Читать книгу Ich will malen! - Michael Hatry, Susanna Partsch - Страница 6
2. Wie Artemisia richtige Engel sah
ОглавлениеPrudenzias und Orazios Tochter wurde am 10. Juli 1593, zwei Tage nach ihrer Geburt, in der kleinen Kirche San Lorenzo in Lucina auf den Namen Artemisia getauft. Die Kirche, einer der ältesten Kirchen Roms, lag nicht weit von der kleinen Wohnung der Gentileschis in der lebhaften Via di Ripetta im Künstlerviertel, in dem die Maler so zahlreich waren wie die Katzen. Keine schöne Gegend, aber hier waren die Mieten mit am billigsten. Artemisias Mutter, die aus gediegenen bürgerlichen Verhältnissen kam (wie Orazio auch), schimpfte dann und wann über das Hungerleiderdasein, das sie zu dieser Gegend verurteilt hatte. Aber das war nicht so ohne Weiteres zu ändern. Tatsächlich lebten die Gentileschis von der Hand in den Mund. Brot war nirgendwo in Europa so teuer wie in Rom. Fertige Pasta noch dreimal so teuer. Und Prudenzia lernte das Kunststück, jeden giulio zweimal auszugeben.
Als Artemisia ein Jahr und fünf Monate alt war, wurde ihr erster Bruder geboren, der auf den Namen getauft wurde, den sie bekommen hätte, wenn sie ein Junge gewesen wäre: Giovanni Battista.
Ihre kleine Welt beschränkte sich auf ein paar Straßenzüge zwischen der Via di Ripetta, der Via del Corso und der Via Paolina, die alle in die Piazza del Popolo mündeten, den großen Platz mit der Kirche Santa Maria del Popolo und dem nördlichen Stadttor. Durch dieses Tor hatte ihr Vater, wie er ihr erzählt hatte, zusammen mit seinem sieben Jahre älteren Bruder Aurelio (der später in die Toskana zurückgekehrt war), als Junge Rom betreten.
Die Straßen mit ihren vielen kleinen Läden waren schmal, die Mietshäuser auch, zwei, drei Stockwerke hoch, eng aneinander gedrückt. Dazwischen, als sei die Stadt aus ganz verschiedenen Baukästen zusammengesetzt, protzige Kirchen, edle Paläste, Hotels und Herbergen für Pilger und Touristen, Gemüsemärkte, in den Hinterhöfen Gemüsegärten und Bordelle zum kleinen Hafen, dem Porto di Ripetta, hin. Überall war ein Geruch von Abfall und Unrat, in den sich aktuelle Gerüche mischten. Bauern steuerten ihre Eselskarren durchs Gewimmel, schrien und fluchten. Schreie und Flüche antworteten ihnen. Junge und alte Händler priesen ihre Waren an: Zuckerwerk, Gebäck, Melonen. Scharenweise Bettler und beinamputierte Invaliden diverser Kriegszüge hielten die Hand auf. Taschen- und Melonendiebe ließen ihre Hände spazieren gehen. Huren boten sich an Fenstern feil oder standen gleich auf der Straße, obwohl das verboten war. Entlassene Söldner und andere Habenichtse machten die Straßen unsicher, schwer bewaffnete Banden, zum Teil im Dienst verfeindeter römischer Adelsfamilien, bekriegten sich, Jugendbanden machten sich einen Spaß daraus, die Huren zu provozieren, und die Sbirren durchkämmten auf der Suche nach Waffen und potentiellen oder tatsächlichen Verbrechern nachts die Straßen. Artemisias Vater Orazio war Freskenmaler.
„Ich male Wände an“, sagte er zu Artemisia. Das kann ich auch, dachte Artemisia und verschönerte mit einem von Orazios Holzkohlestiften die Wand seines Zimmers. Daraufhin verbot er ihr bei Androhung des Fegefeuers, Holzkohle je wieder in die Hand zu nehmen. Da war sie drei Jahre alt.
Ein andermal zeigte er ihr Entwürfe zu einem Altarbild auf Leinwand, das die Bekehrung des Paulus (für eine Benediktinerkirche außerhalb der Stadtmauern) darstellen sollte: das Pferd des Apostels, den fallenden Apostel selbst, Soldaten.
Die meisten Entwürfe und Skizzen waren mit Holzkohlestiften gezeichnet, manche aber auch mit Kreide. Und Artemisia juckten wieder die Finger. Als sie in einer stillen Stunde eine der Skizzen mit eigenen Kreidezutaten bereichert hatte, kam ihr Vater erneut wie ein Donnerwetter über sie. Teils, weil er seine Skizze nicht wiedererkannte, teils weil Kreide teuer war. Und deshalb verbot er ihr, Kreide je wieder in die Hand zu nehmen, wieder bei Androhung des Fegefeuers.
Als die Bekehrung des Paulus fertig war, erteilte ihm der Benediktinerorden einen zweiten, weit größeren Auftrag und schickte ihn samt ein paar Mitarbeitern in die Sabiner Berge, wo er die berühmte, aber renovierungsbedürftige Abtei Santa Maria di Farfa durch Tafelbilder und Fresken auffrischen sollte. Zwei Tagesreisen von der Via di Ripetta entfernt. (Mit einem guten Pferd, das Orazio selbstverständlich nicht hatte, vielleicht auch nur eine Tagesreise.)
Unter anderm sollte Orazio die heilige Ursula malen (auf dem Entwurf, den er Artemisia zeigte, hatte sie einen Pfeil im Hals und sah wie Prudenzia aus) und die Allegorien der Stärke (eine gewaltige Dame in schwerer Rüstung, mit Helm) und der Gerechtigkeit (eine genauso gewaltige Dame mit einem Schwert über der Schulter).
Eine Heilige sei beinahe ein Engel, erläuterte er kühn, und Gerechtigkeit sei, wenn alle ihr Recht bekämen. Artemisia fand es aber höchst ungerecht, dass Farfa so weit weg war.
Ihre Mutter war wieder einmal hochschwanger und bestand unter Einsatz von Tränen und anderen erpresserischen Mitteln darauf, aus dieser schrecklichen Gegend, also aus der Via di Ripetta wegzuziehen. Durch den Auftrag in Farfa sei die Finanzierung des Umzugs sicher gestellt, behauptete sie, und also zogen sie, gerade rechtzeitig zur Geburt von Artemisias zweitem Bruder, der den Namen Franceso bekam, in eine etwas größere Wohnung in etwas besserer Lage. An die Platea Santissima Trinità am Fuße des Pincio. Aber auch von hier aus konnte Artemisia das große Stadttor auf der Piazza del Popolo noch sehen. Das war ein wenig Sicherheit in einer unsicher gewordenen Welt.
Im Juni 1597 nahm Orazio Abschied. Alle weinten, nur er nicht, und manche Träne netzte seinen schwarzen, gepflegten Bart, ehe Artemisia und Gianni und ihre Mutter ihn endlich fortließen.
Prudenzia fand sich damit ab. Sie hatte genug zu tun. Das Baby Francesco, hing in einem fort an ihrer Brust, Giovanni Battista an ihrem Rock. Alles drehte sich nur noch um die Brüder. Artemisia fühlte sich an den Rand gedrängt.
Einmal kam Orazio aus Farfa für ein paar Tage zu Besuch.
Er sagte: „Die Farbe trocknet. Dabei will ich sie nicht stören.“
Und dann fuhr er wieder weg und blieb weg bis Anfang 1599.
Etwa ein halbes Jahr später, an Artemisias sechstem Geburtstag, fuhr ihre Patin Artemisia Capizucchi, eine ziemlich vornehme Dame aus der besten römischen Gesellschaft, die zu den Bekannten von Prudenzias Eltern gehörte, die sie aber nicht oft zu Gesicht bekam, mit der Kutsche vor.
„Die arme Kleine hat ja keinen Namenstag den man feiern könnte!“, schnaubte sie. Sie hatte eine prächtige Nase und schnaubte sehr eindrucksvoll.
„Da muss es notgedrungen der Geburtstag sein!“
Dass sie nicht nach einer Heiligen hieß, wusste Artemisia natürlich längst. Der Name kam von Artemis, der griechischen Göttin der Jagd. Außerdem hießen ihre Patin und sie wie die persische Königin, die ihrem verstorbenen Mann, dem König Mausolos, ein gigantisches Grabmal hatte bauen lassen und jeden Tag, wie die Patin auch an diesem Tag erzählte, eine kleine Prise seiner Asche in ihren Wein gemischt hatte, die verrückte Person.
Die Patin schnaubte verächtlich.
Dann brachen sie auf.
Die Fahrt führte durch nie gesehene Gegenden. Zuerst den Corso hinunter bis zur Piazza Venezia mit ihrem klotzigen Palast, in dem der Gesandte der Republik Venedig residierte.
„Glaub ja nicht, dass es hier immer so ausgesehen hat“, plauderte die Patin. „Als ich noch klein war, sogar, als meine Kinder noch klein waren, gab es diese gerade Straße, durch die wir jetzt fahren, noch gar nicht! Seine Heiligkeit, Papst Sixtus V., hatte Angst, die vielen Pilger könnten sich verlaufen, deshalb fand er es am besten, wenn man die großen Kirchen auf geraden Straßen erreichen konnte. Naja, wir Römer fanden uns ja eigentlich schon zurecht, aber die Pilger ... pople bitte nicht in der Nase, Artemisia, ich weiß, dass das sonst niemand was ausmacht, aber ich ... Da hinten wohne ich übrigens!“
Sie zeigte nach rechts in ein vornehmes Wohnviertel.
Dann kamen sie am verwahrlosten, von den päpstlichen Baumeistern seit Jahrhunderten geplünderten Forum Romanum vorbei, an all den grün überwucherten Tempelresten und Säulenstümpfen aus der Zeit der Antike, eingerahmt von Zypressen und Pinien. Davor war der Viehmarkt im Gange.
Gleich dahinter die gleichfalls begrünte Ruine des Colosseums, vor dem Schafe weideten. Und zum Quietschen der Wagenräder und Trappeln der Pferdehufe erzählte die Patin nun von blutigen Gladiatorenkämpfen, Löwen und christlichen Märtyrern, so dass Artemisia den Kopf ganz voller Bilder hatte, als sie schließlich am Ziel ihres Ausflugs ankamen. Da schnaubte die Patin zufrieden, die Pferdchen schnaubten ein Echo und sie stiegen aus.
Vor ihnen, direkt an der Stadtmauer, dahinter freies Feld und eine schöne Hügellandschaft, erhob sich riesenmächtig die Basilika San Giovanni in Laterano, die Mutter aller Kirchen der Stadt und des Erdkreises, die alte Bischofskirche der Päpste, die päpstliche Kirche überhaupt, so benannt nach dem angrenzenden Lateranpalast. Auf dem Platz vor der Basilika stand ein ägyptischer Obelisk.
„Aus dem Circus Maximus“, sagte die Patin. „Seine Heiligkeit, Papst Sixtus V., hat den Obelisken hier aufstellen lassen. Obelisk ist griechisch und heißt Bratspieß.“
Artemisia lachte.
„Ich sage aber lieber: Zeigefinger Gottes.“
Der Platz wimmelte von Leuten: Besuchern, fliegenden Händlern, Bettlern und zwischen ihnen hin- und her flitzenden Kindern.
Sie gingen auf die Kirche zu und je näher sie kamen, desto gewaltiger erschien sie Artemisia. Sie hielt die Hand ihrer Patin fest umklammert, um nicht davon zu fliegen. Hohe Säulen ragten empor und gliederten himmelwärts das Portal. Sie betraten den Vorbau und durch eine schwere Tür den Kirchenraum.
Und dann war alles auf einmal ganz anders. Ihr Kopf war plötzlich ganz leer. Die große Stille, die sie umgab, erschlug sie fast.
Lichtbahnen fielen durch weit oben eingelassene Fenster in den riesigen Raum, als kämen sie direkt aus dem Himmel. Daher kamen sie ja auch, aber es schien Artemisia, als schwebten Engel, auch wenn sie unsichtbar waren, auf ihnen auf und nieder, schwebten und rutschten und purzelten, stiegen hinauf und hinab wie auf einer Himmelsleiter, man konnte bloß die Stufen nicht sehen. Aber als sie die Augen schloss, sah sie auf einmal die Engel und auch die Leiter.
Metallen klangen ein paar Stimmen durch den Raum, aber das waren nicht die Engel, die geräuschlos auf und nieder stiegen. Und als Artemisia ihre Augen wieder öffnete, sah sie die Gerüste. Auf einem entdeckte sie ihren Vater.
Sie stieß einen Kiekser aus und hielt eine Hand vor den Mund.
„Wir wollen ihn überraschen“, sagte die Patin.
Artemisia nickte begeistert.
Sie durchquerten das Längsschiff. Und als sie und ihre Patin am Fuß des Gerüsts angekommen waren, sah sie ihren Vater direkt auf die Wand malen, an einer sehr großen Figur. Der Umriss war schon zu erkennen, überhaupt war die Figur schon halb zu sehen, aber ob es ein Engel oder ein Heiliger oder sonst wer war, konnte Artemisia noch nicht erkennen.
Sie standen eine Weile stumm.
„Papà!“, piepste Artemisia schließlich.
Aber Orazio reagierte nicht. Eigensinnig pinselte er auf ein und demselben Fleck.
„Papà!“, piepste Artemisia. Es gelang ihr einfach nicht, zu rufen.
Dennoch wurde ein anderer Maler aufmerksam. Er trug den bemerkenswertesten Bart, den Artemisia jemals gesehen hatte: einen Schnurrbart mit stirnwärts gezwirbelten Enden.
„Meine Verehrung, Frau Capizucchi!“, rief er.
„Messer Baglione!“, antwortete Artemisia, die Ältere, und verrenkte huldvoll ihren Kopf, indem sie ihn gleichzeitig neigte und die Augen nach oben drehte, wo Giovanni Baglione stand.
„Orazio!“, rief er. „Besuch!“
Orazio wandte den Kopf Baglione zu.
„Zu deinen Füßen!“
Orazio sah nach unten.
„Papà!“, jubelte Artemisia.
„Artemisia“, sagte Orazio verwundert.
„Deine Tochter?“, fragte Baglione.
„Ja.“
„Die Patin hat mir eine Kutschfahrt zum Geburtstag geschenkt!“, krähte Artemisia.
„Sie hat Geburtstag, Orazio!“, schmetterte Baglione. „Hast du das vergessen? Ist sie wirklich von dir?“
„Natürlich nicht!“
„Nicht?“
„Nicht vergessen, du Hurensohn!“, brüllte Orazio wütend.
Baglione lachte. In sein Lachen mischte sich Gelächter aus anderen Ecken der Kirche.
„Wie alt bist du?“, hallte eine Stimme durch den weiten Kirchenraum. Aber es war nicht auszumachen, woher sie kam.
Aus dem Himmel vielleicht?
Artemisia schaute sich um, sah aber niemanden, dem die Stimme hätte gehören können.
„Sechs!“, piepste sie sicherheitshalber.
„Vor sechs Jahren war ich mit deinem Vater zusammen, als er von deiner Geburt erfuhr!“, rief die Stimme. „Da war vielleicht was los, in der Kneipe des Pisaners! Nun steig schon runter, Orazio, und begrüße sie!“
Orazio hasste Überraschungen. Und peinlich war ihm außerdem, dass sich sein Freund Giuseppe Cesari, der hier die künstlerische Leitung hatte, wie Gottvater persönlich einmischen musste. Aber er riss sich zusammen, stieg vom Gerüst, begrüßte Artemisia, die Ältere, und nahm dann die Jüngere auf den Arm.
„Willst du ihr keinen Kuss geben?“, rief Cesari, als könne er durch Mauern sehen.
Und Orazio küsste seine Tochter auf die Wange. Dann ließ er sich herab, ihr und ihrer Patin ein bisschen was zu erklären. Dass Seine Heiligkeit, Papst Clemens VIII., seine Bischofskirche für das Heilige Jahr 1600 etwas aufmöbeln wollte und dass sie Szenen aus dem Leben des römischen Kaisers Konstantin malten, der diese Basilika hatte bauen lassen, vor mehr als tausend Jahren, und außerdem einige Heilige. Er selbst malte einen überlebensgroßen Apostel Thaddäus, einen der Jünger Jesu.
„Keine Engel?“, fragte Artemisia enttäuscht.
„Engel nicht.“
„Aber ich habe sie trotzdem gesehen!“
Und sie zeigte auf die Lichtbahnen vom Himmel her.
Sie sah sie den ganzen Tag immer wieder und selbst im Einschlafen noch.