mühe, sich im Leben zurechtzufinden. Sein Tod im Jahr 1977 im Alter von nur 41 ist ein tragisches Postskriptum zu dem schrecklichen Erlebnis. An Magenkrebs leidend und von furchtbaren Schmerzen gequält erhängte er sich in seiner Wohnung.
Kluschino wurde im Frühjahr 1943 von sowjetischen Truppen befreit, allerdings verschleppten die Deutschen Walentin und Soja, Gagarins ältere Geschwister, und missbrauchten sie als Zwangsarbeiter. Krank und ausgezehrt kehrten sie erst nach dem Krieg nach Hause zurück. Die Eltern hatten zu dem Zeitpunkt geglaubt, sie wären längst tot. Gagarin war damals elf Jahre alt. »Er wurde sehr schnell erwachsen«, erzählte seine Tochter Elena. »Immer wenn im Fernsehen ein Film über den Zweiten Weltkrieg lief, ging er aus dem Zimmer. Er wollte das nicht sehen.«[43] Aber dem Krieg verdankte Gagarin auch seine Leidenschaft für das Fliegen. Unmittelbar vor der Invasion der Nazis beobachtete er die Bruchlandung eines sowjetischen Kampffliegers unweit von Kluschino. Ein zweites sowjetisches Flugzeug landete in der Nähe und sammelte den Piloten ein. Der Pilot des zweiten Flugzeugs ließ Gagarin ins Cockpit klettern und erklärte ihm die Anzeigen und Armaturen. Der Junge war verzaubert. Einer der Männer gab Gagarin ein paar Stücke Schokolade – die er, wie seine sowjetischen Hagiographen uns versichern, mit seinen Freunden teilte. Aber es war nicht die Schokolade, die bei ihm hängen blieb, als die Piloten wieder davonflogen. Von da an träumte er davon, Pilot zu werden.
In der Zeit kurz nach dem Krieg waren Alexei Gagarins Fähigkeiten als Zimmermann überaus gefragt. Er zog mit der Familie in die nahe gelegene Stadt Gschatsk, und angesichts der enormen Zerstörungen dort gab es viel zu tun. Er zog nicht nur mit der Familie um, er nahm gleich das ganze Haus mit: Er baute es in Kluschino ab und verfrachtete es Balken für Balken auf Pferdekarren ins 25 Kilometer entfernte Gschatsk, wo er das Puzzle wieder zusammensetzte.[44] Nach der Schule machte der junge Gagarin eine Ausbildung zum Gießereifacharbeiter auf einer Handwerkerschule in Saratow, einer Stadt an der Wolga, 800 Kilometer südlich von Moskau. Die Zähigkeit und Eigenverantwortung, die er sich in Kriegszeiten angeeignet hatte, verbanden sich nun mit einer unerschöpflichen Energie und Zielstrebigkeit. Er lernte alles, was es an der Schule zu lernen gab, lieh mehr als 500 Bücher in der Schulbücherei aus. Er spielte Trompete, machte das Fotografieren zu seinem lebenslangen Hobby und spielte in einer Reihe von Theaterstücken mit – darunter auch das Erfolgsmusical mit dem bemerkenswerten Titel Große Baustellen des Kommunismus.[45] Und zusätzlich zu alledem fand er auch noch Zeit, bei fast jedem Sport mitzumachen, den die Schule anbot, darunter Skifahren, Leichtathletik und Basketball – er war Kapitän des Basketballteams, obwohl er bei weitem der Kleinste in der Mannschaft war. Er traf sich mit Mädchen und hielt Referate vor dem Physikclub der Schule; darunter übrigens auch eines über Konstantin Ziolkowski, den russischen Wissenschafts- und Raketenvisionär, dessen Werke eine Zukunft der Weltraumfahrt vorausahnten. Sie infizierten Gagarin, folgt man seiner von Ghostwritern verfassten Autobiographie Road to the Stars, mit »einer neuen Krankheit, die in der Medizinwissenschaft keinen Namen hat – einen unwiderstehlichen Drang in Richtung Weltall«.[46]
Und er lernte auch das Fliegen. Als Kind hatte er sich nach dem Krieg den Jungen Pionieren angeschlossen, der erste Schritt auf dem Weg zur Mitgliedschaft in der Kommunistischen Partei, und seine Mutter Anna erinnerte sich oft, wie stolz er seine makellose Uniform und das rote Halstuch getragen hatte. In Saratow eröffneten ihm seine politischen Referenzen die Chance, in einen vom sowjetischen Militär geführten örtlichen Fliegerverein einzutreten. »Er ist ganz vernarrt ins Fliegen«, sagte sein Ausbilder. »Außerdem ist er ein fleißiger Arbeiter, und lebensfroh noch dazu.«[47] Gelobt wurde er zudem für seine Ordnungsliebe, eine weitere nützliche Eigenschaft. Und auch hier erkennen wir seine fast schon unheimliche Gabe, aus der breiten Masse hervorzustechen: Anlässlich seines ersten Alleinflugs war er im Cockpit sitzend und unter der Überschrift »Höher, schneller, weiter fliegen!« auf der Titelseite der Zeitschrift Junger Stalinist zu sehen – ein Geschenk für zukünftige sowjetische Biographen, wenn man einmal davon absieht, dass Stalin inzwischen offiziell geächtet war, weshalb dieses Detail niemals erwähnt wurde.
In jedem Fall winkte ihm eine Karriere in der Luftwaffe. Nach dem Schulabschluss mit – wie nicht anders zu erwarten – Bestnoten in 31 von 32 Unterrichtsfächern wurde Gagarin die Chance angeboten, sich in Tomsk zum Gießereitechniker weiterzubilden. Wenig überraschend entschied er sich stattdessen für eine Ausbildung zum Jagdfliegerpiloten. Im Sommer und Herbst 1959, zu der Zeit, als die erste geheime Vorauswahl für das bemannte Raumfahrtprogramm der UdSSR getroffen wurde, flog er MiG-15-Maschinen am Polarkreis. Gagarin bot sich geradezu als Kandidat an. Seine ansteckende Vitalität, sein Talent, einen gefälligen Eindruck zu machen, seine Führungsqualitäten und seine Intelligenz, seine tadellosen Referenzen und seine soldatische Pünktlichkeit, sein bäuerlicher familiärer Hintergrund und selbst sein Gesicht, alles trug dazu bei, diese neue Tür zum Kosmos zu öffnen, wie sich für Gagarin seit dem Krieg alle Türen geöffnet hatten. Bei einem anderen Menschen hätte dieses charakterliche Gesamtkunstwerk vielleicht sogar abstoßend gewirkt, aber Gagarin besaß einfach eine natürliche Gabe, Freunde für sich zu gewinnen. Vielleicht war es die Lebenslust, die seine Fluglehrer bemerkt hatten, oder dieses umwerfende Lächeln; vielleicht auch etwas tiefer Verborgenes, um das ihn sein Freund und Rivale German Titow beneidete, als er meinte, Gagarin »konnte mit jedem reden […] in jeder Situation fand er den richtigen Zugang zu den Leuten«.[48] Die unausgesprochene Frage lautete nun, ob er auch den Schlüssel zur Unsterblichkeit finden würde.