Читать книгу Todesnacht - Stephen Booth - Страница 10

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Ben Cooper fuhr vom Parkplatz des Somerfield’s-Supermarkts, bevor das Seminar über Scheckkartenkriminalität zu Ende war. Er bedauerte nicht, dass er wegmusste. Und er ging auch nicht davon aus, dass Steve Judson es bedauern würde, auf ihn verzichten zu müssen. Zwei Anrufe auf seinem Handy waren zwei zu viel gewesen.

Als Cooper mit seinem Toyota in die Fargate einbog, beschleunigte und die Kreuzung mit der Chesterfield Road überquerte, zog er in Erwägung, Diane Fry anzurufen, um sie wissen zu lassen, wohin er unterwegs war. Allerdings würde sie ohnehin sehr bald von dem Zwischenfall in Foxlow erfahren, falls sie bislang noch nicht davon gehört haben sollte.

Aber Moment … drei Todesopfer, hatte sie gesagt, bei einem Hausbrand. Wenn sich herausstellen sollte, dass es sich dabei um böswillige Absicht handelte, würde die E-Division alle Hände voll zu tun haben. Mehrere Fälle gleichzeitig bearbeiten zu müssen war immer ein Problem, wenn ein größeres Ermittlungsverfahren dazwischenkam. In der Division gab es nur achtzehn Detective Constables, die verschiedenen Abteilungen angehörten. Im Durchschnitt hatte jeder Kriminalpolizist bei der Derbyshire Polizei immer drei Straftaten gleichzeitig auf dem Schreibtisch liegen – mit Ausnahme der Glossop-Abteilung, deren Mitarbeiter behaupteten, immer fünf gleichzeitig bearbeiten zu müssen. Allerdings waren in Glossop die Uhren schon immer anders gegangen.

Es sah ganz danach aus, als würde sein Privatleben wieder einmal auf Eis gelegt werden. Und das ausgerechnet jetzt, wo es anfing, interessanter zu werden.

Er überquerte die Brücke über den River Eden und fuhr auf der A623 nach Calver. Im Westen, hinter Abney Moor, befand sich sein ehemaliges Zuhause, die Bridge-End-Farm. Die Ortschaft Bakewell war noch ein kleines Stück entfernt, und von dort aus führte die Route über die A6 geradeaus nach Matlock.

Diese Gegend gehörte zu seinen Lieblingsecken im Peak District, da sie das Beste beider Welten zu vereinigen schien. Im Osten ragten hohe Sandsteinfelsen empor: Curbar Edge und Baslow Edge – dunkel, kahl und uralt. Doch hier unten in den Tälern verliehen die dichten Wälder der Landschaft einen völlig anderen Charakter. Zu dieser Jahreszeit konnte er sie wieder als seine Welt betrachten, die fast völlig ohne Touristen unter ihrer Decke aus herabgefallenem Laub zur Ruhe kam.

Und unter den Bäumen, inmitten der Felder und der Bruchsteinmauern, standen die kleinen Farmen. Wie Bridge End versuchte jede davon, sich für die Zukunft zu wappnen.

Schließlich kam er in Foxlow an, das zu jenen Ortschaften zählte, die aussahen, als würde dort nie etwas passieren, obwohl oft die schlimmsten Dinge geschahen. Tagsüber herrschte wenig Verkehr, und nachts waren die Straßen menschenleer. Zu dieser Tageszeit waren die Einwohner alle bei der Arbeit oder in ihren Gärten, oder sie hatten sich in ihre Wohnzimmer verkrochen und wunderten sich über das geschäftige Treiben im Freien.

Am Tatort Bain House wimmelte es bereits von Personal und Fahrzeugen. Als Cooper sich am Sammelpunkt meldete, stellte er mit Erstaunen fest, dass Polizisten der bewaffneten Unterstützungseinheit in schusssicheren Westen an der äußeren Absperrung mit ihren Schnellfeuerwaffen patrouillierten. Das konnte nur eines bedeuten.

Detective Inspector Paul Hitchens kam mit Wayne Abbott, dem Leiter der Spurensicherung, auf ihn zu. Hitchens trug einen dunklen Anzug mit Krawatte und pflegte damit sein Image als einer der bestgekleideten Detectives der E-Division. Abbott hatte seinen blassblauen Spurensicherungs-Overall an, und weder die Farbe noch die Unförmigkeit des Schutzanzugs passten zu seiner muskulösen Statur und zu seinem stoppeligen Kinn.

Detective Chief Inspector Oliver Kessen, der Divisionsleiter der Kriminalpolizei, wartete geduldig bei der Einsatz-Kontrolleinheit auf die beiden. Bis potentielle forensische Beweise gesichert und dokumentiert waren, hatte Abbott am Tatort das Sagen, und Leiter der Spurensicherung waren eifersüchtige Götter. Alle mussten vor dem Betreten auf seine Erlaubnis warten.

In irgendeiner Weise war es beruhigend, Kessen am Tatort zu sehen, auch wenn es auf die Brisanz des Vorfalls hindeutete. Obwohl der Detective Chief Inspector kein großer Mann war, hatte er die Gabe, zum Mittelpunkt des Geschehens zu werden, wo auch immer er gerade war. Er war der ruhende Pol inmitten der Ereignisse, die sonst womöglich im Chaos versunken wären. Heute wirkte er ruhig wie eh und je, als er sein Handy benutzte, um irgendein verwaltungstechnisches Problem im Büro zu regeln, während er auf Hitchens und Abbott wartete.

Cooper bewunderte ihn dafür. Es war viel besser, ruhig und gelassen zu sein, anstatt herumzuhetzen und im Anfangsstadium falsche Dinge zu tun. Genauso wäre er selbst gerne gewesen, falls er jemals in eine leitende Position kommen sollte. Doch er war sich nicht sicher, ob er dafür die richtige Veranlagung besaß. Vielleicht war das der Grund, weshalb er noch immer Detective Constable war.

Er begab sich an den Rand der Gruppe, da er hoffte, auf diese Weise ein paar Informationen aufzuschnappen. Die Details, die er bislang kannte, waren spärlich: Eine Frau war tot in ihrem Haus gefunden worden, und es gab möglicherweise Anzeichen, die auf einen Eindringling hindeuteten.

Der Detective Chief Inspector ließ sich Zeit, bis er sein Telefongespräch beendete. »Wurde sie ganz sicher erschossen?«, fragte er schließlich und richtete den Blick auf Abbott.

Abbott setzte die Kapuze seines Schutzanzugs ab, zog den Kragen vom Hals weg und streifte seine Handschuhe ab. »Kein Zweifel. Ich würde sagen, es wurden mindestens drei Schüsse auf sie abgefeuert.«

»Was veranlasst Sie zu dieser Annahme, Wayne?«

»Sie können es sich ansehen. Wir haben natürlich alles auf Video, aber Sie können sich auch selbst umsehen, wenn Sie möchten.«

Der Detective Inspector gab ein Handzeichen. Cooper fiel neben ihm in Gleichschritt, als sie auf das Haus zugingen.

»Der Name des Opfers lautet Rose Ann Shepherd. Ledig, soweit wir es beurteilen können. Anscheinend hat sie völlig allein gelebt – ohne Angehörige und ohne Bedienstete. Sie hatte seit etwa zehn Monaten hier im Ort gewohnt.«

»Wer hat sie gefunden?«, erkundigte sich Cooper und zückte sein Notizbuch.

»Alarm geschlagen hat ein Farmer aus der Nachbarschaft, aber eigentlich war es der Postbote, dem zuerst aufgefallen ist, dass irgendwas nicht stimmt – sein Name ist Bernie Wilding. Mr. Wilding sah, dass die Tote ihren Briefkasten nicht geleert hatte.«

»Dann ist sie also schon seit gestern tot?«

»Mindestens.«

Sie folgten der gekennzeichneten Route, um über die Treppe zum Schlafzimmer zu gelangen. Der Leichnam des Opfers lag noch genau dort, wo Police Constable Myers ihn gefunden hatte, halb auf dem Vorleger und halb daneben, in unnatürlichem Winkel verdreht. Die Tote sah aus, als habe sie sich zur Tür gedreht, einen Arm ausgestreckt, und sei dann durch den Fall seltsam verdreht zum Liegen gekommen. Die roten Flecken auf dem Schaffell-Bettvorleger waren auf den Teppich darunter durchgesickert und hatten das Nachthemd des Opfers durchtränkt. Cooper nahm zur Kenntnis, dass das Nachthemd blau war, nur ein oder zwei Nuancen dunkler als Abbotts Schutzanzug.

Im Schlafzimmer war es merklich kühler als im übrigen Haus. Und dafür gab es einen offensichtlichen Grund: Das Flügelfenster stand offen. Durch den Garten von Bain House wehte eine kühle Brise, die ein paar Blätter auf das Fensterbrett geweht hatte.

»Also«, sagte Kessen. »Drei Schüsse, sagten Sie?«

Abbott stand vor der Leiche. »Nun, sie wurde von zwei Schüssen getroffen. Der Gerichtsmediziner sagt, dass vermutlich schon einer davon ausgereicht hätte, um sie zu töten. Ganz sicher aber, um sie zu Boden gehen zu lassen.«

»Und wohin ging der dritte Schuss?«

»Der hat sie verfehlt. Die Kugel hat sich dort in die Schlafzimmerwand gebohrt, ganz oben in der Nähe der Decke. Sehen Sie?«

»Ja.«

»Sobald die Projektile sichergestellt sind, werden wir Ihnen mehr über die Waffe sagen können.«

»Todeszeitpunkt?«, fragte Kessen ohne großen Optimismus.

»Dem Gerichtsmediziner zufolge vor dreißig bis vierzig Stunden. Bis auf eine gewisse Reststeifigkeit am Unterleib war die Leichenstarre fast vollständig abgeklungen, als er das Opfer untersuchte.«

»Mein Gott, vierzig Stunden?«

»Höchstens.«

Hitchens sah auf die Uhr. »Das würde bedeuten, dass sich der Vorfall frühestens um neun Uhr abends am Samstag ereignet hat. Und spätestens um sieben Uhr morgens am Sonntag.«

Kessen schüttelte den Kopf. »Wie, in aller Welt, ist es möglich, dass eine Frau erschossen wird und dann fast zwei Tage tot daliegt, ohne dass es irgendjemand merkt? Warum hat sie niemand vermisst? Warum hat sich niemand Sorgen gemacht, als sie sich nicht blicken ließ und all das tat, was sie sonst auch immer tat?«

»Der Zeitpunkt ist natürlich nur eine Schätzung auf Basis der Körpertemperatur«, sagte Abbott. »Sie benötigen noch weitere Indizien, um ihn genauer zu bestimmen.«

»Ja, vielen Dank.«

»Tja, Berechnungen des Todeszeitpunkts anhand der Körpertemperatur haben die höchste Fehleranfälligkeit, wissen Sie. Newtons Gesetz der Abkühlung ist nicht gerade der modernste Ansatz.«

Aha, Newtons Gesetz der Abkühlung. Das war ein vertrauter Begriff, den Cooper aus seiner Ausbildung kannte und im Gedächtnis behalten hatte. Als er ihn erstmals hörte, hatte er sich einen Exzentriker aus dem siebzehnten Jahrhundert vorgestellt, der unter einem Baum saß und von einem Apfel auf dem Kopf getroffen wurde. Er kannte zwar nicht die mathematische Grundlage von Isaac Newtons Theorie, wusste jedoch, dass sie sich fast immer als ungenau erwies – daher wollten sich die Gerichtsmediziner auch nie festlegen und streckten den Zeitrahmen, als bestünde er aus Plastilin.

Wie alle anderen hatte er gelernt, dass die Todesstarre bei einem Leichnam nach zwölf Stunden ihren Höhepunkt erreichte und nach sechsunddreißig Stunden wieder vollständig abgeklungen war. Später hatte er allerdings herausgefunden, dass es ebenso viele verschiedene Meinungen wie Experten gab und dass unzählige Faktoren einen Einfluss hatten. Der Todeszeitpunkt sollte anhand von Zeugenaussagen bestimmt werden und nicht anhand körperlicher Indizien. Doch bislang gab es nicht den geringsten Hinweis auf irgendwelche Zeugen.

»Die bewaffnete Einheit können wir doch bestimmt nach Hause schicken, oder?«, sagte Hitchens. »Der Schütze ist längst über alle Berge.«

»Nicht bevor wir die Umgebung durchkämmt und alle Anwohner im Ort befragt haben«, sagte Kessen. »Wir können nicht wissen, ob er sich nicht irgendwo in der Nähe versteckt hat.«

»Ja, verstanden. Allerdings scheint es die Anwohner ein bisschen nervös zu machen, bewaffnete Polizisten auf der Straße zu sehen. Das ist man hier nicht gewöhnt.«

Kessen zuckte mit den Schultern. »Wie ist er eingedrungen, Wayne?«, erkundigte er sich. »Auf den ersten Blick sieht es so aus, als wäre der Täter durch dieses offene Fenster ins Haus gelangt.«

»Vielleicht. Aber es wurde nicht gewaltsam geöffnet – am Rahmen befinden sich keine Spuren von einem Werkzeug. Wir haben einige latente Fingerabdrücke gefunden. Die Ergebnisse sollte ich binnen einer Stunde bekommen.«

»Die Polizisten, die als Erste am Tatort waren, sind durch ein Seitenfenster ins Haus gelangt«, erklärte Hitchens. »Aber das mussten sie selbst einschlagen, was die Alarmanlage ausgelöst hat. In der Zentrale ist ein Anruf von irgendeinem Überwachungsraum eingegangen, aber zu diesem Zeitpunkt waren wir bereits vor Ort. Als ich hier ankam, hat die Alarmanlage noch immer wie verrückt geheult.«

»Unsere Polizisten haben die Alarmanlage ausgelöst? Nicht der Täter?«

»Nein, Sir.«

Kessen ging in den Korridor hinaus und blickte die Treppe hinunter. Ein Spurensicherer begutachtete irgendetwas unten im Hausflur.

»Was haben Sie da?«

»Eine Video-Sprechanlage. Sie muss mit dem Tor an der Einfahrt verbunden sein.«

Hitchens ging zu ihm, um einen Blick darauf zu werfen. »Ich habe an meinem Haus nicht einmal ein Tor, geschweige denn eine Sprechanlage. Ich wohne in einer von diesen offen angelegten Siedlungen. Jeder Mistkerl kann über meinen Rasen oder meine Zufahrt spazieren.«

»Das nennt man gemeinschaftliches Wohnen«, sagte Abbott.

»Ich weiß, wie ich es nennen würde. Also, wie funktioniert dieses Ding?«

Der Spurensicherer nahm den Hörer ab. »Wenn am Tor jemand auf den Klingelknopf drückt, wird er von einer winzigen Kamera gefilmt und ist hier auf diesem Bildschirm zu sehen.«

»Damit die Hausbesitzerin den Postboten sehen konnte und wusste, dass es sich nicht um einen Betrüger handelt.«

»So ist es.«

Cooper warf noch einmal einen Blick auf den Leichnam, während das Gespräch um ihn herum weiterlief. Die Stimmen hallten im Haus seltsam wider, als sei es nicht vollständig eingerichtet. Das Mobiliar war tatsächlich ziemlich spärlich. In den Zimmern, die er bislang gesehen hatte, befand sich nichts Überflüssiges oder Nutzloses. Das erinnerte ihn daran, als er seine eigene Wohnung in der Welbeck Street erstmals besichtigt hatte. Möbliert, aber trotzdem leer. Leer, weil niemand darin wohnte.

Irgendwie war es ihm unangenehm für die Tote, dass sie so auf dem Fußboden lag. Er wusste nichts über Rose Shepherd, war sich jedoch sicher, sie hätte es gehasst, dass sie jemand so sah. Ihr graues Haar war zerzaust und fiel ihr in losen Strähnen ins Gesicht. Sie hatte den Mund offen, und auf ihren Lippen war eine Speichelspur getrocknet. Auf den Fotos der Spurensicherung würde ein kleiner Riss im Nachthemd der Toten zu sehen sein sowie das blasse, faltige Fleisch auf der Rückseite ihrer Oberschenkel. Der Blitz würde ihre Krähenfüße an den Augenwinkeln, ihre schlaffe Haut am Hals und die ersten Altersflecken auf dem Rücken der Hand, die sich in den Bettvorleger krallte, erbarmungslos zur Schau stellen. Der Tod war für die äußere Erscheinung nicht gerade förderlich. Doch genauso würde Miss Shepherd verewigt werden.

Kessen kam zurück ins Schlafzimmer und sah aus dem Fenster. »Korrigieren Sie mich, wenn ich mich täusche«, sagte er, »aber hier steckt anscheinend eine ganze Menge Geld drin, nicht wahr?«

Abbott nickte. »Allein die Sprechanlage hat bestimmt ein paar hundert Pfund gekostet. Und wahrscheinlich noch mal das Doppelte für die Installation am Tor.«

»Es sieht also so aus, als ob die Tote unbedingt wissen wollte, wer bei ihr klingelt, oder?«

»Wir haben bereits mit der Befragung der Anwohner begonnen. Aber bislang waren sich alle, mit denen wir gesprochen haben, in Bezug auf eine Sache einig: Miss Shepherd hat nie Besuch bekommen. Außer vom Postboten – und selbst der ist nie weiter als bis zum Tor gekommen.«

»Überhaupt keinen Besuch?«

»So heißt es.«

»Nein. Wir haben bloß noch nicht mit den richtigen Leuten gesprochen«, sagte Kessen.

»Warum?«

»Na ja, das kann doch nicht sein, oder, Paul? Sie besitzen doch selbst ein Haus. Was ist mit all den Leuten, die kommen? Die Müllmänner, die die Tonne leeren, der Tankwagenfahrer, der Heizöl liefert, der Mann, der den Stromzähler abliest. Niemand kann einen Festungsgraben um sein Haus ziehen und sich alle vom Leib halten. Heutzutage ist das einfach nicht mehr denkbar. Das Leben hat alle möglichen Methoden, um einzudringen.«

»Trotzdem hat sich Rose Shepherd anscheinend völlig abgekapselt. Sie hat allein gewohnt, und nach allem, was man hört, hatte sie keinerlei Kontakt zu ihren Nachbarn. Niemand in der Pinfold Lane weiß, wer Miss Shepherds nächster Angehöriger ist oder ob sie überhaupt Verwandtschaft hat. Neben dem Telefon im Erdgeschoss haben wir zwar ein Adressbuch gefunden, aber es steht niemand drin, der auf den ersten Blick als Angehöriger zu erkennen ist. Offenbar handelt es sich bei allen Einträgen um routinemäßige Daten – Hausarzt, Zahnarzt, eine Autowerkstatt in der Gegend.«

»Im Haus muss doch irgendetwas sein, das uns Namen verrät. Ein Tagebuch, Briefe …?«

»Tja, wir suchen noch. Aber irgendwie ist das schon merkwürdig. Eigentlich wäre doch zu erwarten, dass sie solche Informationen an einem naheliegenden Ort aufbewahrt hat. Warum lässt sie uns danach suchen?«

»Versuchen Sie es mal mit einer Telefonrechnung. Überprüfen Sie, welche Nummern sie besonders oft angerufen hat, wer auf ihrer Liste mit Verwandten und Freunden gestanden hat.«

»Ja, Sir.«

»Wie lange hatte sie hier gewohnt? Wissen wir das?«

»Die Nachbarn sagen, ungefähr ein Jahr. Miss Shepherd ist allein eingezogen, und nichts deutet auf einen Ehemann hin. Einen geheimen Liebhaber, der sich durch die Hintertür hineingeschlichen hat, gab es auch nicht.«

»Wenn der Liebhaber geheim gewesen wäre, wüsste ja auch niemand von ihm, oder?«

»Das hier ist ein kleiner Ort«, sagte Hitchens, als ob das alles erklären würde.

»Ich finde, dieses Haus ist ziemlich groß für eine alleinstehende Frau.«

»Anscheinend hat sie niemanden beschäftigt, nicht einmal einen Gärtner oder eine Putzfrau. Die Dame aus dem nächsten Haus in der Straße sagt, Miss Shepherd hätte selbst hin und wieder Gartenarbeiten erledigt. Sie konnte sie von ihrem Schlafzimmerfenster aus sehen, wenn sie auf der anderen Seite der Hecke herumwerkelte.« Er blickte zu Kessen auf. »Verstehen Sie jetzt, was ich mit ›kleiner Ort‹ meine? Wer braucht da schon Überwachung?«

»Aber das Haus?« Kessen strich mit der Hand durch ein Spinnennetz. »Um ehrlich zu sein, hätte es nicht geschadet, wenn sich hin und wieder eine Putzfrau darum gekümmert hätte.«

»Vermutlich hat Miss Shepherd Gartenarbeit mehr Spaß gemacht als Hausarbeit.«

Kessen wandte sich wieder Abbott zu. »Wie sieht es mit den Sicherheitsvorkehrungen aus? Sie hatte doch eine Alarmanlage.«

»Und eine Alarmanlage der Spitzenklasse noch dazu. Sie wollte sichergehen, dass die Polizei benachrichtigt wird, wenn jemand bei ihr einbricht. Bewegungsmelder – also gibt es möglicherweise irgendwo eine Audioverbindung oder eine Überwachungskamera. Wir können bei der Überwachungszentrale nachfragen, ob bei ihr irgendwann einmal Alarm ausgelöst wurde. Das hier ist mehr als eine Anlage aus dem Baumarkt, die nur piepst.«

»Türen und Fenster?«

»Sicherheitsschlösser und Türbandsicherungen.« Abbott klopfte gegen das Oberlicht. »Verbundglas – das lässt sich normalerweise kaum einschlagen. Oh, und an ihrem Briefschlitz ist von innen eine Blende angebracht, damit niemand durchgreifen kann, um die Schlösser und Riegel zu öffnen. Der Briefschlitz an der Tür wurde allerdings nicht benutzt. Am Tor befindet sich ein Briefkasten.«

»Das Tor wurde wahrscheinlich nachträglich angebracht.«

Abbott ging im Zimmer umher. »Die Fenster sind doppelt verglast und haben abschließbare Griffe. Jalousien, die blickdicht sind, aber trotzdem nicht viel Licht wegnehmen. Und mir ist aufgefallen, dass es draußen sowohl Gitterlampen als auch Strahler mit Bewegungsmeldern gibt.«

»Anscheinend hat sie jemand gut beraten, was Sicherheitsvorkehrungen betrifft.«

»Neben dem Schreibtisch hier steht sogar ein Reißwolf. Sie ist kein Risiko eingegangen.«

»Dann wusste sie also, dass auch Papierkörbe geplündert werden. So clever ist nicht jeder. Mich würde interessieren, wo sie von der Gefahr von Identitätsraub erfahren hat.«

»Vielleicht durch diese Nottinghamshire-Geschichte vor einer Weile? Stand die nicht in den Lokalzeitungen?«

»Könnte sein.«

Cooper erinnerte sich ebenfalls daran. Die Polizei von Nottinghamshire hatte beschlossen, den Inhalt von Mülleimern aus Hunderten Haushalten zu analysieren, um herauszufinden, was die Leute alles wegwarfen. Eine unappetitliche Aufgabe, die jedoch interessante Ergebnisse lieferte. Wie sich herausstellte, enthielten neunzig Prozent der Haushaltsabfälle Informationen, die hilfreich für Betrüger waren. Die meisten Mülleimer enthielten den Namen und die vollständige Adresse einer Person im Haushalt, und in vielen fanden sich Kontonummern und Bankleitzahlen. Einige enthielten sogar alle Daten. Hilfreich? Das war beinahe dasselbe, als würde man jemandem sein Bankkonto zu Weihnachten schenken. Police Constable Judson wäre entsetzt gewesen.

»Das Einzige, was wir gefunden haben, ist ihr Pass«, sagte Hitchens.

»Ein britischer Pass?«

»Ja. Rose Ann Shepherd, britische Staatsbürgerin, geboren 1944 in London …« Er blätterte die Seiten um. »Keine Stempel.«

»Wie sieht’s mit einer Adresse aus?«

»Die Adresse steht nicht im Reisepass.«

»Nein, aber die meisten Leute lassen den nächsten Angehörigen eintragen. Einen Verwandten oder zumindest einen Freund – vielleicht auch zwei.«

»Da haben Sie recht.« Hitchens blätterte noch einmal zur letzten Seite. »Nein, Miss Shepherd nicht.«

»Niemand, der informiert werden soll, falls ihr etwas zustößt?«

»Offenbar nicht. Wissen Sie, für mich sieht dieser Pass fast unbenutzt aus. Meiner ist mittlerweile am Rücken ein bisschen verknittert und an einer Ecke leicht aufgebogen.«

»Tja, das würde erklären, warum er keine Stempel enthält.«

»Nicht unbedingt. Das bedeutet nur, dass sie damit noch nicht außerhalb von Europa war. Oder, genauer gesagt, außerhalb des Schengen-Gebiets. Man bekommt keinen Stempel, wenn man von einem Schengen-Land in ein anderes reist.«

Auf ihrem Passfoto sah Miss Shepherd äußerst vorteilhaft aus. Ihr Haar hatte einen dunkleren Grauton und war streng nach hinten gekämmt, sodass es zu ihrer weißen Bluse, ihren Ohrsteckern und ihrem dezenten Make-up passte. Sie hatte stechende blaue Augen, einen festen Blick und sah mit einem kaum merklichen Lächeln in die Kamera.

Hitchens nahm einen Anruf auf seinem Mobiltelefon entgegen. »Okay, das ist toll. Danke.« Er wandte sich Kessen zu. »Im Ort wurde am Sonntag in den frühen Morgenstunden ein Vauxhall Astra gesehen. Soweit wir wissen, gehört er keinem der Anwohner. Eine Zeugin ist sich ziemlich sicher, dass sie ihn bereits zuvor im Ort gesehen hat – und zwar ebenfalls spät in der Nacht.«

»Irgendwelche Einzelheiten?«

»Blau.«

»Dunkelblau? Könnte er nicht auch schwarz gewesen sein, da es finster war?«

»Nein. Hellblau, und er wurde unter der Straßenlaterne bei der Telefonzelle gesehen. Wir haben kein Kennzeichen, aber es beginnt wahrscheinlich mit einem X, also handelt es sich nicht um ein neues Modell.«

»Wissen Sie, Paul, bei diesem Fall sind wir darauf angewiesen, dass die Medien schnell mit an Bord kommen. Von diesem Haus führen keine offensichtlichen Spuren weg. Wir müssen einen Aufruf an die Bevölkerung richten, um den Fahrer dieses Astras ausfindig zu machen und jeden, der in den vergangenen achtundvierzig Stunden Kontakt mit Rose Shepherd hatte. Nein, in den vergangenen zwei Wochen. Mein Gott, keine Ahnung – jeden, der irgendwann in irgendeiner Form Kontakt mit ihr hatte, Punkt.«

Cooper sah überrascht auf, als er hörte, dass der Detective Chief Inspector sich in der Öffentlichkeit ein wenig aufregte.

Doch ihm war klar, was Kessen Sorgen bereitete. Nach jedem Mord waren die ersten vierundzwanzig Stunden die entscheidende Phase. Wenn man innerhalb dieses Zeitraums nicht auf eine eindeutige Spur stieß, musste man sich auf langwierige Ermittlungen einstellen – und die Chancen standen schlecht, dass der Fall erfolgreich zum Abschluss gebracht werden konnte. Dem Gerichtsmediziner zufolge war dieser Mord womöglich bereits vor vierzig Stunden geschehen, und es war keine einzige Spur in Sicht.

Aber warum wurde Rose Shepherd von niemandem vermisst? Das war die Frage, die der Detective Chief Inspector bereits gestellt hatte. Und es war eine gute Frage.

»Es gibt überhaupt kein Anzeichen dafür, dass jemand ins Haus eingedrungen ist«, sagte Kessen. »Abgesehen von dem offenen Fenster, an dem keine Spuren von Gewaltanwendung zu erkennen sind. Keine Werkzeugspuren, keine Beschädigungen. Richtig, Wayne?«

Abbott hielt sich sein Telefon ans Ohr. »Und auch keine Fingerabdrücke«, sagte er. »Ich habe gerade ein Update bekommen. Die einzigen Abdrücke, die wir am Fenster gefunden haben, stimmen mit denen des Opfers überein – und befanden sich auf der Innenseite.«

»Und alle anderen Fenster im Haus sind fest verriegelt. Warum war dieses nicht ebenfalls geschlossen? Hat irgendjemand einen Vorschlag?«

»Ja«, sagte Hitchens mit besorgtem Blick. »Weil jemand dieses Fenster benutzt hat, um aus dem Haus zu kommen. Ich habe allerdings keine Ahnung, wie er hineingekommen ist – ich kann nur vermuten, dass das Opfer ihn zur Eingangstür hereingelassen hat. Aber er muss auf diesem Weg geflüchtet sein.«

»Wir sind im ersten Stock. Ist er am Abflussrohr der Regenrinne runtergeklettert?«

»Wahrscheinlich.« Hitchens sah aus dem Fenster. »Hier gibt es gar kein Abflussrohr. Zumindest nicht in Reichweite.«

»Und einen dichten Efeu? Einen Schlingknöterich?«

»Nichts. Nur eine blanke Wand …« Hitchens zögerte. »Er muss gesprungen sein.«

»Aus dieser Höhe?«

»Ähm, ja.«

»In diesem Fall müssten sich die Fingerabdrücke des Eindringlings am Fensterrahmen befinden, Paul, und vielleicht ein paar Fasern seiner Kleidung am Fenstersims. Außerdem müssten unten am Boden, wo er aufgekommen ist, ziemlich tiefe Fußabdrücke sein. Oh, und wir müssten nach einem Verdächtigen fahnden, der zwei gebrochene Beine und eine gebrochene Wirbelsäule hat.«

Hitchens seufzte. »Also, welche Alternative gibt es?«

Kessen ging zu ihm ans Fenster. »Es gibt nur eine andere Möglichkeit: Dass gar niemand in dieses Haus eingedrungen ist. Das Opfer wurde von draußen erschossen.«

Hitchens starrte ihn an. »Vom Garten aus?«

»Nein, sehen Sie – das wäre der völlig verkehrte Winkel. Die Schüsse müssen vom freien Feld abgefeuert worden sein.«

»Aber das Fenster – warum war es offen?«

»Wayne hat gesagt, dass sich auf der Außenseite keine Fingerabdrücke befanden. Wie sieht’s innen aus?«

»Nur die des Opfers.«

»Dann ist die Sache doch ziemlich klar, oder?«, sagte Kessen. »Das Opfer hat das Schlafzimmerfenster selbst geöffnet. Und jemand, der auf dem Feld wartete, hat sie erschossen.«

»Um Gottes willen«, sagte Hitchens.

Kessen drehte sich wieder um und wandte sich an alle im Zimmer. »Sperren Sie die Straße da oben ab, machen Sie das Tor dicht, und schicken Sie die Spurensicherung und die Suchtrupps auf das Feld. Dort hat sich unser Schütze aufgehalten.«

Bevor sich die Aktivitäten nach draußen verlagerten, nutzte Cooper die Gelegenheit, das Innere des Hauses genauer zu inspizieren. Was ihm mit als Erstes auffiel, war der viele Staub. Kein Wunder, da es keine Putzfrau gegeben hatte. Und so wie es aussah, hatte Miss Shepherd selbst nur die allernötigste Hausarbeit verrichtet: im Wohnzimmer, in der Küche, im Badezimmer und in ihrem Schlafzimmer.

Doch es gab noch weitere Zimmer, die offenbar völlig unberührt geblieben waren. Als Cooper die Tür zu einem Gästezimmer aufmachte, rollten Staubknäuel über den Teppich, und von der Bewegung aufgeschreckte Spinnen krabbelten davon. Da die Vorhänge zugezogen waren, schaltete er das Licht an. Die Luft war voller feiner Staubpartikel, die im Luftzug vom Korridor umherwirbelten.

Die meisten Leute hatten keine Ahnung, woher der Staub bei ihnen zu Hause kam. Was den durchschnittlichen Haus- oder Wohnungsbesitzer betraf, hätte er genauso gut vom Mond stammen und nachts vom Himmel schweben können, um sich wie Schneeflocken auf den verfügbaren Oberflächen niederzulassen. Er mochte eine Unannehmlichkeit sein, aber er war etwas Natürliches und Normales, das ebenso zur Atmosphäre gehörte wie Sauerstoff.

Doch Cooper wusste es besser. Es gehörte zu den Dingen, die er als Teenager gelernt und niemals vergessen hatte. Er wusste, dass jeder Mensch auf der Welt stündlich Tausende von toten Hautzellen abwarf und binnen drei Tagen eine ganze Hautschicht verlor. Das war es, was in der Luft hing und in einem Sonnenstrahl tanzte, der durchs Fenster fiel. Das war es, was auf den Regalbrettern lag, sich in ruhelosen Flocken unter dem Bett sammelte und den Krempel auf dem Speicher umhüllte. Neunzig Prozent des Staubs in jedem Haus bestanden aus toter menschlicher Haut.

Auch die Ausstattung des Wohnzimmers kam ihm etwas merkwürdig vor. Gebrochenes Weiß und Dunkelgrau, fast keine Farbe. Das war irgendwie zu modern für ein so altes Haus und erst recht für eine Frau, wie Rose Shepherd sie gewesen zu sein schien. Zumindest in den Augen Außenstehender.

Hitchens streckte den Kopf zur Tür herein. »Ben, wir haben den Postboten herkommen lassen. Würden Sie bitte seine Aussage zu Protokoll nehmen? Er hat es sehr eilig, seine Tour fortzusetzen.«

»In Ordnung, Sir.«

Cooper warf einen letzten Blick auf die dunkelgraue Tapete um den offenen Kamin. Auf ihr war der Staub besonders deutlich zu sehen, es waren jedoch keine Fingerabdrücke zu erkennen. Und dann erinnerte er sich an eine andere Sache, die er über Hausstaub gelernt hatte: Auf jedem Körnchen saßen Tausende von Staubmilben. Genau in diesem Augenblick waren sie damit beschäftigt, sich an den toten Hautzellen gütlich zu tun.

Todesnacht

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