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Kapitel 2 Wer hat den Russen hier reingelassen?

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19. Januar 1961

Washington, DC

Am Abend, bevor Präsident John Fitzgerald Kennedy seinen Amtseid ablegen sollte, tobte die Mutter aller Schneestürme über die Hauptstadt der Nation hinweg. Innerhalb weniger Stunden hatte sich eine 20 Zentimeter dicke Schneedecke über die Stadt gelegt, Chaos auf den Straßen ausgelöst und die schlimmsten Verkehrsstaus seit Menschengedenken heraufbeschworen. Tausende von Autos, deren Insassen bei der Zeremonie der Amtseinführung einen Blick auf ihren neuen Präsidenten und seine Frau Jackie erhaschen, diesen zujubeln und ihnen Glück wünschen wollten, waren einfach stehen gelassen worden, wo auch immer sie den Dienst versagt hatten oder stecken geblieben waren, oder vielleicht waren ihre Fahrer auch einfach mit ihrer Geduld am Ende gewesen. Am frühen Abend standen allein auf der Pennsylvania Avenue 1400 gestrandete Fahrzeuge – genau dort, wo am nächsten Tag die Parade stattfinden sollte. Der National Airport wurde geschlossen, und die Autobahnmeisterei der Stadt musste die komplette Flotte von 200 Schneeräumfahrzeugen in Marsch setzen, um die Lage in den Griff zu bekommen. Und selbst das reichte nicht. Die Temperaturen fielen immer weiter, und auch das Pionierkorps der Army und Pfadfindergruppen wurden herangezogen, um das Chaos rechtzeitig aus der Welt zu schaffen, damit die Ereignisse des folgenden Tages planmäßig vonstattengehen konnten. Sie arbeiteten fieberhaft die ganze Nacht hindurch, selbst Flammenwerfer kamen zum Einsatz, um den Schnee zu schmelzen. Es war, wie die New York Daily News schrieb, ein »Albtraum«.[12] Aber es gab keine Alternative. Der Amtsantritt des 43 Jahre jungen Präsidenten stand für die Mittagszeit des nächsten Tages auf dem Programm und konnte nicht warten – die Show musste weitergehen.

Während sich die Stadtverwaltung mit allem, was sie aufbieten konnte, durch die Nacht kämpfte, stürzten sich der gewählte Präsident und seine Jackie in eine atemberaubende Serie von Veranstaltungen im Vorfeld des Amtsantritts, die jede und jeden an ihre bzw. seine Grenzen gebracht hätten, was viele aus Kennedys Helferstab zweifellos unterschrieben hätten; allein, das prominente Paar schien das Ganze sogar zu genießen, und wenn überhaupt, machte der viele Schnee die Sache nur noch ausgelassener. Früher am Tag hatte sich »Jack« Kennedy mit dem aus dem Amt scheidenden Präsidenten Dwight D. Eisenhower im Weißen Haus getroffen. Die beiden unterhielten sich eine Stunde lang privat, und Eisenhower hatte ihm gezeigt, wie man einen Helikopter auf den Rasen hinter dem Weißen Haus kommen ließ. Der Gegensatz zwischen den beiden Männern hätte kaum größer sein können: Hier der alte Weltkriegsgeneral, der große Veteran des D-Day, geboren gegen Ende der Viktorianischen Ära, neben ihm der viel jüngere Mann, gut aussehend, schlank und mit seinem unwiderstehlichen Kameralächeln; er gab ein Bild ab, das nur so strotzte vor Gesundheit und Energie und das inzwischen allen Amerikanern vertraut war – auch wenn es ein Bild war, hinter dem sich eine kaum veröffentlichte Geschichte von Krankheiten, Operationen und schwersten Rückenproblemen verbarg.

Als die ersten Flocken fielen, hatte sich das junge Präsidentenpaar von seinem Haus in Georgetown aus in eine Nacht voller Partys aufgemacht. Jack prächtig herausgeputzt mit Frack und weißer Fliege, Jackie von blendender Schönheit in einem bodenlangen Ballkleid aus weißer Seide, während ein Bodyguard des Secret Service einen Schirm über das Haupt der kommenden First Lady hielt; zwei Gestalten, eingefangen in einem wahren Blitzlichtgewitter, die mit ihrem elektrisierendem Glanz für Millionen von Amerikanern das neue Jahrzehnt und die Zukunft überhaupt repräsentierten. Als das Paar an der Constitution Hall eintraf, um dem Konzert des National Symphony Orchestra aus Anlass des Amtsantritts beizuwohnen, steckte die Hälfte des Orchesters irgendwo im Schnee fest. Das Präsidentenpaar schien sich daran nicht weiter zu stören – man plauderte entspannt mit den anderen Gästen, bis die Musiker endlich den Weg in die Konzerthalle gefunden hatten. Als das geschafft war, ging es mit inzwischen einer Stunde Verspätung weiter zu einer Gala von Frank Sinatra im National Guard Armory, wo nicht nur Sinatra selbst auftrat, sondern auch Ella Fitzgerald, Nat King Cole, Gene Kelly und eine Reihe weiterer Stars – die Presse sprach von der rauschendsten Party in der Geschichte der Inauguration. Die Gala sollte die Hälfte des Defizits von drei Millionen Dollar wieder einspielen, das die Demokratische Partei im Präsidentschaftswahlkampf angehäuft hatte. Manche Gäste hatten 10000 Dollar für ihre Eintrittskarte bezahlt und wurden nun vom Wetter daran gehindert, die Veranstaltung zu besuchen. Ein für die Berichterstattung über das Weiße Haus zuständiger Korrespondent, Hugh Sidey vom Time Magazine, beschrieb die Auftritte als »nicht enden wollend«, und Jackie Kennedy hätte diesem Eindruck insgeheim vermutlich nicht widersprochen, jedenfalls machte sie sich gegen halb zwei in der Nacht auf den Heimweg, um noch ein paar Stunden Schlaf abzubekommen; ihr Gatte blieb dagegen bis zum Schluss, immer dieses umwerfende Lächeln auf den Lippen, bevor er sich in den schlimmsten Schneesturm in der Geschichte der Hauptstadt stürzte und sich zu noch einer weiteren Party aufmachte, die sein Vater Joe Kennedy in einem schicken neuen Restaurant in Downtown schmiss. Gegen 03:30 Uhr war er endlich wieder daheim, um vier Uhr, als sich die Flammenwerfer noch durch den Schnee in den Bäumen an der Pennsylvania Avenue fraßen und Leute vom Secret Service Gullydeckel verschlossen, damit sich kein Attentäter dort verstecken konnte, hatte er sich schlafen gelegt. Seinen Amtseid, die Antrittsrede, die Parade und weitere fünf festliche Bälle anlässlich des Amtsantritts am nächsten Tag hatte er noch vor sich.

Keine 200 Meilen südlich der Hauptstadt saßen am gleichen Abend, an dem die Kennedys ihr Haus verließen und den ersten Schneeflocken trotzten, sieben Männer in einem Schulungsraum des NASA-Forschungszentrums in Langley, Virginia. Das Zentrum gehörte zu einem Testgelände für Luft- und Raumfahrt, das sich über mehrere Hundert Hektar Land am südöstlichen Rand der Virginia-Halbinsel unweit von Newport News erstreckte. Seit seiner Einrichtung im Jahr 1917 als Außenposten des NACA (National Advisory Committee for Aeronautics, dem Vorläufer der NASA) war das Gelände zu einem Labyrinth aus Hangars, Werkstätten, Windkanälen, Ingenieurbüros und Laboratorien angewachsen. Hier wurden einige der fortschrittlichsten Fluggeräte, die Menschen jemals ersonnen hatten, auf alle nur denkbaren Arten von Bedingungen getestet, mitunter auch absichtlich bis zur Zerstörung der jeweiligen Testobjekte. Langley war das angestammte Testgelände der Luftfahrt. In dieser Ansammlung von Gebäuden war die Speerspitze amerikanischer Innovation im Luftfahrtbereich zu Hause.

Und es ging nicht nur um Innovationen im Luftfahrtbereich. Als die neue US-Raumfahrtbehörde NASA 1958 an die Stelle des NACA trat, übernahm sie eine ganze Reihe der Einrichtungen in Langley. In einer davon, Gebäude 60,[13] einem unauffälligen zweistöckigen Backsteinbau, flankiert von einem säuberlich gemähten Rasen, warteten an diesem Abend nun die sieben Männer, gerade als der Schneefall einsetzte.

Wie sie da an ihren Metalltischen saßen, hätte man sie fast für eine Schulklasse halten könnten, wären es keine gestandenen Männer in ihren Dreißigern gewesen. Die meisten davon trugen Shirts aus Ban-Lon, und alle waren in blendender körperlicher Verfassung. Für die amerikanische Öffentlichkeit waren ihre Gesichter bereits Berühmtheiten, schließlich zierten sie regelmäßig die Seiten einer der meistgelesenen Wochenzeitschriften des Landes, des Magazins Life, mit dem sie außerdem einen äußerst lukrativen Exklusivvertrag abgeschlossen hatten.[14] Die Leser wussten inzwischen alles über sie – oder glaubten zumindest, alles zu wissen, denn die dunkleren Seiten der Biographien hatte man geflissentlich übertüncht: Hobbys, Familie, Lebensgeschichte, bisherige Karriere als Testpiloten für das Militär, ihre Ängste und Träume, die Autos, die sie fuhren, und die Modemarken, die ihre perfekt gestylten Gattinnen bevorzugten. Von dem Augenblick an, an dem die sieben Männer bei einer brechend vollen Pressekonferenz im NASA-Hauptquartier in Washington am 9. April 1959 die Bühne der Weltöffentlichkeit betreten hatten, waren sie zu Prominenten geworden, und das aus einem schlichten Grund: Das waren die Männer, die als erste amerikanische Astronauten auserkoren worden waren. Man taufte sie die »Mercury Seven« nach dem Projekt Mercury, dem US-Programm für die bemannte Weltraumfahrt. Sie alle waren Freiwillige, jeder Einzelne nach einem schonungslosen medizinischen und psychologischen Testprogramm Anfang 1959 ausgewählt aus Hunderten ähnlich qualifizierter militärischer Testpiloten. Für die Presse, wenn auch vielleicht nicht in der Realität, waren dies die sieben mutigsten und besten Piloten des Landes. Jeder von ihnen war bereit und willens, für sein Land zu fliegen und, wenn es sein musste, zu sterben, irgendwo da oben im unerforschten Territorium namens Weltall. Sie waren Amerikas Gladiatoren im Kampf um die Sache der Freiheit. Kein Wunder, dass fast jeder Amerikaner den zukünftigen Helden zu Füßen lag.

Die erwähnte Pressekonferenz lag nun zwei Monate zurück, und trotz eines intensiven und anspruchsvollen Trainingsprogramms während der ganzen Zeit war keiner der sieben auch nur in die Nähe des Weltraums gekommen. Die vorläufigen Termine wurden immer wieder nach hinten verschoben. Das jüngste Gerede vom März als möglicher Termin hing von dem für Ende Januar geplanten Testflug mit dem Schimpansen ab, der innerhalb der nächsten knapp zwei Wochen über die Bühne gehen sollte. Nur wenn dieser Test erfolgreich war, konnte einer der sieben, die da in ihrem Klassenzimmer saßen, darauf hoffen, als Nächster an der Reihe zu sein. Allen war klar, dass die Sowjets ebenfalls planten, einen Menschen ins Weltall zu befördern – und zwar bald –, auch wenn es keinerlei offizielle Bestätigung des Sowjetstaats für diesen Plan gab, oder auch nur für irgendwelche sowjetischen Astronauten, die sich genau wie sie mitten im Training befanden, oder irgendwelche wie auch immer geartete konkrete Angaben zu dem Thema. Trotzdem wussten alle Bescheid. Und für den Fall, dass jemand einer Gedächtnisstütze bedurfte: Die sowjetische Presse ließ von Zeit zu Zeit immer wieder einmal mit Freuden deutliche Hinweise fallen, vor allem nach glänzenden Erfolgen wie der Erdumrundung von Belka und Strelka im August des Vorjahres. »Kosmonauten machen sich reisefertig« lautete eine stolze russische Überschrift hinterher, und die überaus beliebte Illustrierte Ogonjok, sozusagen die sowjetische Version von Life, konnte ihre Begeisterung nicht mehr zurückhalten: »Weltall, mach dich bereit, der Sowjetmensch kommt«.[15] Im Unterschied zu Life verzichteten die Berichterstatter von Ogonjok allerdings auf jeden Hinweis, wer denn dieser Sowjetmensch sein würde oder was für ein Auto er fuhr, oder ob er überhaupt existierte. Diesbezüglich herrschte Schweigen im Walde allenthalben.

Und doch konnte es gar nicht anders sein: Auch der Ausflug eines bemannten sowjetischen Raumschiffs ins All stand unmittelbar bevor. Fünf Monate waren seit der Reise von Belka und Strelka vergangen. Derweil warteten die Amerikaner noch immer darauf, dass ihr Schimpanse abhob. Und Belka und Strelka hatten die Erde geschlagene 18 Mal umrundet. Das bedeutete zwingend, dass der bemannte Raumflug der Sowjets ebenfalls rund um den Erdball führen würde; der Raumflug der Amerikaner dagegen würde, zumindest vorerst, nur kurz sein und sich unterhalb des Orbits abspielen. Einen Menschen in den Orbit zu katapultieren erforderte riesige Raketen mit enormem Schub, die die Sowjets bereits hatten, die Amerikaner aber erst entwickelten. Wie und warum dieses alarmierende Ungleichgewicht entstehen konnte, war eine Frage, die für lange Zeit zahlreiche amerikanische Leitartikel und Kongressanhörungen beschäftigte. In der Praxis bedeutete es schlicht und einfach, dass die ersten amerikanischen Astronauten, genau wie der erste amerikanische Schimpanse, lediglich in der Lage sein würden, eine einfachere ballistische Flugbahn zu absolvieren; mehr als ein Kurzbesuch im All, knapp außerhalb der Erdatmosphäre, bevor die Schwerkraft die Kapsel nach wenigen Minuten wieder zurück in Richtung Erdoberfläche zog, war nicht drin. Die Flugbahn wäre eher bogenförmig wie bei einem Artilleriegeschoss, nur dass eben ein Schimpanse – oder ein Mensch – in diesem Geschoss saß. Doch selbst wenn dieses kurze suborbitale Auf und Ab technologisch weniger Eindruck machte als eine Umrundung der ganzen Erdkugel mit einer Geschwindigkeit von fast 29000 Stundenkilometern, war es doch wichtiger als alles andere. Schließlich war für die Öffentlichkeit und die Medien in Amerika das Weltall immer noch das Weltall, ob ein Mensch nun ein paar Minuten oder ein paar Stunden dort verbrachte, und das Einzige, worauf es ankam, war, es als Erster zu schaffen – und das Ganze nach Möglichkeit auch noch zu überleben.

Die sieben US-Astronauten in spe standen noch vor einer weiteren und vielleicht sogar dringlicheren Frage: Welcher von ihnen würde der Auserwählte sein? Wie fast das ganze Land waren sie frustriert ob all der Verzögerungen und Verschiebungen in diesem Raumfahrtprogramm, aber sie verstanden auch, dass es für eine Mission dieses Ausmaßes und dieser Ambition keine lehrbuchmäßige Vorlage geben konnte; das Lehrbuch wurde gerade erst geschrieben und immer wieder umgeschrieben, während die Dinge ihren Lauf nahmen. Als Testpiloten wussten sie, dass viele dieser Verzögerungen unvermeidlich waren, nicht zuletzt aufgrund der sehr praktischen Überlegung, dass schließlich sie es waren, die den Kopf hinhalten mussten, wenn da oben irgendetwas schiefging. Schließlich wollte keiner von ihnen sterben; das konnte aber keinen Einzigen von ihnen von der Hoffnung abhalten, er selbst würde es sein, der seinen Kopf würde hinhalten dürfen.

Bislang war keinem von ihnen gesagt worden, wem diese Ehre zuteilwerden würde, aber der eindeutige Favorit der Presse war John Glenn, ein ehemaliger Marinepilot, der 59 Einsätze im Zweiten Weltkrieg geflogen war, drei Flugzeuge der Kommunisten im Koreakrieg abgeschossen hatte, fünf Mal das Distinguished Flying Cross für herausragenden Mut verliehen bekommen hatte. Außerdem hatte er 1957 den Weltrekord für den schnellsten Düsenflug quer über den Kontinent der Vereinigten Staaten aufgestellt, und er war mehrmals als Kandidat in der überaus beliebten CBS-Fernsehshow Name That Tune aufgetreten – in seiner schicken Uniform, ein breites Lächeln im Gesicht und die Brust voller Medaillen. Die Leute liebten Glenns Spitznamen »Ol’ Magnet Ass«, den er sich eingehandelt hatte, weil er bei seinen Kriegseinsätzen so oft in feindliches Feuer geraten war. Alles in allem war das doch eine eindrucksvolle Vita, und mit seinem breiten, grinsenden Gesicht voller Sommersprossen, seinem überzeugten und regelmäßigen Besuch der presbyterianischen Kirche, seinen ebenso regelmäßigen Auftritten bei der Sonntagsschule und seinen mit Überzeugung hochgehaltenen familiären Werten schien Glenn nicht nur nach Aussehen und Klang der geradezu geborene amerikanische Astronaut zu sein, sondern der erste geborene amerikanische Astronaut. Er selbst sah das mit Sicherheit genauso. »Ich glaube, dass einer, der sich das nicht wünscht«, nämlich der Erste zu sein, »einfach nicht in dieses Programm gehört«, erklärte er einmal.[16]

Als aussichtsreichster Rivale in dem Rennen galt Alan Shepard, ein 37-jähriger ehemaliger Navy-Pilot, zwar ohne Kampfeinsätze – ein potenzieller Schwachpunkt gegenüber Glenn –, der jedoch Testflüge mit einigen der schwierigsten und anspruchsvollsten Maschinen an der Navy-Schule für Testpiloten in Patuxent River (Maryland) vorzuweisen hatte: schnelle, schwierige Flugzeuge mit Namen wie Banshee, Demon oder Panther, in denen, so hieß es, man stets fürchten musste, in Panik zu geraten. Zu Shepards zahlreichen Spezialitäten gehörte das Landen auf einem Flugzeugträger in rauer See bei Nacht, was der gefährlichsten Flugübung überhaupt gleichkommt, und er hatte sich auch beigebracht, wie man eine Maschine aus 40000 Fuß Höhe ohne Triebwerk zur Landung bringt. Er war ein brillanter Pilot, der einmal nur zum Spaß einen Looping unter der Chesapeake Bay Bridge hindurch gedreht hatte – der Spaß hätte ihn um ein Haar seine Karriere gekostet. Ein anderes Mal drehte er in höchster Geschwindigkeit Fassrollen in einer dieser vertrackten Banshees, als plötzlich beide Flügeltanks abrupt abbrachen. Shepard brachte die Maschine trotz allem sicher zurück nach Patuxent. Sein Können als Pilot war legendär, ebenso seine unerschütterliche Ruhe, wenn eines seiner Flugzeuge auf einmal Zicken machte. »Der konnte einfach alles fliegen«, meinte ein Kollege.[17]

Shepard machte kein Geheimnis aus seinen Ambitionen als Astronaut: »Ich will der Erste sein, weil ich der Erste sein will«,[18] erzählte er einem Reporter, und er war zweifellos intelligent, vielleicht der intelligenteste von allen sieben Kandidaten, mit unbestreitbaren Führungsqualitäten, zudem mit einem enormen Talent zur technischen Analyse. Und Shephard hatte nicht bloß die heißesten Kisten des Landes in haarsträubenden Geschwindigkeiten, und manchmal auch kopfüber, geflogen, zu seinen Passionen zählten auch Wasserski, Golf und superschnelle Autos – und Frauen, behaupten zumindest manche. Er hatte verwegene blaue Augen und ein verschlagenes, breites Grinsen, das viele Frauen einfach unwiderstehlich fanden; dabei war sein Gesicht laut einem Porträt im Magazin Life durchaus nicht hübsch, aber trotz des spitz zulaufenden Haaransatzes immer noch jungenhaft und voller Charakter. Doch er konnte mitunter auch das Misstrauen der Leute erregen. Er war unterhaltsam und witzig, die Nettigkeit in Person, er konnte aber auch von einer Minute auf die andere kurz angebunden und unnahbar wirken – ein »cooler Typ«, hieß es im Life.[19] Einer seiner Spitznamen war der »Eiskalte Commander«. »Ich war noch nie mein eigenes Lieblingsthema«, erzählte er im gleichen Porträt und machte damit zugleich klar, dass er keine allzu bohrenden Fragen über seine Persönlichkeit hören wollte. Einige wenige, wie der spätere Apollo-Astronaut Gene Cernan, schafften es, »seine Abschottung zu durchbrechen« und »dadurch erkannte ich, was für ein unglaublicher Mensch er wirklich war«.[20] John Glenn schaffte das nicht. Shepard und Glenn waren jedenfalls keine dicken Freunde.

Sie waren die beiden Favoriten, aber noch immer gab es keinen Hinweis darauf, welcher von beiden – wenn überhaupt einer der beiden – der Glückliche wäre, der als Erster fliegen sollte. Nur ein Dummkopf hätte die anderen Kandidaten schon abgehakt. Da war Leroy »Gordo« Cooper, hager, gut aussehend, ein heimatverbundener Farmersohn aus Oklahoma und mit 32 Jahren der jüngste aller sieben Kandidaten. Als Buck-Rogers-Fan gestand er einmal, einer der Gründe für seinen Wunsch, Astronaut zu werden, wäre sein Interesse an UFOs. Dann war da Donald »Deke« Slayton, ein weiterer Farmersohn aus Wisconsin, ein ruhiger Mann mit gegerbtem Teint, ebenfalls ein herausragender Testpilot und nebenbei begeisterter Jäger; und Slaytons bester Freund und Jagdgenosse Virgil »Gus« Grissom, der kleinste der Gruppe, Veteran mit hundert Kampfeinsätzen in Korea; auch er konnte die Auszeichnung des Distinguished Flying Cross vorweisen, und er war ein berühmt-berüchtigter Schweiger. Dann war da noch Walter »Wally« Schirra, der Spaßvogel der Truppe, der mit Vorliebe Streiche spielte, ein Fan schneller Autos wie Alan Shepard, und einer der wenigen hartnäckigen Raucher unter den Mercury Seven. Schließlich gab es noch Malcolm Scott Carpenter, ein ehemaliger Navy-Pilot, dessen Aufnahme in diese Elitegruppe von Testpiloten für alle anderen ein Rätsel war; schließlich hatte er den größten Teil seiner Karriere damit verbracht, lahme und langweilige Propellermaschinen auf Patrouillenflügen zu steuern. Aber das war noch nicht das Schlimmste; noch übler war Carpenters Hobby, er spielte nämlich Gitarre, saß am liebsten daheim auf dem Sofa mit seiner geliebten Gattin Rene, als wäre er irgendein Beatnik – keine Spur von einem verwegenen, heißblütigen Piloten.

Alle sieben Männer brodelten nur so vor Konkurrenzdenken. Deshalb hatten sie es ja überhaupt erst in diesen Raum geschafft; das war es, was sie zur Flugschule gebracht hatte, zur Navy oder zu den Marines oder in die Air Force, allen sieben – mit Ausnahme von Carpenter – ging es darum, die heißesten Jets der Welt zu fliegen und mitunter auch das eigene Leben im Kampfeinsatz zu riskieren; das war es, was sie zwei Jahre zuvor veranlasst hatte, sich für diese neue und noch nie erprobte Karriere als Astronaut zu bewerben – sie wollten im wahrsten Sinn des Wortes nach den Sternen greifen und in fremdartigen, aufregenden neuen Maschinen fliegen, die kein bisschen so aussahen wie die Flugzeuge, die sie bisher gesteuert hatten. Und mit diesen Maschinen wollten sie in Regionen fliegen, die für die Flugzeuge für immer unerreichbar bleiben würden. Und aus genau diesen Gründen wollte jeder Einzelne von ihnen, vielleicht mehr als alles andere im Leben, die Russen und die anderen sechs besiegen, um für immer in die Geschichte einzugehen als Der Erste.

Vor Weihnachten waren die Astronauten aufgefordert worden, in einer Geheimabstimmung einen aus ihren Reihen zu benennen, der diese Position einnehmen sollte. Das Ergebnis der Abstimmung war aber nicht bekannt gegeben worden. Von Mitte Januar an, als der Flug des Schimpansen unmittelbar bevorstand, begann die Frage dringlich zu werden. Dann, am Tag vor Kennedys Amtseinführung als Präsident, war den Astronauten gesagt worden, sie sollten alle anderen Termine streichen und um 17 Uhr in jenem Schulungsraum erscheinen. Ihr Boss, Robert Gilruth, wollte sie sehen.

Seit November 1958 hatte Gilruth die Leitung der Space Task Group in Langley inne, der Organisation, die die NASA für die Durchführung von Project Mercury eingerichtet hatte. Er war eine erstklassige Besetzung: Als einer der herausragenden Luftfahrttechniker des Landes hatte er mit so ziemlich allem gearbeitet, von den britischen Spitfires während des Kriegs bis zu den hochmodernen, pilotenlosen Raketenflugzeugen der 1950er-Jahre. Er war ein echter Neuerer, mit Mitte vierzig noch immer relativ jung und angetrieben durch seine neue verantwortungsvolle Aufgabe, einen Astronauten ins Weltall zu bringen; und hinter einer täuschend ruhigen Fassade konnte er ausgesprochen entschlossen und tough sein. Fünfzehn Minuten lang warteten die Astronauten in ihrem Schulungsraum auf Gilruth, draußen wurde der Schneefall immer dichter. Normalerweise hätten sie die Zeit damit verbracht, sich zu unterhalten oder sich gegenseitig ein wenig auf den Arm zu nehmen. Jetzt fiel kaum ein Wort. Die Anspannung war, wie hinterher alle Beteiligten bestätigten, mit Händen zu greifen. Ausgerechnet Grissom, der »kleine Bär von einem Mann«, wie ihn Life beschrieb, der kaum je einmal ein Wort herausbrachte, riss einen Witz.[21] »Wenn wir noch eine Minute länger warten müssen«, sagte er, »muss ich wohl noch eine Rede halten.«[22] Bevor es dazu kam, betrat Gilruth den Raum.

Er schloss die Tür hinter sich und verlor keine Zeit. Er sagte den Astronauten, dies wäre »die schwerste Entscheidung, die ich jemals treffen musste«. Dann verkündete er, Alan Shepard würde den ersten Flug machen. Gus Grissom wäre als Nächster dran, und John Glenn war die Nummer drei. Glenn wäre auch der Reserve-Astronaut für beide, also Shepard und Grissom. Die anderen vier – Deke Slayton, Gordon Cooper, Scott Carpenter und Wally Schirra – würden für spätere Flüge eingeteilt. Gilruth nannte keine Gründe für seine Entscheidungen, jetzt nicht und auch später nie, jedenfalls nicht gegenüber Shepard selbst; allerdings ließ er später durchblicken, dass Shepards scharfer Verstand ein wichtiger Faktor gewesen war. Bevor er den Raum verließ, sagte Gilruth, diese Entscheidung dürfte noch nicht öffentlich gemacht werden. Der Andrang der Presse auf Shepard würde sonst zu heftig werden. Vorerst sollten die Astronauten die Nachricht für sich behalten. Gilruth dankte allen, wünschte ihnen Glück – und verließ den Raum.

Dort herrschte verblüffte Stille. Shepard erinnerte sich später, auf den Boden gestarrt zu haben, um seine Euphorie zu verbergen, während Gilruth das Ergebnis verkündet hatte. Er blickte erst auf, als Gilruth wieder draußen war. Sechs Augenpaare waren auf ihn gerichtet. Dann trat Glenn nach vorne und reichte ihm die Hand. Die anderen taten es ihm gleich, einer nach dem anderen. Kurz darauf waren alle gegangen, und Shepard befand sich allein im Raum.

Er blieb nicht sehr lange. Als ihm die ganze Tragweite dessen klar wurde, was ihm gerade widerfahren war, wusste er, dass er es seiner Familie sagen musste, ganz gleich, was Gilruth davon hielt. Er trat hinaus in die abendliche Dunkelheit und den Schneefall und fuhr zu seinem Haus in Virginia Beach. Er öffnete die Haustür, und seine Frau Louise fiel ihm um den Hals. Sie hatte das Grinsen erkannt, das sich über sein Gesicht zog, und sie wusste Bescheid. »Du hast es gepackt!«, sagte sie.[23] Die Ängste, die sie mit dieser Feststellung verbunden haben mag, behielt sie standhaft für sich. Sie war schon viel zu lange die Frau eines Testpiloten, als dass sie nun diese Ängste vor ihrem Mann ausbreiten würde. »Lady«, sagte Shepard, »du darfst darüber mit niemandem sprechen, aber du umarmst gerade den Mann, der als erster Mensch ins Weltall fliegen wird.« Louise ließ ihn los und blickte verschmitzt im Zimmer umher. »Wer hat den Russen hier reingelassen?«, sagte sie. Das sollte natürlich ein Witz sein; dabei kam sie dem Kern der Sache näher, als sie oder ihr Mann sich je hätten ausmalen können.

Ins All

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