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Montag, 24. Oktober

Detective Sergeant Diane Fry drückte gegen die halb offene Tür und stieg vorsichtig über das Absperrband. Im Flur musste sie sich an einem gegen die Wand gelehnten Kinderfahrrad vorbeizwängen, bei dem ein Rad abmontiert war und auf dessen Sattel ein Schraubenschlüssel lag. Sie wäre beinahe über zwei mit Kleidungsstücken vollgestopfte Müllsäcke gestolpert, die darauf warteten, zu einem Wohltätigkeitsladen gebracht zu werden oder vielleicht auch in die Wäscherei. Der Geruch im Haus war penetrant, obwohl durch die zersplitterten Fenster ein kühler Luftzug in die Zimmer wehte.

»Trautes Heim, Glück allein«, sagte eine Stimme hinter ihr.

Detective Constable Murfin lehnte sich an die Eingangstür und drückte sie gegen die Müllsäcke. Man hörte das beunruhigende Knarren von Scharnieren und das Platzen von Plastik.

»Ich hoffe, du hast daran gedacht, dir die Schuhe abzustreifen, Diane«, sagte er. »Wir wollen doch die Ausstattung nicht ruinieren.«

Fry spürte, wie sich ihre Schultern in ihrer Jacke versteiften. Seit dem Augenblick, als sie das Haus betreten hatte, fühlte sich der Stoff ihrer Bekleidung rau und unbehaglich an, als ob ihre Haut plötzlich empfindlicher geworden sei und ihre Nervenenden aus Mitgefühl mit den Toten schrien.

»Würdest du bitte einfach den Mund halten, Gavin?«

Murfin schniefte und raschelte mit der leeren Bonbontüte in seiner Tasche. Fry gab sich alle Mühe, ihn zu ignorieren. Natürlich ging jeder auf seine Weise mit so etwas um. Gavin verschanzte sich instinktiv hinter einer schnoddrigen Art. Fry hatte dagegen den Drang, sich auf kleine Details zu konzentrieren, auf Belanglosigkeiten, die man leicht übersah, wenn man nur das Gesamtbild betrachtete.

Als Erstes galt es herauszufinden, wie viel Beweismaterial vom ursprünglichen Schauplatz erhalten geblieben war und wo jemand seine Finger im Spiel gehabt hatte. Hier, in diesem Haus in der Darwin Street, war auf den ersten Blick zu erkennen, dass viel zu viel herumhantiert worden war. Zunächst einmal hatte sich jemand an der geöffneten Post zu schaffen gemacht, die auf dem Tisch im Flur in einer schmutzigen Wasserpfütze lag. Sie stupste die Umschläge mit dem Zeigefinger an. Einer von ihnen schien Fotos zu enthalten, die vom Entwickeln zurückgekommen waren, ein anderer eine Telefonrechnung von British Telecom. Ganz unten lagen zwei Wahlausweise für die Grafschaftsrat-Nachwahlen im nächsten Monat. Irgendein Lokalpolitiker hatte soeben einen Wähler verloren.

Umgeben von den Überresten des Alltagslebens einer Familie, hielt Fry einen Moment lang inne und lauschte dem Knarren eines zersplitterten Fensterrahmens und den Wassertropfen, die in einem der Zimmer langsam von der Decke fielen. Sie ließ den Blick über den schmutzigen Teppich zu den Wänden wandern, die völlig verkratzt und zerfurcht waren, nachdem Ausrüstungsgegenstände wie Löschschlauchrollen, Sauerstoffgeräte und Tragbahren an ihnen vorbeigetragen worden waren. Schließlich blieb ihr Blick an dem unpassenden Chromglanz des Schraubenschlüssels hängen, der immer noch darauf wartete, dass ihn jemand in die Hand nahm, um das Rad des Fahrrads wieder zu montieren.

»Bäh. Wie auf der Marie Celeste mit einer Extraportion Ruß.«

Fry hatte nicht die Energie, um Gavin dieses Mal zu antworten, geschweige denn, um ihn zum Schweigen zu bringen. Es war noch zu früh am Morgen, und sie war zu deprimiert, dass ausgerechnet sie Bereitschaftsdienst gehabt hatte, als etwas Derartiges gemeldet wurde. Um einen Vorfall wie diesen musste sich Derbyshires E-Division höchstens ein Mal in zehn Jahren kümmern. Selbstverständlich ereigneten sich in Edendale ebenso wie überall sonst Hausbrände, aber es war großes Pech, wenn dabei jemand ums Leben kam. Der heutige Tag war ein besonderer Unglückstag.

Wenigstens waren die Mauern des Hauses noch intakt. Von der Straße aus war kaum zu erkennen gewesen, dass irgendetwas Schlimmes passiert war, abgesehen von den zersplitterten Fensterscheiben und den Brandflecken an den Stellen, wo die Flammen an den Wänden geleckt hatten. Es hätte sich ebenso gut um die Folgen einer wilden Party handeln können, die außer Kontrolle geraten war. Im Inneren des Hauses bot sich allerdings ein anderes Bild. Ob dieses Bild etwas mit ihr zu tun hatte, musste Fry erst noch herausfinden.

Fry versuchte, ihre Sinneswahrnehmung zu konzentrieren, als sie der markierten Route folgte, die zu dem Band an der inneren Absperrung führte. Sie nahm wahr, dass es im Flur so ähnlich roch wie in ihrer Küche – nach einer Mischung aus Dampf und verkohltem Speck. Genauso stellte sie es sich vor, wenn sie einmal an der Reihe war, den Löffel abzugeben. Sie würde als Opfer eines defekten Toasters oder eines explodierenden Mikrowellenofens in die Statistik der Küchenunfälle eingehen. Tod in den Wirren des Frühstücks.

Am Fuß der Treppe bog sie nach rechts ins Wohnzimmer ab, wobei sie darauf achtete, nur auf die Trittplatten zu treten. Nach den Aussagen der Nachbarn zu schließen, waren die Bewohner der Darwin Street Nummer 32 überrascht worden. Lindsay Mullen hatte vor sechs Wochen einen neuen Teppich für ihr Wohnzimmer bestellt. Dieser hatte einen dicken, tiefen Flor und den cremeweißen Farbton, den Lindsay sich immer gewünscht hatte, obwohl er nach Ansicht ihres Ehemanns unpraktisch war. Er werde leicht verschmutzen, hatte er gesagt. Und er sei eine fürchterliche Geldverschwendung.

Royal Wilton in Kamillefarben, so lautete die genaue Bezeichnung. Den uniformierten Polizisten zufolge, die die ersten Aussagen zu Protokoll genommen hatten, hatte die Dame im Haus links nebenan damals die gesamte Auseinandersetzung mitgehört, bevor Brian Mullen am Morgen zur Arbeit ging.

Fry sah sich in dem verwüsteten Wohnzimmer um. Mr. Mullen hatte recht gehabt: Der Teppich hatte sich schwarz verfärbt, nachdem verrußter Schutt in ihn hineingetrampelt worden war. Eine fünf Zentimeter dicke, widerliche Matschschicht war mit Dutzenden von Schuhabdrücken übersät.

Leider hatte der neue Wilton-Teppich die Unterkante der Tür zur Küche so gut abgedichtet, dass kein Lufthauch hindurchgelangen konnte. Nachdem das Sofa Feuer gefangen hatte, mussten binnen Minuten dicke Rauchschwaden im Zimmer gehangen haben, deren beißende Dämpfe in der Lunge gebrannt und in den Augen gestochen hatten. Wenn nur ein bisschen was davon unter der Tür hindurch in die Küche gezogen wäre, hätte es womöglich den Rauchmelder erreicht, und das Ergebnis wäre ein anderes gewesen. Im Gegensatz zu vielen anderen Haushalten hatte der Rauchmelder bei den Mullens sogar funktioniert, da seine Batterien vor kurzem ausgetauscht worden waren. Nur hatte er keinen Rauch entdeckt, bis es zu spät gewesen war. Viel zu spät.

»Sie hatten nie auch nur den Hauch einer Chance, nicht wahr?«, sagte Murfin.

Fry warf ihm einen Blick zu. Seine Schnoddrigkeit war verflogen, und er schwitzte sichtlich, obwohl sich die Vorhänge hinter ihm im Luftzug bewegten. Doch Gavin war ein Familienmensch und hatte selbst Kinder. Manche Dinge setzten einem einfach zu, wie sehr man sich auch anstrengte, die Fassade zu wahren.

»Wenigstens heißt es, dass es besser ist, an Rauchvergiftung zu sterben, als zu verbrennen«, sagte sie, wenngleich sie nicht damit rechnete, dass das ein Trost war. Bei dem Gedanken an die Flammen bekam sie noch immer Gänsehaut.

Sie wandte den Blick von Murfin ab, ehe dieser sie in ihrer Konzentration stören konnte. Das Zimmer war voll mit Gegenständen aus Kunststoff: Fernseher, Videorekorder, Ständer mit CDs und DVDs, Schachteln voller Kinderspielzeug unter einem Regal in der Ecke. Die meisten Spielsachen waren jetzt nur noch ein geschmolzenes Durcheinander, bunte Pfützen aus flüssigem Kunststoff, der auf den Teppich geflossen und im Sprühregen der Feuerwehrschläuche erstarrt war. Hier und da waren erkennbare Formen zu sehen: die verunstaltete Konsole einer Playstation, die verbrannte Ecke eines Monopoly-Spielfelds. Aus einer hautfarbenen Pfütze ragten der Kopf und ein Arm einer Barbie-Puppe heraus, als sei jemand in einem Meer seines eigenen Fleisches ertrunken. Irgendetwas Verkohltes aus Holz starrte Fry mit schwarzen Augen vorwurfsvoll an.

Dann erregte ein kleiner Farbfleck ihre Aufmerksamkeit. Ein leuchtend gelber Klecks, der einem Sonnenstrahl im Dunkeln glich. Sie kauerte sich hin und blies vorsichtig die Asche weg. Vor ihren Füßen lag ein Teil des Monopoly-Spielfelds: Piccadilly und das Wasserwerk.

Das größte Problem war natürlich der unbehandelte Polyurethanschaum in den Sitzmöbeln gewesen. Brian Mullen hatte sicherlich recht gehabt: Lindsay hätte ihr Geld sinnvoller ausgeben können, wenn sie anstelle des Teppichs das billige Sofa ersetzt hätte. Dann wäre das Ganze womöglich anders ausgegangen. Vielleicht wären ihre Kinder noch am Leben gewesen.

Als Fry in die Küche ging, fand sie diese, abgesehen von ein paar schmutzigen Fußspuren auf dem Vinylboden, beinahe makellos und unberührt vor. Beim Anblick der Teakimitat-Fronten und der weiß gestrichenen Wände wäre sie nie auf die Idee gekommen, dass es überhaupt gebrannt hatte. Sie hatte das Gefühl, von einem Film-Set in ein anderes zu treten, wo sich eine völlig andere Geschichte abspielte. Hier deutete alles auf eine harmlose häusliche Komödie hin, auf eine Familie, die in ihrer blitzblanken Küche beim Frühstück saß – Mum, Dad und die Kinder, die miteinander plauderten, lachten und sich beeilten, um rechtzeitig zur Arbeit oder in die Schule zu kommen. Das andere Zimmer hinter ihr hätte als Schauplatz für einen billigen Horrorfilm dienen können, nur dass der Abspann bereits zu Ende war und die Filmcrew zusammengepackt hatte und nach Hause gegangen war.

»Diane, möchtest du dich oben mal umsehen?«, rief Murfin ohne Begeisterung.

»Ja, gleich.«

Fry warf einen letzten Blick auf die Küche mit ihrem stummen Rauchmelder. Ihr fiel auf, dass der Herd ebenfalls neu war. Ein kombinierter Gas-Elektro-Herd mit Kühlgebläse, der ihrer Schätzung nach um die tausend Pfund gekostet haben musste. An Geld schien es im Haushalt der Mullens nicht gemangelt zu haben.

Sie ging durchs Wohnzimmer zurück zu Gavin, der am Fuß der Treppe wartete, und überlegte, ob sie die Schlafzimmer im ersten Stock tatsächlich besichtigen musste. Darin waren zwar die Opfer gestorben, doch das Feuer war dort nicht ausgebrochen. Wenn es sich um ein Verbrechen handelte, waren die Beweise sicher hier im Erdgeschoss zu finden.

Während sie mit sich selbst diskutierte, nahm Murfin ihr die Entscheidung ab, indem er sich langsam die Stufen hinaufschleppte und bei jedem Schritt seufzte. Fry blieb nichts anderes übrig, als ihm zu folgen.

Und in gewisser Weise bot sich in den Schlafzimmern gar kein so schreckliches Bild. Es war deutlich zu erkennen, dass die Flammen nicht bis hierher gelangt waren. Die Möbel waren zwar mit einer Rußschicht bedeckt, ansonsten jedoch beinahe unbeschädigt. Die Bettdecken waren zurückgeschlagen und offenbarten saubere, unversehrte Laken. Beim Anblick des ersten Zimmers, das Fry sich ansah, hätte man ebenso gut denken können, es würde einfach darauf warten, dass Lindsay Mullen nach Hause kam und die Unordnung aufräumte – wären da nicht die Markierungen gewesen, wo ihre Leiche gelegen hatte, nachdem sie mit einer Rauchvergiftung zusammengebrochen war.

»Hast du die Fotos da, Gavin?«

Murfin seufzte und reichte ihr die Akte. Fry hatte die Fotos bereits gesehen, bevor sie hergefahren war, und erinnerte sich an den Zustand von Lindsays Leichnam und an den Baumwollpyjama, den sie getragen hatte, dessen hochgeschobenes linkes Hosenbein eine dünne blasse Wade entblößte. Ihr Gesicht, das sie nach rechts gedreht hatte, die linke Wange fest gegen den Boden gepresst, war nur auf den Nahaufnahmen zu erkennen.

Doch es war nicht Lindsay Mullens Gesicht, an dem Fry interessiert war, sondern die Stellung ihres Körpers, der Winkel ihrer Gliedmaßen. Sie drehte eines der Fotos, um es auf das Zimmer auszurichten, und überprüfte, wo sich die Tür befand. Lindsay hatte aller Wahrscheinlichkeit nach die falsche Richtung eingeschlagen. Es war nicht allzu schwierig, sich vorzustellen, wie sie sich in der Dunkelheit und im dichten Rauch blind und orientierungslos in Panik an den Wänden entlanggetastet hatte, um die Tür zu finden, während ihre Kinder im Zimmer nebenan schrien. Es war überhaupt nicht schwierig. Genau genommen war es erschreckend einfach.

»Sehen wir uns das nächste Zimmer an, Gavin«, sagte sie.

»Das ist das Kinderzimmer.«

»Ich weiß.«

Dem Ereignisprotokoll zufolge waren Jack und Liam Mullen gestorben, ohne ihre Betten zu verlassen. Sie waren nach Atem ringend aufgewacht und an den Folgen einer Rauchvergiftung gestorben. Vermutlich hatten sie im Sterben nach ihrer Mutter gerufen.

Das Haus musste zu diesem Zeitpunkt bereits so voller Rauch gewesen sein, dass die Jungen es nie bis zur Treppe geschafft hätten, geschweige denn, durch die Flammen im Flur. Trotzdem war es nicht angenehm, sich in ihrem Zimmer aufzuhalten. Gavin blieb in der Türöffnung stehen. Er wusste, dass die Leichen der Jungen vermutlich einige Zeit hier gelegen hatten, da kein Zweifel daran bestanden hatte, dass für sie jede Rettung zu spät kam. Die Vorschriften der Kommission zur Untersuchung nicht eindeutig natürlicher Todesfälle verlangten, dass Leichname in situ belassen wurden, bis genug forensische Beweise zur Bestimmung der Todesursache gesammelt waren.

Natürlich handelte es sich bei Hausbränden größtenteils um tragische Unfälle: Kurzschlüsse, eine Zigarette, die hinter das Sofa gefallen war, Kleidungsstücke, die zu nahe an einem elektrischen Heizgerät liegen gelassen wurden. Würde bei plötzlichen Todesfällen nicht automatisch die Kriminalpolizei eingeschaltet werden, wäre Diane Fry überhaupt nicht hier. Die Angaben der Feuerwehr waren in diesem Fall nicht eindeutig – wobei die Feuerwehrleute vor Ort sicherlich andere Prioritäten gehabt hatten, als nach der Brandursache zu suchen.

Fry hörte ein Rascheln und ein Husten, und als sie sich umdrehte, sah sie einen uniformierten Police Constable am Fuß der Treppe stehen. Er trug eine gelbe reflektierende Jacke und hielt in der einen Hand seinen Helm, während er sich mit der anderen den Schweiß von der Stirn wischte.

»Detective Sergeant Fry?«, fragte er und sah zu ihr hoch. »Man hat mir gesagt, Sie wären hier. Ich dachte mir, Sie sollten es am besten gleich erfahren …«

»Was ist denn?«

»Na ja, wir haben uns noch mal mit den Nachbarn unterhalten. Ich nehme an, wir hätten das schon früher rausfinden sollen, aber wir sind gar nicht auf die Idee gekommen, zu fragen. Sie wissen ja, wie es ist – wenn so was passiert, steht jeder unter Schock, und nachdem der Ehemann ins Krankenhaus gebracht wurde …«

»Raus damit, verdammt noch mal.«

Er hustete abermals und drehte seinen Helm in den Fingern. »Ich habe mit der Dame von nebenan gesprochen. Sie sagt, sie hätte gerade erst daran gedacht, es zu erwähnen … Tja, anscheinend waren hier drei Kinder zu Hause. Mrs. Mullen hatte außer den beiden Jungs noch eine Tochter.«

Fry starrte auf die verkohlten Trümmer und dachte an die Schlafzimmer. Am Ende des Flurs befand sich eine verschlossene Tür, ein drittes Zimmer, das sie nicht betreten hatte. Aber die Feuerwehrleute waren doch bestimmt im ganzen Haus gewesen, oder nicht? Sie hätten auf der Suche nach Opfern doch sicher kein Zimmer ausgelassen, nicht wahr?

»Vielleicht war die Tochter nicht zu Hause«, sagte sie. »Sie hat womöglich bei Freunden übernachtet oder so. Wie alt ist sie denn?«

Der Polizist schluckte. »Der Nachbarin zufolge ist das dritte Kind ungefähr achtzehn Monate alt.«

Fry biss sich auf die Lippe. Sie hasste Vorfälle, in die Kinder verwickelt waren. Diesen Job hätte irgendjemand anderer übernehmen sollen. Sie hätte einen ihrer Detective Constables schicken sollen. Allerdings nicht Gavin Murfin – na ja, zumindest nicht allein. Aber Ben Cooper wäre eine gute Wahl gewesen. Cooper verstand Kinder. Er wusste alles über Familien. Fry vermutete, er hätte viel mehr aus der Situation in diesem Haus herauslesen können als sie selbst. Doch Cooper hatte an diesem Morgen nicht Frühdienst gehabt. Man bekam nicht immer den richtigen Mitarbeiter für einen Job.

Ihr Blick wanderte an dem Police Constable vorbei und zurück zu den Müllsäcken, die neben der Eingangstür standen. Erst jetzt fiel ihr auf, dass die Säcke nicht deshalb so prall waren, weil sie mit Kleidungsstücken vollgestopft waren, sondern weil das Plastik zu obszönen Geschwülsten und Beulen geschmolzen war und sich zusammengezogen hatte. Einer der Säcke war aufgeplatzt, nachdem Gavin die Tür gegen ihn gedrückt hatte, und aus dem Riss lugte der Rock eines blauen Baby-Gap-Jeanskleids hervor.

»Wo ist der Ehemann jetzt?«, fragte Fry.

»Im Krankenhaus von Edendale«, sagte der Police Constable. »Er hat sich bei dem Versuch, ins Haus zu gelangen, leichte Verbrennungen und eine Rauchvergiftung zugezogen.«

»Sagten Sie gerade ›ins Haus‹?«

»Ja. Er war nicht zu Hause, als das Feuer ausbrach. Ich dachte, das hätte man Ihnen gesagt.«

»Es scheint einiges zu geben, das mir niemand sagt«, entgegnete Fry. »Haben hier etwa alle ein Schweigegelübde abgelegt?«

Postbote Bernie Wilding war mit seinen Zustellungen in Foxlow an diesem Morgen bereits spät dran, als ihm das Paket für Rose Shepherd einfiel. Das war schon an sich ungewöhnlich – abgesehen von ihren Kontoauszügen und Werbung bekam Miss Shepherd nur selten etwas zugeschickt. An den meisten Tagen hatte er in seinem Kleintransporter gar nichts für sie dabei.

Bernie wendete am Ende der Pinfold Lane in drei Zügen und hielt vor dem schmiedeeisernen Tor von Bain House an. Er hörte die Ken-Bruce-Show auf Radio Two und drehte den Apparat leiser, bevor er das Fenster herunterkurbelte. Dann streckte er den Arm aus und drückte den Klingelknopf an der Sprechanlage, erhielt jedoch keine Antwort. Das war ebenfalls etwas merkwürdig. Die Leute im Ort sagten, Miss Shepherd würde nie irgendwohin gehen. Sie galt als Einsiedlerin, die sich allein in ihrem großen Haus einschloss. Und tatsächlich war sie noch nie unterwegs gewesen, wenn er ein Paket bei ihr abliefern wollte.

Aber er nahm an, dass auch eine Einsiedlerin hin und wieder zum Einkaufen gehen musste. Ein Besuch beim Hausarzt, beim Zahnarzt, beim Optiker. Na ja, ihn ging das ja sowieso nichts an.

Bernie kritzelte eine Nachricht auf eine seiner Karten, um diese in den Briefkasten zu stecken. Als er jedoch die Klappe anhob, sah er, dass sich darin noch der Werbeprospekt eines Möbelhauses sowie eine kostenlose Zeitung befanden, die Kinder aus der Gegend am Wochenende austrugen. Und das sah Miss Shepherd ganz und gar nicht ähnlich. Obwohl er sie manchmal wochenlang nicht zu Gesicht bekam, wusste er immer, dass sie zu Hause war, weil sie ihren Briefkasten leerte. Das war auch vernünftig, da es sonst den Eindruck vermittelte, als sei niemand zu Hause. Es gab Kriminelle, die nachts durch solche Ortschaften fuhren und nach Anzeichen für leere Häuser Ausschau hielten.

Bernie war sich nicht sicher, was er tun sollte, und schielte durch das Tor zum Haus, das zwischen Bäumen stand. Die Vorhänge auf der Vorderseite waren zugezogen, sogar im Erdgeschoss. Er kannte zwar den Grundriss des Hauses nicht, vermutete jedoch, dass es sich um das Wohnzimmer handelte. Tagsüber zog man die Vorhänge nicht zu, es sei denn, man war krank.

Bernie betrachtete sich gerne als altmodischen Postboten vom Land, der sein Revier kannte und auch die Leute, für die er zuständig war. Er hatte bereits unzählige Geschichten über Postboten gehört, die als Erste Alarm geschlagen hatten, wenn jemand krank oder sogar verstorben war und nicht einmal die Nachbarn etwas bemerkt hatten. Ihm selbst war so etwas allerdings noch nie passiert, obwohl er bereits seit fünfzehn Jahren bei der Royal Mail arbeitete. Doch er behielt die älteren Menschen auf seiner Runde, die allein lebten und nicht oft Besuch bekamen, stets im Auge. Nicht dass Rose Shepherd besonders alt gewesen wäre – aber man konnte ja nie wissen, nicht wahr?

Ken Bruce kündigte die Zehn-Uhr-Nachrichten an. War es tatsächlich schon so spät? Bernie wusste, dass er sich beeilen sollte – er hatte an diesem Morgen schon genug Zeit verloren, da er so viele Eilsendungen hatte zustellen müssen und hinter einem Traktor gehangen hatte, der ihn jedes Mal, wenn er anhielt, wieder überholt hatte. Miss Shepherd war vermutlich in Matlock beim Einkaufen. Montagvormittag war ein guter Zeitpunkt, um zum Supermarkt zu fahren. Da war wenig los. Sie hatte einfach ausnahmsweise einmal vergessen, die Post aus ihrem Briefkasten zu nehmen. Das würde sie sicher nachholen, wenn sie vom Einkaufen zurückkam.

Bernie schob seine Karte durch den Briefschlitz und stellte das Paket wieder in den Lieferwagen hinter den Sitz. Dann stieß er auf die Straße zurück und fuhr weiter. Die Kurznachrichten hatte er verpasst, aber Bruce spielte einen Song, an den er sich aus den 60er-Jahren erinnerte: »Now the Carnival is over« von den New Seekers. Bernie sang leise vor sich hin, als er durch Foxlow zurückfuhr.

Todesnacht

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