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3. Wie eine junge Frau ihren Kopf verlor und Artemisia sich ihren Reim darauf machte

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Es war halb neun Uhr morgens, in der vormittäglichen Schwüle des römischen Spätsommers 1599, und die Via Condotti war voller Leute, die fast alle in dieselbe Richtung gingen, Richtung Tiber nämlich. Vorm Gefängnis Tor di Nona, in dem die Cenci-Brüder saßen, hatte sich schon eine größere Menschenmenge versammelt, sodass Orazio, Prudenzia und Artemisia abbogen und über ein paar Nebenstraßen schließlich das Haus erreichten, in dem Freunde von Prudenzias Eltern wohnten. Orazio verabschiedete sich. Prudenzia, die zum vierten Mal schwanger war, und Artemisia gingen hinein und stiegen in den dritten Stock hinauf.

In der Wohnung fanden sie Prudenzias Mutter, Artemisias Großmutter, mit der Frau des Hauses und einer weiteren Frau, die Artemisia nicht kannte, beim Plausch in der Küche .Sie aßen frisches Gebäck. Zwei Jungen standen an einem der geöffneten Fenster.

„Weiß man schon, wie der Papst sich entschieden hat?“, fragte Artemisias Großmutter zur Begrüßung.

„Ich hab nichts gehört“, sagte Prudenzia.

Artemisia ging zu den Jungen ans Fenster. Ihre Großmutter schleppte einen Schemel hinter ihr her und Artemisia stellte sich darauf und ihre Großmutter stellte sich neben sie und legte ihr den Arm um ihre magere Schulter.

Der Blick ging auf die Engelsbrücke und, am anderen Tiberufer, die Engelsburg, die Stadtmauer, das freie Feld dahinter und einige Weinberge, und linkerhand auf den Bezirk Borgo und die vor zehn Jahren vollendete Kuppel der Peterskirche.

Auf dem Platz direkt unter ihnen, auf den drei Straßen mündeten, vor der Engelsbrücke, hatte man wie üblich das Schafott errichtet. Soldaten und Sbirren waren aufmarschiert. Hierher strömten die Menschen.

„Wann fängt es an?“, wollte Artemisia wissen.

„Das dauert noch etwas“, sagte ihre Großmutter.

„Und warum sind wir dann so früh gekommen?“

„Weil deine Mutter fürchtete, ihr würdet sonst nicht mehr durchkommen, nehme ich an.“

Artemisia lief in die Küche und nahm sich einen Zuckerkringel.

„Erinnert ihr euch noch an die Hinrichtungen, die Seine Heiligkeit, Papst Sixtus V., gleich am Tag seiner Thronbesteigung vornehmen ließ?“, fragte gerade die Frau, die Artemisia nicht kannte.

„Und ob ich mich erinnere!“, sagte Artemisias Großmutter.

„Wir waren gerade hier eingezogen“, erzählte die Hausfrau. „Ich wollte zum Markt gehen, das vergess ich nie, da grinst er mich drunten an der Brücke an, dieser Bandit, diese Teufelsfratze, die sie da ausgestellt hatten ...“

„Der König der Campagna?“, fragte Prudenzia.

„Ja. Ein ehemaliger Priester, das muss man sich mal vorstellen. Aber dieser Papst hat wirklich aufgeräumt!“

„Mein Fischhändler mochte ihn nicht“, sagte Artemisias Großmutter. „Er hat ihn doch tatsächlich mit dem verrückten Kaiser Nero verglichen!“

„Der Pöbel weiß es nicht besser“, behauptete die Hausfrau.

„Nein, wirklich!“, sagte die andere Frau empört. „Das ist doch ein himmelweiter Unterschied! Nero hat die Christen verfolgt, während Sixtus ... Er hat die Stadt verschönert, während Nero ...“

„ ... sie abgebrannt hat“, ergänzte Artemisias Großmutter. „Aber wo du gerade von Fischen redest, Lucia! Der Leichengestank von den Hingerichteten, es waren ja tausende, Gott verzeih mir, war manchmal wirklich schwer zu ertragen, im Sommer, ich rede nur vom Sommer, Gott verzeih mir!“

„Aber es war doch eine Ordnung damals!“, sagte die Hausfrau. „Jetzt haben wir wieder ganz den alten Schlendrian!“

Einer der Jungen am Fenster rief: „Es geht los!“

Alle gingen an die Fenster.

In die Menge unten auf der Straße war Bewegung gekommen. Alle sahen in Richtung Tor di Nona. Offenbar wurde weiter flussaufwärts das Tor des Gefängnisses, das sie nicht sehen konnten, geöffnet. Entfernter Gesang war zu hören.

„Was passiert da?“, fragte Artemisia.

„Sie holen wohl Giacomo und Bernardo dort ab“, sagte Prudenzia.

„Wenn sie sie nicht gleich hierher zum Schafott bringen ...“, überlegte die Hausfrau.

„... werden die Todesurteile vollstreckt!“, rief die andere Frau. „Seine Heiligkeit kennt keine Gnade!“

„Himmel!“, rief Prudenzia. „Das kann doch ...“

„Sie holen die Frauen im Gefängnis von Corte Savella ab!“, unterbrach sie die Hausfrau. „Und kommen nachher von der andern Seite wieder.“

„Die arme Beatrice“, sagte Artemisias Großmutter.

Das sagte sie schon seit Monaten.

Und dazu bekreuzigte sie sich. Und das auch schon seit Monaten. Seit Anfang des Jahres, als die Cencis erst mit Hausarrest belegt, dann verhaftet worden waren, Angehörige einer sehr alten, aber auch sehr heruntergekommenen Adelsfamilie. Seit allmählich die Gerüchte über den Prozess in Umlauf gekommen waren, seit die Leute sich die Mäuler zerrissen.

„Es ist eine Schande! Es ist wahrhaftig eine Schande!“, rief die Hausfrau.

Die Frauen pflichteten ihr bei.

Was konnte Beatrice denn dafür, dass ihr Großvater ein Betrüger gewesen war und die päpstliche Kasse um ein paar hunderttausend scudi erleichtert hatte? Was, dass ihr Vater noch viel schlimmer war? Ein Mörder und Vergewaltiger! Traf nicht ihren Vater selbst alle Schuld?

„Dieser Teufel in Menschengestalt!“, rief Artemisias Großmutter und bekreuzigte sich.

Hatte Francesco Cenci nicht jede Menge Blut an den Händen? Hätte er nicht längst hingerichtet werden müssen, wenn er sich nicht, reich wie er war, immer wieder hätte frei kaufen können? Hatte er auf dieser Burg in den Abruzzen nicht seine zweite Frau Lucrezia und seine Tochter Beatrice wie Gefangene in Zimmer gesperrt, deren Fenster bis auf einen kleinen Spalt mit Brettern vernagelt worden waren? Hatte er nicht Beatrice mit einem Ochsenziemer halbtot geschlagen, nachdem er von der Bittschrift erfahren hatte, die sie und ihre Stiefmutter, um ihre Befreiung zu erreichen, an den Papst gerichtet hatten? Hatte nicht eine Magd bezeugt, dass er mit seiner Tochter sogar habe schlafen wollen, dieser Teufel in Menschengestalt?

„Die arme Beatrice“, seufzte Artemisias Großmutter.

Natürlich, sie hatte die Tat nach kurzer Folter endlich auch gestanden. Hatte geschildert, wie sie, ihre Stiefmutter und ihre beiden Brüder sie beschlossen und geplant hatten. Wie die gedungenen Mörder, von denen der eine später Kopfjägern in die Hände gefallen, der andere an den Folgen der Folter gestorben war, den Tyrannen erschlagen und versucht hatten, die Tat als Unfall zu kaschieren. Was misslungen war, zum Bedauern der Großmutter, die sich sicherheitshalber schon wieder bekreuzigte. Tyrannenmord freilich schien nicht nur ihr und den anderen Frauen gerechtfertigt, sondern einem großen Teil der römischen Bevölkerung. Beatrice war galt ihnen als Märtyrerin.

Eine Märtyrerin, dachte Artemisia und flüsterte das Wort vor sich hin.

Sie hatte all dies Getratsche und Geratsche zu Hause mit angehört. Es klang ihr wie eine spannende Räuberpistole und begriffen hatte sie vor allem eins: dass einer jungen Frau, die sich gegen einen Tyrannen gewehrt hatte, Unrecht geschehen sollte. Schreiendes Unrecht, hatte ihre Großmutter gesagt.

Die Stimmung war aufgeheizt schon seit Tagen. Und jetzt hatte sich der Menge vor dem Schafott und auf der Brücke eine vibrierende Unruhe bemächtigt. Lärm und Geschrei erfüllten die Luft. Und je weiter der Tag voranschritt, desto heißer wurde es.

Die Zeit kroch dahin.

Artemisia versuchte, ihren Vater in der immer noch anwachsenden Menge zu entdecken. Die breiten Federhüte der Männer wogten, es war unmöglich.

Die Frauen fingen an, sich über Preissteigerungen und die Lebensmittelpreise im Allgemeinen zu unterhalten. Artemisia ging vor lauter Langeweile pinkeln. Gegen Mittag traf die Prozession an der Engelsbrücke ein. Jetzt drängten sich an allen Fenster, in den Loggien und auf den Dächern, in den Vorbauten und Türmen der Burg die Zuschauer, aus Westen und Süden strömten sie nach, auf der gegenüberliegenden Tiberseite waren die Straßen von Menschen und Kutschen verstopft.

Plötzlich legte sich der Lärm. Vom Ende der Prozession her war Gesang zu hören.

Direkt hinter einem großen Kruzifix ging eine schlanke junge Frau, die Hauptdarstellerin dieser monströsen Inszenierung, die Papst Clemens VIII. zu Nutz und Frommen seiner Untertanen befohlen hatte. Neben ihr ging eine ältere, korpulente Frau, Lucrezia Paltroni, ihre Stiefmutter.

„Ist sie das?“, fragte Artemisia. „Die junge?“

„Ja“, sagte Prudenzia. Die beiden Frauen trugen weite dunkle Mäntel. Ihre Arme waren an den Körper gebunden, doch konnten sie kleine Kruzifixe halten und Taschentücher.

Gleich hinter ihnen rumpelten Eselskarren Giacomo und der erst siebzehnjährige Bernardo. Giacomo, ein kräftig gebauter Mann von etwa dreißig Jahren, den Oberkörper nackt, wurde von einem Henkersknecht mit der Zange malträtiert, die Haut hing ihm vom Leib. Eine Gestalt, gehüllt in ein knöchellanges schwarzes Gewand, eine Kapuze über dem Kopf und eine Maske vorm Gesicht, hielt ihm ein Täfelchen vor die Nase.

„Einer von der Bruderschaft der Misericordia“, flüsterte Artemisias Großmutter. „Er wird Trostspender genannt.“

Bernardo war allein auf seinem Karren.

„Er ist begnadigt!“, rief die Hausfrau. „Dem Himmel sei Dank!“

Und alle bekreuzigten sich.

Hinter den Karren schritten gravitätisch wie Friedhofskrähen die bärtigen Herren des Hohen Gerichts, ihnen folgten Abordnungen verschiedener Orden. Sbirren hielten die Straße frei und bahnten der Prozession ihren Weg. Immer mehr Volk drängte nach. Hin und wieder fiel jemand um und wurde davongetragen.

Wind war aufgekommen, wüstenwarmer Scirocco, und wehte den Gesang der Litaneien die Häuser hinauf und über den Fluss. Als die Spitze des Zuges das Schafott erreicht hatte, kam die Prozession zum Stehen. Die Delinquenten verschwanden in der kleinen Kapelle am Brückeneingang.

„Wo gehen sie hin?“, fragte Artemisia enttäuscht.

„Sie dürfen noch einmal zum Herrgott und der Jungfrau Maria beten“, sagte Prudenzia, „dass sie ihnen Stärke verleihen. Das wird sicher etwas dauern.“

Die Luft vibrierte. Sie war wieder von Geschrei erfüllt.

Man setzte sich in der Küche zum Essen zusammen. Jeder hatte etwas mitgebracht. Man aß und trank und ratschte, bis draußen wieder Stille eintrat. Alle stürzten an die Fenster.

Der Scharfrichter und seine Gehilfen hatten das Schafott betreten. Das Hohe Gericht nahm auf Stühlen Platz.

Ein Aufschrei ging durch die Menge, als Bernardo das Schafott bestieg. Ihm folgte seine Stiefmutter, die man halb hinaufschob..

Dem Jungen wurde ein Platz auf einem der Stühle zugewiesen. Er musste den Hinrichtungen offensichtlich zusehen. Das schien seine Strafe zu sein.

Artemisia hielt den Atem an.

Lucrezia wankte und schien ohnmächtig zu werden. Zwei Sbirren fingen sie auf und schleiften sie auf die Richtbank. Das Beil fiel. Lautes Geheul stieg aus der Menge auf. Dann kam Beatrice. Bernardo war in sich zusammengesunken.

Warum läuft sie nicht weg?, dachte Artemisia. Sie könnte sich in der Menge verstecken. Alle würden sie doch schützen und niemand sie verraten!

Aber Beatrice ging stolz und aufrecht.

„Beatrice!“, rief eine Männerstimme.

„Beatrice! Beatrice!“, schlossen sich andere an.

„Beatrice“, murmelte Artemisia. Und plötzlich wurde ihr das Herz eng.

Die junge Frau erklomm das Gerüst und trat vor den Richtblock, machte Hals und Brust frei und legte mit geradezu eleganter Geste ihren Kopf auf den Block,. Ihr langes Haar floss über den Richtblock. Der Scharfrichter hob das Beil, es blinkte grell in der Sonne, und einen schmerzhaften Augenblick lang dachte Artemisia, ein Blitz vom Himmel her würde allem ein Ende machen. Aber das Beil fiel.

Ein Aufschrei der Menge zerriss die schwüle Luft. Der Scirocco trug ihn mit sich fort, Richtung Peterskirche, der Schrei schien sich zu vervielfachen, als echote ihm der Himmel.

Prudenzia hatte den Arm um Artemisia gelegt.

„Es ist ein Skandal“, flüsterte Artemisias Großmutter. „Es bleibt ein Skandal und es wird ein Skandal für alle Zeiten sein.“

Jetzt bestieg Giacomo das Podest. Er wurde nicht mit dem Beil hingerichtet wie die Frauen. Der Scharfrichter schlug ihm so lange mit einer Keule auf den Kopf, bis er tot war. Dann wurde sein Körper in vier Stücke zerhauen, die an Fleischerhaken aufgespießt wurden. Dort blieben sie hängen bis in den späten Abend.

Auch die Leichen der Frauen wurden öffentlich ausgestellt. In einem Zug, der ebenfalls bis in den Abend dauerte, defilierten die Leute trauernd an ihnen vorbei.

Die Großmutter hatte sich mit Artemisia eingereiht, Prudenzia war nach Hause gegangen, um sich um die Jungen zu kümmern, die sie bei einer uralten Nachbarin abgegeben hatte.

Artemisia war stolz darauf, von Beatrice Abschied nehmen zu dürfen. Sie sah sich um, ob da irgendwelche Freundinnen aus der Nachbarschaft wären. Aber sie sah keine. Was würde sie zu erzählen haben! Das hatte sie allen andern Kindern voraus!

Als sie endlich vor dem Blutgerüst angelangt waren, war Beatrices Leiche bereits mit Blumen bedeckt und Artemisia tat es leid, dass sie keine dabei hatte. Die Großmutter neigte den Kopf, Artemisias tat es ihr nach, aber mit halben Augen sah sie doch auf die Leiche.

So will ich werden, dachte Artemisia. So schön und so tapfer.

Sie war beim Tod einer Heldin und Märtyrerin dabei gewesen. Beatrice hatte, das wusste sie, das Böse bekämpft und besiegt. Ihr war Unrecht geschehen.

Ich will malen!

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