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Vor Jahren habe ich in der tiefsten Provinz zugestellt«, sagte Bernie Wilding, als Cooper ihn in seinem roten Post-Lieferwagen sitzend fand. »Dort habe ich auf meiner Tour ungefähr genauso oft Wallabys gesehen, wie ich Miss Shepherd in Foxlow gesehen habe.«

»Wallabys?«

Cooper lachte. Die meisten Gerüchte über exotische Tiere, die angeblich in völlig abwegigen Gegenden überlebten, waren Quatsch. Doch manchmal erwiesen sich die Behauptungen tatsächlich als wahr, wie im Fall der Skorpione in der Londoner U-Bahn – oder der Wallabys der Roaches in Derbyshire.

»Haben Sie die Wallabys wirklich gesehen?«, fragte er.

»Nur ein- oder zweimal als Schemen in der Ferne. Ich war mir allerdings nie ganz sicher, ob ich ein Wallaby vor Augen hatte oder einen Feldhasen. Aber ich habe immer allen erzählt, dass ich die Wallabys gesehen hätte. Na ja, das macht man doch so, oder?«

»Ja, das würde ich auch machen.«

Dass Cooper auch nach dreißig Jahren im Peak District noch nie ein Wallaby zu Gesicht bekommen hatte, gehörte zu den Dingen, die er aufrichtig bedauerte. Niemand, der am westlichen Rand des Nationalparks lebte oder arbeitete, zweifelte an ihrer Existenz. Viele Autofahrer hatten welche gesehen, und einige von ihnen hatten nachts auf einer abgelegenen Straße eines überfahren. Die Tiere waren ursprünglich während des Zweiten Weltkriegs aus einem Privatzoo entkommen und hatten sich in den Mooren fortgepflanzt. Der Überlieferung zufolge war zum gleichen Zeitpunkt auch ein Yak entwischt. Doch das letzte Mal, dass jemand ein Yak gesichtet hatte, war in den Fünfzigerjahren gewesen. Wirklich schade.

»Jetzt ist es zu spät, nehme ich an«, sagte Wilding.

»Angeblich. Zu viele Menschen und Hunde, die in ihren Lebensraum eindringen.«

»Oh, ja. Und zu viel Verkehr. Die Menschen haben sie ausgerottet, nachdem es die harten Winter nicht geschafft hatten.«

Cooper glaubte, den Test vermutlich bestanden zu haben. Einige seiner Kollegen hätten keinen blassen Schimmer gehabt, wovon Bernie Wilding sprach. Doch er hatte sich als Einheimischer bewiesen.

»Wie sieht es mit Miss Shepherd aus? Sie haben sie doch oft genug und nah genug gesehen, dass Sie sie wiedererkennen würden, oder?«

Wilding verzog nachdenklich das Gesicht. »Wissen Sie, die paar Mal, als ich einen Blick auf sie erhascht habe, trug sie immer ein Kopftuch oder irgendwas anderes, was ihr Gesicht verbarg. Ich war mir nie ganz sicher, ob sie es war. Nicht so sicher, dass ich es hätte beschwören können, verstehen Sie?«

»Dann denken Sie also nicht, Sie wären in der Lage, sie zu identifizieren, Mr. Wilding?«

»Ganz sicher bin ich mir nicht. Tut mir leid.«

»Aber gesprochen haben Sie doch mit ihr, oder? Wie klang sie?«

»Tja, ich würde meinen, sie hatte einen leichten Akzent«, sagte Wilding. »Aber ich konnte ihn nicht richtig einordnen. Ich habe nicht besonders oft mit ihr gesprochen, und wenn, dann nicht, um eine Unterhaltung zu führen. Meistens nur durch die Sprechanlage am Tor. Und um ehrlich zu sein, würde ich durch eines von diesen Dingern nicht mal meine eigene Mutter erkennen.«

»Haben Sie jemals gesehen, wie jemand anderer Bain House betreten oder verlassen hat?«

»Nein, nie.«

»Irgendwelche Fahrzeuge, die dort geparkt waren?«

»Nur das von Miss Shepherd. Das ist ein Volvo, glaube ich.«

»Und dieses Tor war immer geschlossen, soweit Sie wissen?«

»Immer. Sie hat alle ausgesperrt, mich ebenfalls.«

»Eine letzte Sache noch«, sagte Cooper. »Was haben Sie ihr heute Morgen gebracht?«

»Oh, das war ein Paket. Aber das war ein bisschen zu groß für den Briefkasten. Kann ich es Ihnen geben?«

»Ja, bitte. Ich gebe Ihnen eine Quittung dafür.«

Wilding gab ihm ein kleines, knapp dreißig Zentimeter langes Päckchen. »Miss Shepherd hat nie viel Post bekommen. Ich hoffe, es hat nichts mit dem zu tun, was ihr zugestoßen ist.«

»Tja, es ist jedenfalls der Grund dafür, warum sie heute gefunden wurde und nicht erst in einer Woche.«

Als Diane Fry in Foxlow ankam, fand sie in der Nähe von Bain House keine Parkmöglichkeit mehr. Sie musste ihren Peugeot neben einer Steinmauer am Straßenrand stehen lassen und zu Fuß zum Sammelpunkt gehen. In der Nähe des Tors traf sie Cooper, der den Weg für Bernie Wilding frei machte, damit dieser mit seinem Lieferwagen hinausfahren konnte.

»Kannst du mich auf den neuesten Stand bringen, Ben?«, fragte sie.

»Sicher. Ich habe mir Notizen gemacht.«

»Das dachte ich mir schon.«

Cooper ging die Details durch. Fry hörte aufmerksam zu und hatte nichts an ihm auszusetzen. Er glaubte, in Anbetracht der Tatsache, dass er noch nicht viel länger am Tatort war als sie, recht gute Arbeit geleistet zu haben.

»Anscheinend war sie eine ziemliche Einsiedlerin«, stellte Fry fest, als er fertig war.

Er fragte sich, ob Fry bei einigen Details ebenso ein leichter Schauder des Wiedererkennens über den Rücken gelaufen war wie ihm. Im Leben vieler Menschen gab es Zeiten, in denen sie sich allergrößte Mühe gaben, den Kontakt mit anderen zu meiden. Das war grundsätzlich nichts Ungewöhnliches. Rose Shepherd hatte es jedoch vielleicht ein wenig übertrieben.

»Ich kannte übrigens mal eine Frau, die eine echte Einsiedlerin war«, sagte er. »Old Annie nannten wir sie. Als ich ein Kind war, wohnte sie in einem alten Cottage in der Nähe unserer Farm. Sie muss seit Ewigkeiten dort gewohnt haben, weil das Haus schon ziemlich heruntergekommen war. Anscheinend hatte sie überhaupt keine Verwandten – oder wenn sie doch welche hatte, machten die sich nicht die Mühe, sie zu besuchen. Annie blieb die ganze Zeit in ihrem Haus, sah fern und hörte Radio, so wie Miss Shepherd es vermutlich auch getan hat.«

Sie gingen aufs Haus zu. Die Eingangstür stand offen, und es herrschte noch immer ein Kommen und Gehen von Polizisten, die eingetütete Gegenstände zur Untersuchung im Labor abtransportierten.

»Kein Mensch hat Annie besucht?«, fragte Fry.

»Na ja, Mum hat gelegentlich bei ihr vorbeigeschaut, um nachzusehen, ob bei ihr alles in Ordnung ist. Ein paarmal im Jahr haben wir sie zu uns eingeladen. Am zweiten Weihnachtsfeiertag war sie immer bei uns. Als Kinder hatten wir Angst, wenn sie kam.«

»Warum?«

»Annie gehörte zu den einsamen Menschen, die wochenlang mit niemandem sprechen, und wenn sie dann endlich Gesellschaft hatte, konnte sie sich nicht beherrschen und redete viel zu viel. Es war, als wollte sie sich selbst beweisen, dass sie noch in der Lage war, eine Unterhaltung zu führen, und dass ihr jemand zuhörte, wenn sie etwas erzählte. Ich nehme an, sie musste sich vergewissern, dass sie in den Augen anderer noch existierte.«

»Hast du schon damals andere Leute psychoanalysiert?«, sagte Fry. »Ja, ich wette, das hast du. Ich kann mir dich gut als achtjährigen Sigmund Freud vorstellen.«

Doch Cooper ignorierte sie. Er kannte sie inzwischen gut genug. Manchmal machte sie solche Bemerkungen aus einer Art Verteidigungsinstinkt heraus. Und zwar immer dann, so kam es ihm vor, wenn er von verletzlichen und einsamen Menschen sprach.

»Die Folge war natürlich, dass alle versuchten, Old Annie aus dem Weg zu gehen«, sagte er. »Das war vermutlich auch der Grund, warum ihre Verwandten sie nie besuchten und warum selbst der Postbote die Tür seines Lieferwagens offen und den Motor laufen ließ. Mum sagte immer, dass sie Schwierigkeiten hätte, das Cottage wieder zu verlassen, nachdem sie es betreten hatte.«

»Niemand geht gerne einem Langweiler in die Falle.«

»Ja, ich nehme an, Annie war eine schreckliche Langweilerin, aber das war noch nicht alles. Als kleines Kind fand ich sie ziemlich Furcht einflößend. Sie hatte einen leicht hysterischen Tonfall, der alle nervös machte. Deshalb gaben sich die Leute alle Mühe, ihr aus dem Weg zu gehen.«

»Gott steh mir bei, hoffentlich sterbe ich, bevor ich auch so werde.«

Sie fanden Hitchens und Kessen am Rand des Feldes, das an den Garten von Bain House angrenzte. Der Detective Chief Inspector schnüffelte wie ein Hund, als versuchte er, den Geruch des Täters zu wittern. Wayne Abbott kam über das Feld auf sie zu, wobei seine Stiefel in den Furchen der gepflügten Erde knirschten.

»Eigentlich wurde mir beigebracht, dass man um Felder außen am Rand herumgehen soll, damit man die Ernte nicht zertrampelt«, sagte er. »Aber heute mache ich mal eine Ausnahme, weil sich Reifenspuren genau am Rand des Feldes befinden.«

»Die Reifenspuren wovon?«

»Wahrscheinlich von einem schwarzen Auto, ganz sicher aber von einem dunklen.«

Kessen blickte überrascht und vielleicht sogar ein bisschen irritiert drein. »Wie kommen Sie darauf?«

»Tja, ich wette, sie haben gehofft, dass die Anwohner sie für Blender halten, wenn sie unverhohlen über das Feld fahren.«

»Blender?«

»So nennt man Wilderer, die nachts auf dem Land Tiere schießen. Sie benutzen einen hellen Schweinwerfer, um ihre Beute zu blenden.«

»Ja, davon habe ich schon gehört – Hasen und so.«

»Nicht nur Hasen – Dachse, Rotwild, Schafe und was es noch alles gibt. Alles, was aufsteht und sich abknallen lässt.« Abbotts Blick wanderte von einem zum anderen. »Detective Constable Cooper kann Ihnen bestimmt mehr dazu sagen. Er hat sicher selber schon mal Erfahrungen damit gesammelt.«

»Na ja …«, begann Cooper, doch niemand hörte ihm zu.

»Aber die Sache ist die«, sagte Abbott. »Falls die Anwohner der Meinung gewesen wären, dass in dieser Nacht jemand gewildert hat, hätten sie sich wahrscheinlich nicht einmal dann die Mühe gemacht, die Polizei zu rufen, wenn sie Schüsse gehört hätten.«

»Das ist doch wohl nicht Ihr Ernst.«

»Auf dem Land gehen die Uhren anders – man gewöhnt sich daran, Schüsse zu hören. In der Stadt würde vielleicht jemand die Polizei verständigen, aber hier draußen fragt man sich nur, wie viele Tiere sie geschossen haben.«

»Ich verstehe. Aber die Farbe des Fahrzeugs …?«

»Na ja, zum Wildern würde man kein weißes Auto nehmen, oder? Man möchte schließlich, dass die Beute den Blick auf das Licht richtet und nicht auf die Lackierung der Motorhaube.«

»Außer den Reifenspuren haben Sie nichts gefunden?«

»Nein. Ich hatte auf ein paar Patronenhülsen gehofft. Auf einer Messinghülse hätten wir vielleicht einige Fingerabdrücke gefunden oder Spuren vom Auswerfer oder Schlagbolzen der Waffe. Aber wir haben nichts entdeckt.«

»In Ordnung. Danke.«

»Es sieht also so aus, als hätte sich der Täter nicht die Mühe gemacht, das Haus zu betreten. Clever.«

»Clever?«

»Na ja, das erschwert uns die Sache. Bei einem räumlich begrenzten Tatort haben wir bessere Chancen, etwas zu finden. Aber auf einem gepflügten Feld? Und zwei Tage nach dem Zwischenfall? Wir sollten besser auf ein Wunder hoffen.«

Kessen starrte das Haus an. »Stimmt, das war tatsächlich clever. Aber ich frage mich, was der Schütze gemacht hat, um Rose Shepherds Aufmerksamkeit zu erregen.«

»Wie meinen Sie das?«, fragte Hitchens.

»Nun, wenn er die tödlichen Schüsse vom Feld abgefeuert hat, muss er sein Opfer irgendwie ans Fenster gelockt haben. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er auf gut Glück die ganze Nacht hier herumsitzen und darauf warten wollte, dass sie beschließt, aufzustehen und den Sternenhimmel zu betrachten.«

»Ein Anruf, vermute ich«, sagte Hitchens. »Es wäre ganz einfach gewesen, sie mit einem Handy vom Wagen aus anzurufen.«

»Ja.«

»Das sieht langsam nach einem professionellen Job aus, nicht wahr?«

»Ich fürchte, ja.« Kessen nickte. »Ja, er hätte Miss Shepherd sehr leicht anrufen und aufwecken können. Aber was hat er zu ihr gesagt, um sie ans Fenster zu locken? Was konnte er sagen, um sie dazu zu bringen, ihm genau vors Visier zu laufen?«

Während Wayne Abbott eine gründliche Durchsuchung des Feldes organisierte, nutzte Cooper die Gelegenheit, zu berichten, dass ihm der Postbote Bernie Wilding erzählt hatte, er habe Miss Shepherds Gesicht nie deutlich zu sehen bekommen.

»Das könnte ich ja verstehen, wenn sie körperlich entstellt gewesen wäre«, sagte Hitchens. »Falls sie Verbrennungen gehabt hätte oder so etwas. Das würde erklären, warum sie nie aus dem Haus gegangen ist und nicht wollte, dass andere Leute sie sehen.«

»Aber sie war nicht entstellt, und zwar weder in natura noch auf ihrem Passfoto. Wie alt ist dieser Pass eigentlich? Wann wurde er ausgestellt?«

»Ausgestellt im Mai 2000. Gültig bis 2010.«

»Wie sieht es mit einem Motiv aus?«, fragte Fry. »Denken Sie, jemand aus dem Ort könnte einen Groll gegen sie gehegt haben?«

»Wenn sie mit niemandem aus dem Ort Kontakt hatte, wie soll dann jemand einen Groll gegen sie gehegt haben?«

»Tja, ich weiß nicht. Vielleicht hatte sie deshalb mit niemandem Kontakt. Da wir nichts über ihre Vergangenheit wissen, können wir auch keine Vermutungen anstellen. Wo sollen wir anfangen?«

»Es gibt nur einen Punkt, an dem wir ansetzen können«, sagte Kessen. »Wir brauchen eine Liste von Personen aus der Gegend, die einen Waffenschein besitzen. Was ist mit diesem Farmer? Wie war sein Name?«

»Neville Cross?«

»Er ist ein Nachbar von ihr, nicht wahr?«

»Ihm gehört das Land hinter Bain House. Aber ich glaube, sein Farmhaus steht ein gutes Stück weiter unten, zwei Felder entfernt.«

»Er besitzt bestimmt einen Waffenschein. Die meisten Farmer haben einen – für eine Schrotflinte zumindest. Vielleicht hat er aber Probleme mit Hasen und braucht ein Gewehr.«

»Ja, und vielleicht ist er ein ehemaliger Heckenschütze des Special Air Service«, sagte Hitchens skeptisch.

Kessen drehte sich abrupt auf dem Absatz um. »Tja, vielleicht ist er das tatsächlich. Wir wissen schließlich nicht, dass er keiner ist, oder, Paul? Dieser Mann hätte zumindest die Gelegenheit gehabt – die Schüsse wurden von seinem Grund und Boden aus abgefeuert. Niemand würde sich etwas dabei denken, wenn er Mr. Cross über sein Grundstück fahren sehen würde, auch nicht, wenn es nachts wäre. Wahrscheinlich würde sich auch niemand etwas denken, wenn er sein Gewehr dabeihätte.«

»Wir wissen aber nicht, ob er überhaupt ein Gewehr besitzt«, beharrte der Detective Inspector.

»Außerdem ist er derjenige, der das offene Fenster auf der Rückseite des Hauses gemeldet hat«, fuhr Kessen fort, als habe Hitchens überhaupt nichts gesagt. »Damit hat er dafür gesorgt, dass er als Zeuge in die Ermittlungen verwickelt ist. Sie kennen doch das typische Verhalten, Paul.«

»Er wurde von dem Postboten darauf aufmerksam gemacht, dass womöglich irgendwas nicht stimmt. Deshalb hat er nachgesehen.«

»Das heißt nicht, dass er es nicht ohnehin früher oder später getan hätte. Wir wissen es nicht, oder?«

»Wir wissen gar nichts«, sagte Hitchens.

»Deshalb sollten wir auch als Erstes den Personen auf den Zahn fühlen, die wir uns gleich hier an Ort und Stelle vorknöpfen können. Dann werden wir schon sehen, ob uns das weiterbringt.«

»Was ist, wenn er nicht zugibt, dass er ein Gewehr besitzt? Wir haben keine Rechtfertigung für eine Hausdurchsuchung.«

»Wir könnten ihn bitten, mit uns zu kooperieren und sich auf Schmauchspuren testen zu lassen. Dann wüssten wir zumindest, ob er in letzter Zeit eine Waffe abgefeuert hat.«

Wayne Abbott lauschte der Unterhaltung der beiden Detectives und schüttelte dann den Kopf. »Tut mir leid, aber es ist schon zu viel Zeit vergangen, seit die Schüsse abgefeuert wurden. Ein Schmauchspurtest muss binnen weniger Stunden gemacht werden, damit man aussagekräftige Ergebnisse bekommt. Nach achtundvierzig Stunden hat ein Verdächtiger sich so oft die Hände gewaschen oder abgewischt, dass alle feststellbaren Spuren verschwunden sind.«

»Und ein Metallspurentest, um festzustellen, ob er eine Waffe in der Hand hatte?«

»Der muss ebenfalls binnen vierundzwanzig Stunden erfolgen.«

Kessen fluchte leise. »Vierundzwanzig Stunden sind nutzlos für uns. Nutzlos.«

Der Detective Inspector deutete auf seine beiden Detectives. »Wir sind bereits von Haus zu Haus gegangen und haben die Anwohner befragt, aber die unmittelbaren Nachbarn müssen noch einmal eingehender vernommen werden. Irgendjemand muss doch etwas über Rose Shepherd wissen. Bitte vernehmen Sie jeden einzeln, ja? Irgendjemand wird Ihnen schon die Namen sagen.«

»In Ordnung, Sir.«

»Eine Frau ohne Angehörige und ohne Freunde«, sagte Hitchens in verbittertem Tonfall. »Wie sollen wir das Leben von so jemandem rekonstruieren?«

»Sie muss zumindest einen Feind gehabt haben«, sagte Fry. »Das ist ein Anfang.«

»Es ist zumindest eine Art von Beziehung.«

»Selbstverständlich ist es das«, sagte Kessen. »Es bedeutet, dass sie eine Beziehung zu jemandem hatte, die stark genug war, dass diese Person Hass gegen sie empfinden konnte. Genug Hass, um sie zu töten. Wir haben es hier nicht mit einem flüchtigen Bekannten zu tun, zu dem sie irgendwann einmal auf der Straße ›hallo‹ gesagt hat. Die beiden haben eine gemeinsame Vergangenheit.«

»Wenn man sich allerdings dieses Haus ansieht, scheint die Tote eine Frau ohne Vergangenheit zu sein. Fast schon ohne ein Leben.«

»Wenn es in diesem Haus keine Hinweise auf Rose Shepherds Vergangenheit gibt, kann das nur eines bedeuten – dass sie eine Vergangenheit hatte, die sie unbedingt verbergen wollte.«

Fry legte Cooper die Hand auf den Arm.

»Ben, hast du deinen Wagen hier?«

»Sicher.«

»Dann nimm mich doch bitte zu meinem Auto mit. Das musste ich meilenweit entfernt stehen lassen.«

»Kein Problem.«

Fry wischte sich ein paar Spinnweben von der Jacke. »In diesem Haus ist es ziemlich schmutzig, oder?«

»Ja, das ist mir auch aufgefallen. Aber hast du die Wohnzimmerdekoration gesehen?«

»Das Dunkelgrau? Ja, sehr minimalistisch.«

Cooper blieb in der Türöffnung stehen, um einen letzten Blick auf Bain House zu werfen, ehe er ging. War es im Haus staubig, weil Miss Shepherd keine Lust auf Hausarbeit gehabt hatte oder weil sie es nicht gewöhnt gewesen war, selbst zu putzen? Oder gab es vielleicht noch einen anderen Grund?

Aus einem Impuls heraus ging er in die Hocke und blickte ins Sonnenlicht, das die Kieferdielen flutete. Im Licht, das durch die Fenster fiel, glitzerte eine deutlich sichtbare Staubschicht. Man hätte sofort gesehen, wenn jemand über diesen Teil des Fußbodens gegangen wäre, da die Fußabdrücke im Staub zu erkennen gewesen wären. Vielleicht war das der Grund, weshalb nicht geputzt worden war.

Abbotts Wilderer-Theorie war interessant. Wenn das Scheinwerferlicht eines Wilderers einen Hasen erfasst hatte, war dieser wie hypnotisiert und schien schlichtweg zu vergessen, die Flucht zu ergreifen. Ja, Cooper hatte das tatsächlich schon selbst gesehen. Er konnte sich die unnatürliche Reglosigkeit des Tieres genau vorstellen, dessen Augen das Licht wie zwei Glasperlen reflektierten, wenn es von dem plötzlichen grellen Schein benommen war, nachdem es sich im Dunkeln in Sicherheit gewähnt hatte.

Fry wartete draußen auf ihn und wurde sicher schon ungeduldig. Doch Cooper dachte noch einen Augenblick lang über Rose Shepherd nach, die erschossen worden war, als sie mit Nachthemd und Pantoffeln bekleidet am Schlafzimmerfenster gestanden hatte. Eingerahmt vom Licht musste sie für einen Heckenschützen ein einfaches Ziel abgegeben haben. Es bedurfte nicht viel Phantasie, sich vorzustellen, dass sie wie angewurzelt dastand und darauf wartete, von der Kugel getroffen zu werden.

Todesnacht

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