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Detective Constable Ben Cooper öffnete die Tür seines Kühlschranks und machte sie dann schnell wieder zu, als er den Geruch wahrnahm. Wenn er ihn noch dreißig Sekunden länger hätte riechen müssen, wäre ihm der Appetit auf sein Frühstück vergangen. Er hatte ein flüchtiges Nachbild von etwas Widerlichem, das in Plastik eingewickelt war und von der Innenbeleuchtung des Kühlschranks wie ein Beweisstück am Schauplatz eines Verbrechens eingefangen wurde, verrottet und verwest, seine DNA zu sehr verfallen, um noch brauchbar zu sein.

»Und, soll ich morgen früh mal bei dem Rechtsanwalt vorbeischauen?«, fragte er in sein Handy. »Das kann ich schon machen, wenn du willst, Matt. Aber ich bin mir nicht sicher, ob es was bringt.«

»Der bräuchte einen Tritt in den Hintern, das würde was bringen. Vielleicht sollte ich ihm morgen selber einen Besuch in seinem Büro abstatten, wenn ich mit dem Miststreuen fertig bin.«

Cooper lächelte bei der Vorstellung, wie sein Bruder mit matschverschmiertem Overall in die Kanzlei Ballard & Price stürmte. Matt konnte schon unter normalen Umständen ein wenig furchteinflößend sein, vor allem in geschlossenen Räumen. In seiner momentanen Stimmung hätte die Empfangssekretärin der Anwaltskanzlei vermutlich die Polizei gerufen, um ihn entfernen zu lassen.

»Das würde nichts nützen, weißt du.«

Matt seufzte frustriert. »Verdammte Schreibtischtäter und Bürokraten. Die haben anscheinend nichts Besseres zu tun, als anderen das Leben schwer zu machen.«

»Ich nehme an, Mr. Ballard macht auch nur seinen Job, wie wir alle.«

»Oh, ja. Er braucht nur viel länger dafür, das ist alles.«

Cooper strich mit einem Finger an der Kühlschranktür entlang und überprüfte die Gummidichtung auf Beschädigungen. Es war ihm nicht bewusst gewesen, dass manche Dinge so schnell so schlecht werden konnten, nur weil er ein paar Tage lang nicht im Kühlschrank nachgesehen hatte. Schließlich war es nicht einmal besonders warm. Der Oktober näherte sich dem Ende, und im Peak District war der Sommer vorbei. Allerdings hatte er den Kühlschrank mit der Wohnung übernommen und wusste deshalb nicht, wie alt er schon war.

»Ich weiß nicht, was ich sonst tun könnte«, sagte er. »Du bist der Testamentsvollstrecker, Matt.«

»Das habe ich nicht vergessen.«

Selbstverständlich wusste Cooper, was seinen Bruder beunruhigte und ihn so ungeduldig machte. Die gerichtliche Bestätigung des Testaments ihrer Mutter dauerte so lange, dass er sich langsam Sorgen um die Zukunft der Bridge-End-Farm machte. Wenn aus der Farm kurzfristig Geld gewonnen werden musste, ließ sich dies nur durch den Verkauf von Vermögenswerten bewerkstelligen.

»Ich dachte, du wüsstest ein bisschen mehr über Gesetze als ich«, sagte Matt.

»Tja, aber nicht über die Sorte von Gesetzen.«

Er verzichtete darauf, seinem Bruder zu sagen, dass seine Kenntnisse der Strafgesetzgebung ebenfalls etwas oberflächlich waren. Die Gesetzbücher enthielten achttausend strafbare Handlungen – und mehr als tausend davon waren erfunden worden, seit Cooper bei der Polizei angefangen hatte. Ohne die Handbücher wäre er ebenso verloren gewesen wie jeder andere.

Cooper wandte sich vom Kühlschrank ab und durchquerte die Küche, wobei er seiner Katze auswich, die ihn erwartungsvoll ansah, nachdem ihr das Gerücht zu Ohren gekommen war, dass es möglicherweise etwas zu fressen gab. An den Tagen, an denen er zu Hause war, schien für sie stündlich Essenszeit zu sein.

»Außerdem«, sagte er, »solltest du nicht vergessen, wie teuer sich Mr. Ballard seine Zeit bezahlen lässt.«

»Du hast recht, Ben. Dann ist es vermutlich besser, ihn nur anzurufen.«

»Das wird zumindest dafür sorgen, dass er die Angelegenheit im Gedächtnis behält.«

Einen Augenblick lang herrschte Schweigen. Die Brüder Cooper hatten sich schon immer beim Schweigen wohlgefühlt. Als sie gemeinsam auf der Farm aufgewachsen waren, mussten sie kaum miteinander sprechen, da jeder von ihnen wusste, was der andere dachte. Doch damals waren sie sich räumlich nahe gewesen. Man konnte die Gedanken eines anderen Menschen in seinem Gesicht lesen, in der Art und Weise, wie er sich bewegte, wie er atmete oder was er mit den Händen tat. Am Telefon war es jedoch etwas anderes. Hier fühlte sich Schweigen peinlich und verkehrt an. Von der Geldverschwendung ganz zu schweigen. Während Ben sein Mobiltelefon ans Ohr presste, fragte er sich, ob er von Vodaphone einen verbilligten Tarif für die Zeit bekommen konnte, in der er nichts sagte.

Doch in diesem Fall spürte er, dass hinter dem Schweigen seines Bruders mehr steckte als Betretenheit.

»Ist noch irgendwas, Matt?«

»Ja …«

Ben spürte, wie sich sein Magen zusammenkrampfte. Einen Augenblick lang glaubte er, sich übergeben zu müssen, und er warf einen Blick auf den Kühlschrank, um nachzusehen, ob sich die Tür von selbst geöffnet hatte und der widerliche Geruch ins Zimmer geströmt war. Nach dem Tod ihrer Mutter konnte es eigentlich nicht schon wieder schlechte Nachrichten geben. Doch er konnte eine Menge aus einem einzigen Wort seines Bruders herauslesen.

»Was ist los? Stimmt was mit einem der Mädchen nicht?«

»Nein, denen geht’s gut«, sagte Matt. »Na ja, das glaube ich zumindest.«

»Was du sagst, ergibt nicht viel Sinn, Matt.«

»Hör mal, Ben, ich habe mir für Freitag einen Termin im Krankenhaus geben lassen. Ich möchte nämlich mal mit Dr. Joyce reden. Und wenn nötig, werde ich fragen, ob ich auch mit dem Spezialisten sprechen kann, der Mum behandelt hat.«

»Wozu? Wir wissen doch, was sie hatte – es war eine Serie von Schlaganfällen. Das kommt bei Leuten in ihrem Alter oft vor.«

»Ich meine nicht die Schlaganfälle. Ich meine das andere Problem.«

In der Familie war Isabel Coopers Erkrankung nur selten beim Namen genannt worden. Lange Zeit war nur von »Mums Problem« die Rede gewesen. Gegen Ende, kurz bevor sie im Krankenhaus von Edendale an einer Gehirnblutung starb, wurde das »andere Problem« daraus. Inzwischen war Ben der Ansicht, dass es keinen Sinn hatte, zu vermeiden, den Namen der Krankheit in den Mund zu nehmen. Nachdem Mum nicht mehr da war, konnte es sie auch nicht mehr beunruhigen, wenn er jemandem versehentlich herausrutschte.

»Oh, ihre Schizophrenie.«

»Ja.«

»Ich verstehe nicht ganz, Matt. Was möchtest du noch herausfinden, das wir noch nicht wissen?«

»Darüber kann ich nicht am Telefon mit dir reden – es ist zu kompliziert. Kann ich irgendwann vorbeikommen? Ich habe einiges, das ich dir zeigen möchte.«

»Tja, diese Woche habe ich ziemlich viel zu tun …«

»Gibt’s was Neues?«

»Also gut, wie wär’s, wenn ich heute Abend nach Dienstschluss auf der Farm vorbeikomme?«

»Das passt gut.«

»Dann bis später.«

Cooper füllte eine Schale mit Katzenfutter und stellte sie im Wintergarten in der Nähe des Boilers der Zentralheizung auf den Boden. Randy war ein Kater mit einer festen Routine und genauen Vorstellungen, was sein Revier betraf.

Dann ging er zurück zum Kühlschrank, holte tief Luft und öffnete die Tür. Er fischte ein paar verfaulte Tomaten, einen halb vollen Tetrapack Milch und ein Stück Stilton-Käse heraus, auf dessen blauen Adern ein pelziger Schimmelteppich gedieh. Das alles landete in einem Plastik-Müllsack. Allerdings war er sich nicht sicher, ob tatsächlich eines dieser Dinge für den Gestank verantwortlich war. Als er im Gemüsefach am Boden des Kühlschranks herumstocherte, fand er einen verflüssigten Kopfsalat, der vermutlich der Schuldige war.

Nachdem er das Schlimmste ausgemistet hatte, beschloss er, den Kühlschrank vollständig auszuräumen und ihn einer gründlichen Reinigung zu unterziehen. Wahrscheinlich hatte er es auch nötig, abgetaut zu werden.

Doch dann zögerte Cooper. Das konnte er später auch noch tun, oder nicht? Oder sogar erst morgen. Er machte den Kühlschrank zu, stellte den Müllsack an die Wohnungstür und ging wieder ins Wohnzimmer zurück. Dann zog er Schuhe und Jacke an, sah nach, wie viel Geld er im Portemonnaie hatte, und vergewisserte sich, dass sein Handy geladen war. Ein leerer Telefonakku war genauso schlimm wie ein leerer Tank im Auto. Beides kam hin und wieder vor, aber es war besser, wenn es jemand anderem passierte.

Schließlich verließ er die Wohnung. Der morgendliche Verkehr kam ihm ausnahmsweise einmal vor wie Frischluft.

Das Gespräch mit Matt hatte ihn beunruhigt. Er hoffte, dass sein Bruder nicht mit zu vielen Sorgen auf einmal fertig werden musste. Allerdings bestand kein Zweifel daran, dass es einige Entscheidungen zu treffen galt, was die Zukunft von Bridge End betraf. In den Genuss der neuen finanziellen Förderung kamen vor allem die produktiveren Farmen in den Tälern, und das Einkommen eines Hochland-Farmers konnte sich halbieren, wenn er nicht bereit war umzudenken. Als Erstes musste womöglich die Kälberherde verschwinden – wie umweltfreundlich und pittoresk grasende Rinder auch sein mochten, sie waren inzwischen ebenso unrentabel wie Schafe.

Matt konnte sich mehr Milchkühe zulegen oder einfach einen Teil des Landes nicht mehr bestellen, um im Gegenzug Umweltsubventionen zu erhalten. Andererseits konnte er die Hoffnung, eine profitable Farm zu führen, aber auch ganz aufgeben und sich einen Job suchen, bei dem er Supermarktregale einräumen musste.

Auf dem Weg über den Marktplatz holte Cooper sein Handy hervor und wählte eine der gespeicherten Nummern. Sein Anruf wurde beinahe sofort entgegengenommen.

»Hallo, ich bin’s. Wie geht’s dir heute?«

Sie schien erfreut zu sein, von ihm zu hören, und allein der Klang ihrer Stimme sorgte dafür, dass es ihm besser ging. Ihm war nicht klar, wie sie das machte; vielleicht lag es daran, dass sie eine Zivile war.

»Oh, mir geht’s auch gut«, sagte er. »Nein, wirklich. Gar nichts ist los. Ich wollte nur wissen, wie es dir geht.«

Er hörte ihr eine Weile zu, wobei keiner von beiden viel sagte, doch es genügte, um ein Lächeln auf seine Lippen zu zaubern, als er die Hollowgate zum Raj Mahal überquerte und in Richtung Fußgängerzone ging.

Cooper musste das Gespräch beenden, als zwei Bekannte von ihm stehen blieben, um ihn zu begrüßen. Zunächst konnte er ihre Namen nicht einordnen. Doch er kannte so viele Leute in Edendale und Umgebung, dass das kein Wunder war. Gesichter aus seiner Kindheit verfolgten ihn auf Schritt und Tritt. Er sah einen alten Schulfreund nach dem anderen auf der Straße an ihm vorbeigehen. Es war genau das Gleiche wie mit bestimmten Ausdrücken, die er zum ersten Mal hörte und die dann scheinbar überall wiederholt wurden, als wollte ihm jemand eine Botschaft übermitteln. Was wollten ihm diese vertrauten Gesichter wohl mitteilen? Das ist der Ort, wo du hingehörst. Vielleicht.

Später am Vormittag beobachtete Cooper einen Mann im Sakko, der sich dem Bankautomaten vor dem Somerfield’s-Supermarkt näherte. Der Mann strich mit dem Finger über den Kartenschlitz und blickte sich dabei mit einem entschuldigenden Lächeln über die Schulter um. Er schien sich nicht sicher zu sein, ob es ihm gefiel, beobachtet zu werden.

Vor dem Supermarkt befanden sich zwei Geldautomaten, die beide an der Außenwand in der Nähe der Einkaufswagen-Sammelstelle angebracht waren, etwa fünfzehn Meter vom Haupteingang entfernt. Vor dem anderen Automaten hatte sich eine kleine Schlange von Kunden gebildet, die mit ihren Tragetaschen und Portemonnaies herumhantierten.

»Falls Sie irgendeinen Widerstand spüren, dann benutzen Sie ihn nicht. Das ist der beste Rat. Normalerweise sind hier ein paar winzige Zacken. Da, sehen Sie?«

Mit einer schnellen Fingerbewegung zog der Mann eine dünne, durchsichtige Hülle aus starrem Plastik heraus. Als er sie hochhielt, war auf der Rückseite eine Schlaufe zu sehen.

»Das ist der alte ›libanesische Schlaufentrick‹. Wenn man seine Karte hineinsteckt, hält die Schlaufe sie fest. Da der Automat den Magnetstreifen nicht lesen kann, fordert er einen immer wieder auf, dass man seine PIN eingeben soll. Wenn man wieder weggeht, holt der Verdächtige die Karte heraus und räumt das Konto leer. Bingo.«

»Aber eine solche Vorrichtung ist doch sicher leicht zu erkennen, oder?«, sagte jemand von den Zuschauern. »Wir haben ja gerade gesehen, wie Sie es gemacht haben.«

»Aber ich weiß auch, worauf ich achten muss.«

Police Constable Steve Judson hatte leicht ergrautes Haar, das er etwas länger trug als unter Polizisten üblich. Er gehörte der Einheit für Scheckkartenkriminalität an, die mit einer zunehmenden Flut von Geld- und Kreditkartenbetrug zu kämpfen hatte. Neuesten Statistiken zufolge war das ein lukratives Geschäft – das landesweit jedes Jahr mindestens vierzig Millionen Pfund abwarf.

Judson betrachtete die Schlange an dem anderen Geldautomaten. »Das ist eine typische Situation. Die Geldautomaten wären im Inneren sicherer, aber der Laden hat nicht rund um die Uhr geöffnet. Manche Kunden möchten sie spätabends benutzen, wenn dieser Parkplatz vermutlich leer ist.«

»Ist das Risiko dann höher als bei viel Betrieb an den Geldautomaten?«, fragte eine Polizistin der B-Division, die zusammen mit einem Kollegen über die Hügel hergefahren war, um an dem Seminar über Scheckkartenkriminalität teilzunehmen.

»Das Risiko ist ein anderes. Wenn Sie sich die Leute dort in der Schlange anschauen, sehen Sie, dass sie dicht genug hintereinanderstehen, um dem Vordermann problemlos über die Schulter blicken zu können. Nachts dagegen, wenn hier nichts los ist, würde man sofort Verdacht schöpfen, wenn jemand herkommen und einem über die Schulter spähen würde, oder etwa nicht?«

Auf dem Parkplatz waren auch Polizisten, die aus Nottinghamshire oder sogar aus Leicestershire angereist waren. Sie kannten sich nicht, waren aber vermutlich zukünftige Kollegen. An diesem Vormittag sprach niemand über die Zukunft, obwohl bei der Begrüßung sicher alle daran gedacht hatten.

»Vor nicht allzu langer Zeit hat das National Coroners Information System in amtlichen Bekanntmachungen davor gewarnt, dass sich Geldautomatenbanden von London aus entlang der M4 in Richtung West Country ausbreiten. War das eine Falschmeldung?«

»Nein, ganz und gar nicht. Diese Banden haben im West Country gute Geschäfte gemacht, deshalb haben sie beschlossen, landesweit zu agieren. Inzwischen operieren sie überall dort, wo sie genug Illegale rekrutieren können.«

»Illegale?«

Cooper konnte hören, wie einige Antennenpaare ausgefahren wurden, um in Alarmbereitschaft für abfällige Bemerkungen zu sein. Es war immer schwierig, zu entscheiden, wann man einen Kollegen wegen politischer Inkorrektheit melden sollte. Wenn man es tolerierte, setzte man die eigene Karriere aufs Spiel.

»Einige Illegale werden binnen vierundzwanzig Stunden, nachdem sie aus dem Boot aussteigen, für die Geldautomatenarbeit ausgebildet. Auf diese Weise können sie ihre Schulden bei den Schiebern begleichen. Das ist vermutlich besser, als sich für zwei Pfund in der Stunde auf einem Karottenfeld in East Anglia abzurackern.«

Niemand wagte es, zustimmend zu nicken, geschweige denn zu lachen. Ein Polizist aus Nottinghamshire neben Cooper trat in der abgebröckelten Rinde, die um die Wurzeln einer Zierbirke verstreut war, von einem Fuß auf den anderen.

Weiter vorn stellte jemand eine Frage zu Identitätsraub, die Judson vom Thema abschweifen ließ. Der Polizist aus Nottinghamshire beugte sich zu Cooper hinüber.

»Arbeiten Sie in Derbyshire?«, fragte er leise.

»Ja, ich bin direkt hier in Edendale stationiert. Detective Constable Cooper.«

»Ross Matthews. Hallo. Und wie ist es, hier zu arbeiten?«

»Ganz okay«, erwiderte Cooper vorsichtig.

Matthews nickte. »Ich bin aus St. Ann’s, und dort ist es ein Albtraum. Vielleicht beantrage ich eine Versetzung, wenn umstrukturiert wird.«

Er brauchte nicht zu erklären, wovon er sprach. Es war allgemein bekannt, dass die Zahl der regionalen Polizeikräfte bald drastisch reduziert werden würde. Eine Regierungskommission war zu dem Schluss gekommen, dass jede Polizeieinheit mit weniger als viertausend Mann zu klein sei, um mit ernst zu nehmender Kriminalität fertig zu werden. Deshalb würde Derbyshire mit Sicherheit aufgelöst werden. Auch beim größeren Nachbarn Nottinghamshire hatte es Probleme gegeben, die so viel Publicity bekamen, dass der Chef der dortigen Polizei schließlich einräumen musste, seine Mitarbeiter seien überfordert. Schon in wenigen Monaten würden alle an diesem Vormittag versammelten Polizisten vermutlich für eine riesige East-Midlands-Polizeieinheit arbeiten.

»Warum nicht?«, sagte Cooper. »Wir können hier immer Hilfe gebrauchen.«

Er bemerkte, dass Judson zu reden aufgehört hatte, über die Köpfe der Gruppe hinweg zu ihm hersah und darauf wartete, dass er ihm seine Aufmerksamkeit schenkte.

Genau in diesem Augenblick klingelte Coopers Handy. Wahrscheinlich hätte er es ausschalten sollen. Bestimmt hatten alle anderen ihre Handys auf Vibrationsalarm umgeschaltet, doch das hatte er am Morgen vergessen.

Er warf einen Blick auf die Nummer auf dem Display und sah, dass es Diane Fry war. Seine Vorgesetzte hätte ihn nicht anrufen sollen, da sie wusste, dass er an dem Seminar über Scheckkartenkriminalität teilnahm. Cooper sah Judson an und zuckte entschuldigend mit den Schultern, dann entfernte er sich ein paar Schritte von der Gruppe.

»Ja, Diane?«

»Wo bist du denn gerade, Ben?«

»Beim Somerfield’s-Supermarkt.«

»Was soll das jetzt heißen?«

»Die haben hier Bankomaten«, sagte Cooper. »Du weißt schon – Geldautomaten.«

»Ja, ich weiß, was ein Bankomat ist. Ach so, Moment – du bist bei dem Scheckkartenseminar.«

»Hattest du das vergessen?«

»Nein, ich hatte heute Vormittag nur ziemlich viel zu tun, das ist alles.«

»Ein neuer Fall?«

Er merkte, wie Fry zögerte. »Immer mit der Ruhe. Ich möchte nur, dass du dir etwas ansiehst, wenn du fertig bist. Komm sobald wie möglich hierher.«

»Verrätst du mir noch, worum es eigentlich geht?«

»Um einen Hausbrand in der Nacht von gestern auf heute. Mit mehreren Todesopfern.«

»Wo?«

»In einer der Wohnsiedlungen in Edendale. ›The Shrubs‹ heißt sie, glaube ich.«

»Ich weiß, wo das ist.«

Obwohl Fry bereits einige Zeit bei der E-Division war, schien sie sich in der Gegend nicht besonders gut auszukennen. Vielleicht war sie der Meinung, es lohne sich nicht, da sie ohnehin nicht mehr lang bleiben wollte. Ja, genau diesen Eindruck vermittelte sie – als sei sie eine Reisende, die gezwungen war, Zwischenstation zu machen, während sie auf eine Verbindung an einen besseren Ort wartete.

Cooper erinnerte sich an einige anfängliche Reaktionen seiner Kollegen auf Fry, nachdem sie aus den West Midlands zu ihnen versetzt worden war. »Ziemlich humorlose Zicke«; »Könnte ein ganz schön steiler Zahn sein, gibt sich aber keine Mühe«; »Zu groß, zu dürr und ungeschminkt«; »Stures Miststück«. Natürlich war nichts davon fair gewesen. Doch Fry hatte nicht viel unternommen, um sich bei ihren Kollegen beliebt zu machen. Eigentlich schien sie ihr Image sogar zu genießen.

Im Hintergrund hörte er, wie Judson eine Frage beantwortete. »Ein blankes Stück Plastik, das geprägt und mit einer gestohlenen Kontonummer kodiert wird. Einige von diesen Scheckkartenverbrechern klauen einem praktisch seine Identität.«

»Hast du mich verstanden, Ben?«

»Ja, du hast etwas von einem Feuer in den Shrubs gesagt.«

»Genau. Mit drei Toten. Eine Mutter und ihre zwei Kinder.«

»Gibt es Hinweise auf verdächtige Umstände?«

»Noch nicht. Aber …«

»Du rechnest damit?«

»Die Kriminaltechniker waren noch nicht vor Ort. Aber ich wollte wissen, ob du Zeit hättest.«

»Okay«, sagte Cooper und versuchte, nicht überrascht zu klingen. »Dann treffen wir uns im Büro, wenn das Seminar bei Steve Judson vorbei ist. Einverstanden?«

»Ja, das ist perfekt.«

Als Cooper das Gespräch beendete, zog er die Stirn in Falten. Irgendwie hatte Fry anders geklungen als sonst.

Judson ließ den Blick über die Gruppe schweifen, nahm Blickkontakt mit ihm auf und zog eine Augenbraue hoch. »Die Geheimzahl spionieren sie aus, indem sie eine Kamera auf die Tastatur richten«, sagte er. »Am Abend sammeln sie weggeworfene Quittungen ein. Sie vergleichen den Zeitpunkt des Abhebevorgangs mit dem Bildmaterial der Kamera und bekommen so die PIN und die Kontonummer. Dann fertigen sie ein Duplikat der Karte an, mit dem sie ebenso leicht Geld abheben können, als hätten sie die echte Karte gestohlen. Und man merkt nicht einmal, was passiert ist, bis man seinen nächsten Kontoauszug sieht. Das ist nicht nur Bingo – das ist der Jackpot.«

Das Edendale-General-District-Krankenhaus befand sich am nördlichen Stadtrand in einer unerschlossenen Gegend, wo neue Stationen angebaut werden konnten, sobald die finanziellen Mittel dafür zur Verfügung standen. Fry hatte das alte Krankenhaus in der Fargate nie zu Gesicht bekommen. Es war vor Jahren geschlossen worden, und seine viktorianischen Gebäude waren so primitiv und verfallen gewesen, dass sich niemand die Mühe gemacht hatte, es vor dem Abriss zu bewahren. Seine Lage musste jedoch ziemlich praktisch gewesen sein. Selbst um diese Zeit am Vormittag würde sie eine Viertelstunde brauchen, um von der Darwin Street quer durch die Stadt zum neuen Standort zu gelangen.

»Wer hat den Notruf noch mal getätigt?«, fragte sie Murfin, nachdem er sein Funkgespräch mit dem Kontrollraum beendet hatte.

»Einer der Nachbarn hat die Feuerwehr verständigt, als er den Rauch sah. Ein Typ namens Wade. Scheint ein ziemlicher Besserwisser zu sein. Die Polizisten, die als Erste vor Ort waren, haben vorher seine Aussage zu Protokoll genommen.«

»Weißt du, wir hätten sicherstellen sollen, dass wir vollständige Informationen haben, bevor wir hierhergekommen sind.«

Murfin wirkte gekränkt. »Du hast doch gesagt, du möchtest die Sache so schnell wie möglich vom Tisch haben. Ruckzuck an die Untersuchungskommission für nicht eindeutig natürliche Todesfälle weitergeben, das waren deine Worte.«

»Okay, Gavin, danke.« Fry mochte es nicht, wenn man sie in ihrer Gegenwart zitierte, vor allem dann, wenn sie sich getäuscht hatte. »Die Angelegenheit ist ein bisschen lästig, das ist alles.«

»Musste ich deshalb einen Blick in das letzte Zimmer werfen?«

Sie seufzte. »Das musste sein, Gavin. Du bist nicht nur hier, um rumzutrampeln und blöde Witze zu reißen. Außerdem war ja nichts in dem Zimmer.«

»Das konntest du vorher nicht wissen.«

»Stimmt. Wie ist es möglich, dass die im Krankenhaus mehr Informationen haben als wir, hm? Das jüngste Kind war also nicht zu Hause, sondern bei den Großeltern? Es hätte kein Anruf bei der Stationsschwester nötig sein sollen, um das herauszufinden.«

Murfin sah ihr schweigend zu, als sie in ihren Wagen stieg. »Du weißt doch, dass ich selber Kinder habe, oder?«, sagte er leise, bevor sie die Tür schloss.

Fry biss sich auf die Lippe, nachdem sie von einer menschlichen Emotion überrumpelt worden war, mit der sie nicht gerechnet hatte. »Tut mir leid, Gavin.«

Doch er hatte sich bereits umgedreht und schien sie nicht gehört zu haben. Und als sie ihn später wiedersah, war er wieder ganz der Alte, weshalb sie die Angelegenheit nicht noch einmal ansprach.

Brian Mullen lag in einem Nebenzimmer einer der neueren Stationen, und ein Police Constable schob Wache vor dessen Tür. Mullen war Anfang dreißig, hatte sandfarbenes Haar und einen leicht rosafarbenen Teint, als sei seine Haut frisch geschrubbt worden. Er hatte die Hände bandagiert, doch abgesehen davon sah er ziemlich gesund und unversehrt aus.

Außerdem stand er unter dem Einfluss von Beruhigungsmitteln, schlief tief und lag reglos da wie ein Toter. Es hatte keinen Sinn, jemanden zu befragen, der im Koma zu liegen schien.

»Als er eingeliefert wurde, stand er natürlich unter Schock«, sagte die Stationsschwester. »Von seinen körperlichen Verletzungen einmal abgesehen.«

»Aber ansonsten lässt seine Verfassung es zu, dass wir ihn später befragen können?«, erkundigte sich Fry.

»Dazu müssen Sie sich die Erlaubnis vom behandelnden Arzt einholen.«

Fry mochte Krankenhausärzte nicht besonders gern. Sie rochen immer nach Desinfektionsmittel und neigten dazu, sich einzumischen. Weiße Kittel und professioneller Starrsinn – das waren beides unwillkommene Hindernisse, wenn sie entschlossen war, die Wahrheit herauszufinden.

»Hatten Sie heute Morgen Dienst, als Mr. Mullens Schwiegereltern hier waren, Schwester?«

»Mr. und Mrs. Lowther? Ja, ich habe selber mit ihnen gesprochen. Gott sei Dank waren sie hier, denn so können wir Mr. Mullen wenigstens versichern, dass es seiner Tochter gut geht. Anscheinend war sie letzte Nacht bei ihnen. Oh, aber das wissen Sie ja sicher schon – schließlich hat vorhin jemand hier angerufen.«

»Ja, vielen Dank«, sagte Fry. »Wann wird Mr. Mullen denn wieder aufwachen?«

»Irgendwann im Lauf des Nachmittags.«

»Ich muss sofort erfahren, wenn er wach und in der Lage ist, Fragen zu beantworten, Schwester.«

»Ich kann ja dem Polizisten da drüben Bescheid geben, oder? Der hängt doch bestimmt noch länger hier rum und geht uns auf die Nerven, hab ich recht?«

»Ich fürchte, ja.«

»Tja, hoffentlich haben wir mit dem Patienten weniger Probleme, wenn er aufwacht. Er hätte vorhin fast eine meiner Kolleginnen verletzt, als wir ihn ruhigstellen mussten.«

Fry wollte gerade die Station verlassen, blieb jedoch auf halbem Weg durch die Pendeltüren stehen. »Was soll das heißen, Sie mussten ihn ruhigstellen?«

»Er ist völlig ausgeflippt, hat rumgeschrien, dass er nicht hierbleiben kann und dass er wieder rausmuss. Wissen Sie, wir haben in diesem Krankenhaus öfter mit Problemfällen zu tun, aber Mr. Mullen war wirklich in einer fürchterlichen Verfassung.«

»Er wollte bestimmt zurück zu sich nach Hause. Schließlich wusste er, dass seine Familie im Feuer gefangen war.«

»Wahrscheinlich haben Sie recht …« Die Schwester zögerte, als habe sie Zweifel. »Ich nehme an, es steht mir nicht zu, das zu sagen, aber diesen Anschein hat es nicht gemacht. Wenn Sie mich zu diesem Zeitpunkt gefragt hätten, hätte ich gesagt, dass er Angst hatte.«

»Angst?« Fry warf noch einmal einen Blick auf Brian Mullen, der regungslos in seinem Bett lag. »Tja, was auch immer es war, er wird es vermutlich vergessen haben, wenn er aufwacht, oder?«

»Nicht unbedingt. Wir haben nur sein Gehirn und seinen Körper ruhiggestellt. Tief verwurzelte Ängste sind im Unterbewusstsein verankert. Und das Unterbewusstsein schläft nie.«

Nach dem erfolglosen Ausflug quer durch die Stadt und wieder zurück war Fry noch gereizter. Als sie beim Haus der Mullens anhielt, traf sie nur einen erbärmlich aussehenden uniformierten Polizisten vor dem Tor an. Er hatte die Hände hinter dem Rücken verschränkt und wippte leicht auf den Zehenballen, als spräche er für eine Rolle in der Operette Die Piraten von Pensenze vor. Womöglich würde er jeden Moment »A policeman’s lot is not a happy one …« schmettern.

»Wo ist der Brandinspektor?«, fragte sie, als Murfin aus dem Haus auftauchte.

»Er ist losgesaust, um noch einen Happen zu frühstücken, der Glückspilz. Ich soll dir ausrichten, dass er nicht lange weg ist.«

»Ist die Spurensicherung schon hier?«

»Mir wurde gesagt, dass jemand unterwegs ist.«

Fry warf einen Blick auf das Team, das ihr zur Verfügung stand: ein Gilbert-und-Sullivan-Komparse und Gavin Murfin. Manchmal war es doch das Beste, die Dinge allein anzupacken.

Bernie Wilding musste abbremsen, als auf der Straße zwischen Foxlow und Bonsall abermals derselbe Traktor vor ihm auftauchte. Doch der Fahrer des Traktors steuerte eine Parkbucht an, um Bernie vorbeizulassen, und der Postbote sah, dass es Neville Cross war, dem die Yew-Tree-Farm gehörte. Sein Land grenzte unmittelbar an Rose Shepherds Garten an.

Bernie bremste bis zum Stillstand neben dem Traktor ab und drückte auf die Hupe, um den Farmer auf sich aufmerksam zu machen.

»Morgen«, sagte Cross.

»Ich dachte mir, ich erwähne es mal – ich habe vorher bei Bain House keine Antwort bekommen. Sie wissen schon, das Haus, in dem Miss Shepherd wohnt. Haben Sie sie vielleicht zufällig gesehen?«

»Nein, habe ich nicht. Wir bekommen sie im Ort nicht oft zu Gesicht.«

»Ja, ich weiß. Mir kam es allerdings ein bisschen merkwürdig vor. Die Post von gestern war auch noch in ihrem Briefkasten.«

Der Farmer nickte beinahe unmerklich. »Ich halte die Augen offen.«

»Vielen Dank.«

Bernie winkte und fuhr weiter. Er sah, wie der Traktor wieder auf die Straße einbog. Vermutlich würde er ihn ein weiteres Mal überholen, nachdem er Bonsall erreicht hatte. Manchmal kam es ihm so vor, als würden die Farmer den ganzen Tag einfach nur aus Spaß an der Freude auf den schmalen Straßen herumfahren. Sie genossen es, eine Plage zu sein mit ihren Traktoren und ihren mit Mist beladenen Anhängern. Hin und wieder hätte Bernie am liebsten eine Bombe unter einem der Anhänger befestigt.

Todesnacht

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