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Kapitel 1 Pallos Hunde

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24. Dezember 1960

60 Kilometer westlich von Tura in Sibirien, UdSSR

Nichts als die Taiga, so weit das Auge reicht, dichte, dunkle sibirische Fichten-, Birken- und Tannenwälder, die sich bis zum Horizont und darüber hinaus erstreckten. Der Helikopter flog tief, das dumpfe Geräusch der Rotorblätter war das Einzige, was die einsame Stille dieser urzeitlichen Landschaft durchbrach, die ansonsten menschenleer und in tiefen Schnee gehüllt war. Der Schnee war überall. Er blendete die Sicht, bedeckte die Baumwipfel und machte es, wenn das denn überhaupt möglich war, für Arvid Wladimirowitsch Pallo[7] noch schwieriger, das zu finden, wonach er suchte. Das zur Neige gehende Tageslicht ließ die Sache auch nicht einfacher werden. In dieser Region Sibiriens und zu dieser Jahreszeit waren die Tage kaum vier Stunden lang. Der Flug dauerte jetzt fast 30 Minuten, und in zwei Stunden würde sich der Wald unter ihnen wieder in eine lange subarktische Nacht hüllen. Und dann könnte es für Pallo und sein Team bereits zu spät sein.

Irgendwo da draußen, an einem der entlegensten Orte auf dem Planeten, lag im Schnee eine leere Aluminiumkugel, knapp über zwei Meter im Durchmesser und mit einem Gewicht von zweieinhalb Tonnen. Und irgendwo ganz in der Nähe, so hoffte Pallo, befand sich eine versiegelte Metallkiste mit zwei Hunden darin. Er hoffte außerdem, dass die Hunde noch lebten, obwohl sie dafür die letzten zwei Tage in der extremen Kälte des sibirischen Winters hätten überstehen müssen, bei Temperaturen, die auf minus 40 °C fallen konnten, ganz zu schweigen von dem zutiefst traumatischen Geschehen, das sie zufällig überhaupt erst an diesen gottverlassenen Winkel der Erde verschlagen hatte.

Pallos Abenteuer hatte zwei Tage zuvor begonnen, am 22. Dezember, als eine R-7 die Kugel von der geheimen Raketenbasis im sowjetischen Kasachstan ins Weltall katapultiert hatte. In der Kugel befand sich die Metallbox mit den beiden Hunden. Die Geheimhaltung, die diese Mission umgab, ging so weit, dass man bis heute die Namen der Tiere nicht sicher weiß. Je nach Quelle waren es entweder Kometa und Schutka, oder Schulka und Schemtschuschina, oder, wie Pallo selbst schrieb, Schulka und Alfa. Wir wollen uns an Pallo halten und bleiben daher bei diesen Namen. Beide waren Mischlinge, Straßenhunde, die man in Moskau aufgelesen hatte. Der Zweck der Mission war es, die beiden Tiere in die Erdumlaufbahn und sicher wieder zurück auf die Erde zu bringen. Die Kugel hatte immerhin einen Namen: Für die Öffentlichkeit war es ein Karabl-Sputnik, ein »Raumschiff-Satellit« oder einfach Raumfahrzeug, die Konstrukteure des Geräts nannten es dagegen Wostok 1 – Wostok bedeutet Osten, und dieser Name war Geheimsache. Die Wostok 1 war ein Prototyp, im Prinzip die erste Version des Raumschifftyps, der, so hoffte man, eines Tages – eines nicht mehr fernen Tages – einen sowjetischen Genossen in den Weltraum befördern sollte, bevor den Amerikanern dasselbe gelingen würde. Schulka und Alfa sollten helfen, den Weg zu bereiten.

Das Schicksal ihrer Vorgänger war allerdings wenig ermutigend gewesen. Als sich Pallo am 24. Dezember in der eisigen Wildnis Sibiriens mit seinem Helikopter auf die Suche nach den beiden Hunden begab, hatte es seit Mai bereits fünf Wostok-Missionen gegeben, und bis auf eine waren alle fehlgeschlagen. Zwei Hunde waren beim zweiten Wostok-Flug zu Tode gekommen, als ihre Rakete 28,5 Sekunden nach dem Start explodierte. Beim vierten Flug hatten weitere zwei Hunde den Wiedereintritt in die Atmosphäre nicht überlebt. Das einzige Erfolgserlebnis hatte es im August gegeben, als zwei weitere Hunde, Belka und Strelka, zusammen mit 40 Mäusen, zwei Ratten, zahlreichen Fruchtfliegen und einem Kaninchen erstaunliche 18 Erdumrundungen hinter sich brachten und lebend wieder auf der Erde landeten. Dieser Flug, der dritte Wostok-Start, war ein sensationeller Erfolg gewesen. Erstmals war es gelungen, Lebewesen in eine Erdumlaufbahn und sicher wieder zurückzubringen. Die Amerikaner hatten noch nichts Vergleichbares zuwege gebracht, und natürlich feierten die sowjetischen Medien diese Tatsache gebührend. Doch abseits vom Glanz des medialen Erfolgs blieb die unausgesprochene Wahrheit, dass die Tiere nur durch Glück am Leben geblieben waren. Während der vierten Erdumrundung konnte man über eine eingebaute Fernsehkamera sehen, wie Belka sich übergab und offensichtlich leidend und verzweifelt an ihrem Gurtzeug zerrte, mit dem sie festgeschnallt war. Vor dem Wiedereintritt in die Erdatmosphäre war das Hauptorientierungssystem des Raumfahrzeugs ausgefallen, und man musste auf das Reservesystem zurückgreifen. Ohne dieses System wären Belka und Strelka zu einem langsamen und einsamen Tod verurteilt gewesen, hilflos gestrandet im Weltall.

Und nun, als anderswo in der Welt gerade das erste Weihnachtsfest des neuen Jahrzehnts begangen wurde, war auch dieser letzte, fünfte Wostok-Flug mit Schulka und Alfa aus dem Ruder gelaufen.

Exakt 425 Sekunden nach dem Start schaltete die dritte Antriebsstufe der R-7-Trägerrakete der Wostok-Mission zu früh ab. Die Folge war, dass das Raumfahrzeug die Erdumlaufbahn nicht erreichte. Stattdessen trennte sich die Kapsel automatisch von der Rakete, bevor sie in einem ballistischen Bogen über mehrere Zeitzonen der Sowjetunion hinwegrauschte. Doch als die Wostok mit den beiden in ihrer kleinen Box festgeschnallten Hunden mit mehreren Tausend Stundenkilometern Geschwindigkeit wieder zurück in die Atmosphäre stürzte, ging noch mehr schief. Zunächst einmal zündete die an Bord befindliche Bombe nicht.

Diese Bombe gehörte zur Ausstattung jedes Wostok-Hundeflugs und war der extremen Paranoia eines Regimes geschuldet, das auf keinen Fall seine technologischen Geheimnisse preisgeben wollte, schon gar nicht gegenüber den Amerikanern. Bekannt unter dem Codenamen A.P. O. für Avarynij Podriw Objekta – zu Deutsch »Notfallzerstörung des Objekts« – hatte sie die Funktion, genau dies zu tun, nämlich das Objekt, sprich: die Wostok zu zerstören für den Fall, dass sie abseits des geplanten Kurses, möglicherweise in einem fremden und vielleicht sogar kapitalistischen Land zu landen drohte. Für die sowjetische Führung galt das bereits als Notfall, auch wenn die Hunde an Bord da möglicherweise anderer Ansicht gewesen wären. Und genau dies war nur drei Wochen zuvor bei der vierten Wostok-Mission tatsächlich passiert, als ein Problem mit dem Bremstriebwerk anzeigte, dass die Kapsel außerhalb der Grenzen der UdSSR niedergehen würde. In diesem Fall hatte ein Sensor an der Bombe festgestellt, dass die Kapsel an einer falschen Stelle die Rückkehr zur Erde antrat. Die beiden Hunde an Bord, Ptscholka und Muschka – Kleine Biene und Kleine Fliege – wurden zusammen mit sämtlichen Spuren ihres Raumschiffs in die Luft gesprengt. Die staatliche sowjetische Nachrichtenagentur TASS ließ in einer kurzen Mitteilung verlauten, das Fahrzeug wäre aufgrund einer »nicht berechneten Flugbahn«[8] beim Wiedereintritt in die Atmosphäre verglüht. Von Bomben war nicht die Rede.

Und jetzt, als Schulka und Alfa nach dem Ausfall der dritten Triebwerksstufe zunächst in Richtung eines unbekannten Orts auf dem Planeten rasten, löste die Notfall-Objektzerstörung nicht aus – die Gründe sind bis heute nicht ganz klar. Es gab allerdings eine Reserve-Zeitschaltung, die die Sprengung nach sechzig Stunden aktivieren sollte, wobei allerdings auch hier die Details im Dunkeln blieben.[9] Wahrscheinlich ist, dass der Countdown zur Detonation einsetzte, sobald die Kapsel in intaktem Zustand auf der Erde gelandet war – wenn sie denn intakt gelandet war.

Die Krümmung der ballistischen Kurve wird immer steiler, je näher das Objekt in den letzten Flugminuten dem Erdboden kommt, daher stürzte die Wostok auf den Fluss Podkamennaja Tunguska zu, der in einem der unzugänglichsten Gebiete Sibiriens liegt. Das Ganze hatte etwas von einer Ironie des Schicksals: Das letzte Mal war anno 1908 ein Objekt aus dem All in dieser Gegend niedergegangen, ein Meteoriteneinschlag hatte damals mit der Zerstörungskraft einer Atombombe geschätzte 80 Millionen Bäume umgelegt. Derweil durchlebten die Hunde in ihrer versiegelten Box einen entsetzlichen Horror, als ihre kleine Kapsel auf ihrem Sturzflug durch die immer dichter werdende Atmosphäre gewaltig durchgeschüttelt wurde. Aber das war erst der Anfang ihres Albtraums.

In einer Höhe von sieben Kilometern hätte die Luke der Wostok eigentlich abgesprengt werden sollen, zweieinhalb Sekunden später wäre planmäßig der Behälter mit den Hunden ausgeworfen worden und am eigenen Fallschirm sicher in Richtung Erdboden geschwebt. Es war ein ähnliches System wie jenes, das eines Tages einen menschlichen Kosmonauten sicher zur Erde zurückbringen sollte; nur dass hier das System versagte. Die Luke und die Hunde wurden gleichzeitig abgesprengt, was zur Folge hatte, dass der Hundebehälter heftig gegen die Öffnung krachte, die Luke beschädigte und am Ende nicht mehr aus dem Fluggerät herauskam. Nun saßen die Hunde in der zur Erde stürzenden Kugel fest. Letztere war zwar auch mit Bremsfallschirmen ausgestattet, die den Aufprall dämpfen sollten, allerdings war das Gerät nicht dafür gebaut, mit den Hunden an Bord zu landen. Das Mindeste, was Schulka und Alfa bevorstand, war eine äußerst harte Landung, irgendwo in Sibirien und im tiefsten Winter. Und mit einer tickenden Zeitbombe an Bord.

An der Abschussbasis in Kasachstan und in einem geheimen Rechenzentrum vor den Toren Moskaus konnte sich zunächst einmal niemand erklären, was geschehen war. Über Stunden kamen keinerlei Signale von der Wostok. Funkdaten von der dritten Triebwerksstufe machten klar, dass diese versagt hatte, aber von der Kapsel selbst oder ihren beiden Passagieren war nichts zu hören. Dann, später an jenem Abend, fingen Radarstationen mit großer Reichweite in Moskau, Krasnodar und Taschkent erste schwache Funksignale von der Kapsel auf, von irgendeinem Ort tief in Sibirien. Das ließ darauf schließen, dass die Kapsel zumindest halbwegs erfolgreich gelandet war, wenngleich unklar blieb, in welchem Zustand. Ebenso wenig kannte man die exakten Koordinaten des Landeorts. Sofort wurden sechs Suchflugzeuge losgeschickt, die die Kapsel finden und die Hunde retten sollten, wenn sie denn noch am Leben waren – eine besonders schwierige Operation angesichts der Abgelegenheit der Region und der extremen Wetterverhältnisse. Dabei war das keineswegs eine Mission des Mitleids. Bevor man einen Menschen in den Weltraum schicken konnte, war es unerlässlich, derlei Unfälle präzise zu analysieren und die Fehler, die dazu geführt hatten, zu beheben. Und das hieß, man musste die Wostok in der kurzen Zeit, bevor der Selbstzerstörungsmechanismus auslöste, unbedingt finden.

Arvid Pallo und sein Bergungsteam hatten an der Luftwaffenbasis in Tura gewartet, einer sechzig Kilometer östlich des vermuteten Landeorts gelegenen einsamen Siedlung, als die Nachricht eintraf, dass eines der Suchflugzeuge die Kapsel gesichtet hatte. Er nahm sich einen Helikopter und machte sich auf in Richtung Zielort. Mit an Bord waren ein KGB-Offizier und Anatoly Komarow, ein leitender Ingenieur vom Institut in Leningrad, an dem die an Bord befindliche Bombe entwickelt worden war. Die Anwesenheit des KGB war keine Überraschung. Hier gab es Geheimnisse – nicht zuletzt die Bombe selbst, von der kompletten Mission ganz zu schweigen –, die auf keinen Fall in die falschen Hände geraten durften.

Pallo war der ideale Mann für diese Aufgabe. Der große, schlanke 48-Jährige hatte vor dem Krieg eine technische Ausbildung in einer Sprengstofffabrik absolviert – eine wertvolle Erfahrung angesichts dessen, was ihn am Fundort erwarten könnte –, bevor er bei der Entwicklung des ersten in der UdSSR gebauten raketengetriebenen Flugzeugs mitgearbeitet hatte, einer hochmodernen Konstruktion mit einem Triebwerk, das ebenso neu war wie extrem unzuverlässig. Pallos eigenes Gesicht war sichtbarer Beweis dieser Unzuverlässigkeit: Im Jahr 1942 war das Raketentriebwerk des Flugzeugs noch vor dem Start explodiert. Pallo war zum Ort des Geschehens gerannt, um den im Cockpit gefangenen Piloten zu retten, und zog sich Verätzungen durch die im Raketentreibstoff enthaltene Salpetersäure zu. Die Narbe zeichnete ihn für den Rest seines Lebens. Aber der Pilot hatte überlebt.

Pallos Helikopter näherte sich dem Ort, an dem die Kapsel lag, und es wurde immer klarer, dass der Hubschrauber zumindest nicht in unmittelbarer Nähe landen konnte. Die Bäume standen dort zu dicht. Über ihnen kreiste noch immer das Suchflugzeug, das die Wostok gefunden hatte, und hielt Sichtkontakt zum Zielobjekt. Pallo befahl, den Helikopter auf einem offenen Gelände in etwa 800 Meter Entfernung zu landen. Zusammen mit Komarow sprang er heraus, und im nächsten Moment standen sie bis zur Hüfte im Schnee. Es ist nicht überliefert, ob sich der KGB-Hauptmann den beiden anschloss oder nicht.

Bewaffnet mit Werkzeug und Funkgerät machten sich die zwei – oder drei – Männer auf in Richtung Wald. Schon nach 60 Metern waren sie vom richtigen Weg abgekommen. Der Schnee verwischte sämtliche sichtbaren Orientierungspunkte. Die Kälte verschlug ihnen regelrecht den Atem. Über ihnen funkte der Pilot des Suchflugzeugs, es würde schon bald dunkel, und er müsse demnächst zur Basis zurückfliegen. Pallo unterbrach ihn. Er ordnete an, der Pilot solle das Flugzeug in gerader Linie auf die Wostok zusteuern, um ihnen die Richtung zu weisen.

Sie stapften weiter durch den Schnee, und am Ende fanden sie die Kapsel tatsächlich. Die ramponierte Kugel lag auf einer kleinen Waldlichtung. Die Fallschirme hingen schlaff an Bäumen in der Nähe. Ein dicker Strang verbrannter Kabel baumelte seitlich aus der offenen Luke. Die Außenhülle war durch die enorme Hitze beim heftigen Rücksturz zur Erde versengt. Pallo hatte erwartet, irgendwo in der Nähe den Hundebehälter mit dessen eigenem Fallschirm zu finden, aber davon war keine Spur zu sehen. Dann spähte er durch die Luke der Wostok und erkannte, dass sich der Behälter noch im Fluggerät befand, was bedeutete, dass auch die Hunde noch darin sein mussten. Inzwischen waren über 50 der 60 Stunden vergangen, die bis zum Auslösen der Bombe vorgesehen waren. Wenn sie die Bombe nicht jetzt sofort im Dunkeln entschärften, würden Schulka und Alfa in Kürze in die Luft gejagt werden; wenn sie denn überhaupt noch am Leben waren, versteht sich.

In diesem Moment nimmt die Geschichte nach Pallos eigenen Erinnerungen eine wahrhaft surreale Wendung, da er spontan beschloss, die Bombe selbst zu entschärfen – eine einigermaßen erstaunliche Entscheidung, wenn man seine Vorgeschichte in Sachen Explosionen bedenkt. Er sagte Komarow, er solle hinter einem Baum in Deckung gehen, während er sich an der Bombe zu schaffen machte. Komarow weigerte sich mit dem Argument, das sei schließlich seine und nicht Pallos Bombe. Die beiden Männer standen tatsächlich neben einer ramponierten Raumkapsel inmitten der eisigen Wildnis Sibiriens und stritten sich. Am Ende ließen sie das Los entscheiden und zogen Streichhölzer. Komarow gewann. Pallo versteckte sich hinter dem Baum. Wir können nur vermuten, dass auch der KGB-Offizier in Deckung ging – wenn er überhaupt dabei war.

Komarow ging zur Kapsel und begann, mit diversen Kabeln zu hantieren, während Pallo das Geschehen hinter dem Baum stehend beobachtete. Als die Arbeit erledigt war, war es schon fast Nacht. Die Kapsel war nun gesichert, und Pallo beugte sich ein weiteres Mal hinein. Er versuchte, die Hunde durch die Bullaugen des Behälters zu erspähen, aber das Fensterglas war dick mit Eis bedeckt. Er klopfte mehrmals an die Wände der Kiste. Keine Antwort. Dann kam ein Funkspruch vom Helikopterpiloten, man müsse den Ort verlassen, bevor es zu dunkel würde. Es gab keine Alternative: Sie mussten die Kapsel zurücklassen und am nächsten Morgen wiederkommen. Für Schulka und Alfa bedeutete das eine weitere eisige Nacht in der sibirischen Kälte – die dritte Nacht. Inzwischen sprach allerdings praktisch alles dafür, dass sie tot waren.

Am nächsten Morgen flog Pallo zurück. Neben mehreren Leuten seines Bergungsteams hatte er auch den Tierarzt Armen Gjurdschian mit dabei. Ein weiteres Mal landete der Hubschrauber auf der Lichtung, ein weiteres Mal stapfte das Team durch den Schnee zur Raumkapsel. Diesmal griff Pallo sogleich in die Kapsel und hievte den versiegelten Behälter heraus. Dabei vernahm er ein schwächliches Bellen aus dem Inneren des Behälters. In aller Eile lösten die Männer die Verschlüsse und nahmen den Deckel ab. Und da lagen die zwei Hunde, noch immer festgeschnallt auf ihren Liegen, verängstigt und fast erfroren nach diesem drei Tage währenden Martyrium, aber, es war kaum zu glauben, beide waren am Leben.

Gjurdschian wickelte die zwei vorsichtig in seinen dicken Schaffellmantel und trug sie zum wartenden Hubschrauber. Eine halbe Stunde später waren sie zurück auf der Luftwaffenbasis in Tura; tags darauf waren sie wieder in Moskau, daheim in ihren Hundehütten am Institut für Luft- und Raumfahrtmedizin, wo man sie ausgebildet hatte. Sie waren in Sicherheit – dennoch drang kein Wort über ihr Martyrium oder auch nur die Existenz ihrer Mission zur Presse durch, und dabei sollte es noch mehrere Jahrzehnte bleiben. Derweil war für Pallo die Arbeit erst zur Hälfte erledigt. Um den Wettlauf um den ersten Menschen im All für die Sowjetunion und gegen die Amerikaner zu gewinnen, genügte es nicht, die Hunde heil nach Moskau zurückzubringen. Jetzt musste auch die Raumkapsel geborgen und zurücktransportiert werden.

Pallo sollte fast drei Wochen brauchen für seinen heroischen Treck über mehr als 3000 Kilometer im eisigen russischen Winter. Am 11. Januar, zwanzig Tage, nachdem sie das erste Mal die halbe UdSSR überquert hatte, war die Wostok wieder zurück in ihrem abgeschlossenen militärischen Komplex mit Namen OKB-1 bei der Stadt Koroljow (ehemals Kaliningrad) vor den Toren Moskaus, wo die Sowjets ihre Raketen entwarfen und die Wostoks konstruierten.

Gerade noch rechtzeitig. Nur sechs Tage zuvor, am 5. Januar, hatte Konstantin Buschujew, stellvertretender Chefkonstrukteur des OKB-1, den neuesten Zeitplan für den ersten bemannten sowjetischen Raumflug aufgestellt.

Inzwischen waren bei zu vielen »behundeten« Wostok-Missionen zu viele Dinge schiefgegangen. Und das war noch längst nicht alles, was aus dem Ruder gelaufen war. Keine drei Monate zuvor, am 24. Oktober, hatte sich auf der Raketenbasis in Kasachstan eine Katastrophe zugetragen. Eine vollgetankte Rakete des Typs R-16 war während der letzten Vorbereitungen für einen Testflug auf der Startrampe explodiert. Die Explosion war in der Nacht passiert. Das anschließende Inferno kostete mindestens 74 Menschen das Leben. Manche davon sprangen von den Gerüsten der Rampe in den Tod, manche verbrannten, manche erstickten in den dicken, giftigen Rauchwolken.[10] Auch mehrere hochrangige Raketentechniker waren zu Tode gekommen, darunter der Oberbefehlshaber der strategischen Raketenstreitkräfte der UdSSR, Marschall Mitrofan Nedelin, der seine Teams die Nacht hindurch von einem Deckstuhl aus angetrieben hatte, damit der enge Zeitplan bis zum Start der Rakete eingehalten würde. Was von seiner Leiche übrig war, konnte nur anhand seiner Medaille, einer Auszeichnung als Held der Sowjetunion, identifiziert werden, zusammen mit den halb geschmolzenen Schlüsseln für seinen Bürosafe.

Dies war bis auf den heutigen Tag der weltweit schlimmste Unfall in der Geschichte der Raumfahrt. Und er wurde absolut geheim gehalten. Von Nedelin wurde in den Sowjetmedien berichtet, er wäre bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen. Obwohl die Rakete, die hier explodiert war, nicht vom gleichen Typ war wie die R-7, mit der die Wostoks ins All befördert wurden, blieb die Katastrophe nicht ohne Folgen für das bemannte Raumfahrtprogramm der Sowjets. Mehrere bedeutende Konstruktionseinheiten hatten zu beiden Raketenprogrammen beigetragen. Nedelin persönlich hatte wichtige Besprechungen zum Themenkomplex Wostok geleitet. Das Ergebnis war eine weitere Verzögerung, die aus Buschujews Fahrplan ersichtlich wurde.

Es wurden nun für den Februar zwei weitere Testflüge geplant, jeweils mit einem einzelnen Hund an Bord. Erstmals sollte bei diesen Flügen eine nachgerüstete Version der Wostok zum Einsatz kommen – diese als Wostok 3 bekannte Version sollte eines Tages auch einen Menschen ins All bringen. Bei jedem Flug teilte sich ein Hund die Kabine der Kapsel mit einer lebensgroßen Menschenpuppe, gekleidet in einen Original-Raumanzug, wie ihn auch der echte menschliche Kosmonaut tragen sollte. Beide Flüge in jenem Februar sollten dem exakt gleichen Ablauf folgen wie derjenige, der anschließend den Kosmonauten auf die Reise schickte: eine einzige Erdumrundung, anschließend Rückkehr zu einem Ort in der UdSSR. Angesichts der Serie zuvor gescheiterter Wostok-Missionen galt es als zu riskant, mehr als eine einzige Erdumrundung zu planen. Wenn aber diese beiden Flüge erfolgreich verliefen, könnte die Mission mit einem menschlichen Kosmonauten als Nächstes folgen. Man peilte ein geheimes, wenn auch unverbindliches Datum für den März an.

Derweil stand auf der anderen Seite des Globus, in den USA, auch das Programm der NASA für den ersten Raumflug mit einem menschlichen Astronauten kurz vor der Vollendung. Das Programm wurde gegen Ende 1958 ins Leben gerufen und hieß »Project Mercury«, benannt nach Merkur, dem römischen Götterboten, dessen Helm und Sandalen bekanntlich mit Flügeln ausgestattet waren. Zweifellos eine passende Bezeichnung, wenn man einmal davon absieht, dass Merkur unter anderem die Aufgabe hatte, die Toten in die Unterwelt zu geleiten. Auch die Amerikaner waren von Unfällen, Explosionen und Verzögerungen nicht verschont geblieben, allerdings hielten sie diese, anders als die Sowjets, nicht geheim. Jetzt hoffte man bei der NASA, einen eigenen Testflug mit einem Tier starten zu können – hier war es kein Hund, sondern ein Schimpanse. Als vorläufiger Termin wurde Ende Januar festgelegt.

Um den Jahreswechsel waren sechs trainierte Schimpansen bereits von New Mexico nach Cape Canaveral geflogen worden, dem Weltraumbahnhof der Amerikaner in Florida. Einer der Affen sollte später für den Flug auserkoren werden. Im Erfolgsfall galt es als wahrscheinlich, dass ein Mensch als Nächstes an der Reihe war. In ihren öffentlichen Verlautbarungen hatte sich die NASA stets abgeneigt gezeigt, sich auf bestimmte Termine festzulegen – zu oft hatte man entsprechende Vorhaben verschieben müssen. Aber die Geschichte machte die Runde durch Amerikas Presse, und so konnten auch KGB-Agenten und sowjetische Raketentechniker lesen, dass dieser erste Weltraumflug mit einem amerikanischen Astronauten durchaus schon im März anstehen könnte.[11]

Nun ging es in diesem größten aller Menschheitsabenteuer unweigerlich um Alles oder Nichts. Keine 60 Jahre war es her, dass die Gebrüder Wright mit ihrem aus Draht und Segeltuch gebastelten Doppeldecker ein paar Meter vom Boden abgehoben hatten. Und jetzt sollte ein Mensch den ersten Schritt in Richtung der Sterne wagen. Er würde den Planeten hinter sich lassen, mit dem von Anbeginn an alles Leben fest verbunden gewesen war. Er würde sich in die lebensfeindlichste und gefährlichste jemals entdeckte Region vorwagen. Die Risiken waren von enormem Ausmaß. Es wäre ein Schritt in eine lange und furchterregende Liste von Unbekannten. Welche Supermacht auch immer in diesem kältesten aller kalten Kriege die Nase vorn hatte, sie würde sich einen gewaltigen technologischen, politischen und ideologischen Sieg über den Konkurrenten auf die Fahne schreiben können.

Und so wie die Dinge lagen in jener ersten Woche des Jahres 1961, unmittelbar vor dem Einzug eines neuen, jugendlichen und dynamischen Präsidenten ins Weiße Haus, hofften beide Supermächte auf den März als Monat der Entscheidung, und es ist gut möglich, dass beide genau den gleichen Tag anpeilten.

Ins All

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