Читать книгу Die Heilerin von Worms - Susanne Eder - Страница 12
Kapitel 6
ОглавлениеReglos, den Wischlumpen noch in der Hand, stand Garsende in ihrer Hütte und betrachtete ihr Werk mit schmalen Augen.
Sie hatte stets auf Reinlichkeit und Ordnung gehalten, doch noch nie hatte ihr Heim so sauber geblitzt, und noch nie hatte hier schlichtweg alles an seinem Platz gestanden. Töpfe und Tiegel standen nicht nur nach Wirkungsweise des Inhalts, sondern auch nach Größe sortiert in Reih und Glied, und die Kräutersträuße baumelten in ähnlicher Weise geordnet von den Deckenbalken. Jedes Utensil ihres Handwerks hatte sie gereinigt, poliert und frisch geschliffen, und nicht das kleinste Stäubchen war ihren rührigen Händen entgangen.
Der Anblick war niederschmetternd. Ein unglückliches Seufzen schlüpfte über Garsendes Lippen.
Auch der Verschlag nebenan, in dem sie ihre Vorräte lagerte, bot diesen deprimierenden Anblick von Unbelebtheit.
Nicht, dass es dort viel zu sortieren gegeben hätte, dachte sie düster. Das Ausbleiben der Kranken zeitigte Wirkung, und das Viertel einer Speckseite, die sie als Lohn für ihre Bemühungen um Ebertine von Hollerborn erhalten hatte, hing dort in einsamer Pracht vom Haken. Wenn das so weiterginge, würde es ein magerer Winter für sie werden.
Falls sie den Winter noch erlebte ...
Heftig biss sich Garsende auf die Lippe.
Nachdem sie am vorigen Tag zu ihrer Hütte zurückgekehrt war und kein Bauer mit einer Verletzung, keine Magd mit quälendem Husten, kein Knabe mit unerwünschten Läusen in den Haaren, keine Kaufmannsgattin mit einem peinlichen Furunkel vor der Tür auf sie gewartet hatte, war Garsende eine Weile unruhig in der kleinen Hütte auf und ab gegangen. Doch ihre Gedanken hatten sich nur unaufhörlich im Kreis bewegt, und mit den Gedanken schien die Furcht tröpfchenweise in ihr Blut zu sickern, als käme sie aus einem lecken Eimer in ihrem Herzen.
Ihr erstes Empfinden war Zorn gewesen, als der Klumpen Unrat an ihrem Ohr vorbeigeflogen war. Doch dem Zorn folgte rasch die Angst. Vom Getuschel hinter vorgehaltener Hand bis zum Werfen mit Schmutz war womöglich ein langer Schritt, aber was würde sein, wenn einer warf und viele dem Beispiel folgten? Dieser Schritt schien ihr beängstigend kurz zu sein.
Um sich abzulenken und ihre nicht ganz ruhigen Hände zu beschäftigen, hatte Garsende schließlich begonnen, hier ein Töpfchen und dort ein Tiegelchen an seinen Platz zurückzustellen.
Es war ihr nicht schwergefallen, dem Burggrafen zu versprechen, dass sie in ihrer Hütte bleiben und sich hier nicht wegrühren würde, bis sich ihre Lage gebessert hätte. Er würde sie aufsuchen, sobald es Neuigkeiten gäbe, hatte er ihr versichert. Aber niemand war zu ihrer Hütte gekommen, keiner hatte ihren Arbeitseifer unterbrochen. Nicht gestern und nicht heute, und letztlich war ihr die Beschäftigung zum wütenden Feldzug geraten.
Aber jetzt gab es nichts mehr zu tun.
›Unsinn, es gibt immer etwas zu tun. Beispielsweise Unkraut in meinen Kräuterbeeten, das es zu zupfen galt‹, sagte sie sich, um gleich darauf den Kopf zu schütteln. ›Aber nicht kurz vor Sankt Martin.‹
Oder sie konnte ihre Vorräte an Salben und Tinkturen aufstocken. Ihre Salbe mit Calendula ging zur Neige, und sie würde ...
Aber wozu? Wofür sich die Mühe machen, wenn doch keiner um eine Salbe bei ihr bitten würde.
»Verdammnis!«, rief sie laut und schleuderte den Lumpen, so fest sie nur konnte, an die stumme Tür.
Draußen dämmerte allmählich der Abend herauf. Das machte es wohl unwahrscheinlich, dass der Burggraf sie jetzt noch aufsuchen würde. Was, bei allen Heiligen, hielt ihn nur auf? Hatte er mit Guntram von Hollerborn gesprochen? Was hatte er herausgefunden?
Hielt er ihren Verdacht am Ende doch für nichts weiter als ein Hirngespinst? Glaubte er womöglich noch, was die Leute Übles von ihr behaupteten? Oder hatte er sie am Ende vergessen?
Langsam schüttelte Garsende den Kopf. Das glaubte sie denn doch nicht. Aber wieso, in aller Welt, stand er dann nicht schon längst vor ihrer Tür und erlöste sie endlich von dieser zermürbenden Warterei?
Mit einem tiefen Seufzen bückte sie sich, um den Lappen aufzuheben, und fuhr vor Schreck fast aus der Haut, als es tatsächlich an ihrer Tür klopfte.
»Himmel! Endlich!«, rief sie und riss die Tür auf. »Ich hatte schon geglaubt, Ihr würdet nicht mehr ...«
Abrupt verstummte sie.
Vor ihrer Hütte stand Gernot von Medenheim.
Für einen Augenblick wusste Garsende nicht, was sie sagen sollte. Gernot räusperte sich: »Ich scheine ungelegen zu kommen?«
»Es tut mir leid, ich wollte Euch nicht ...« Verlegen stockte sie.
»Nein, es ist an mir, um Verzeihung zu bitten, dass ich zu so später Stunde noch an deine Tür klopfe«, wehrte er mit einem Lächeln ab.
Herrje, es war in der Tat schon spät. Was konnte Guntrams Neffe von ihr wollen?
Abwartend, mit einem flauen Gefühl im Magen, sah sie ihn an.
Garsende war groß für ein Weib, und Gernot von Medenheim überragte sie nur um weniges. Obwohl er einen Umhang trug, der mehr dem Gewand eines Kaufmanns entsprach denn dem eines Edelmanns, verrieten die kräftigen Schultern und die Schwielen an seinen Händen, dass er gelernt hatte, ein Schwert zu führen. Gelocktes braunes Haar umrahmte sein Gesicht, und unter ihrem forschenden Blick vertiefte sich das Lächeln und spiegelte sich in seinen haselnussbraunen Augen.
Unvermittelt änderte sich der Ausdruck in seinen Zügen, und er wurde ernst.
»Mein Onkel schickt mich«, sagte er. »Der kleine Rupert scheint Fieber zu haben und ringt um Atem. Mein Oheim möchte, dass du dich des Knaben annimmst. Ich fürchte, er glaubt, sein Sohn könne womöglich an demselben Leiden erkrankt sein, dem seine Tochter erlegen ist.«
Dasselbe Leiden, dem seine Tochter erlegen ist, klang es in Garsendes Ohren nach. Hatte man den Knaben am Ende auch vergiftet? Und was, wenn er ihr wie Ebertine unter den Händen wegstarb? Das wäre unwiderruflich ihr Ende. Nein! Sie konnte nicht nach Worms! Sie wollte nicht! Wenn dieser Knabe starb, dann nicht in ihrer Obhut! Außerdem hatte sie dem Burggrafen das Versprechen gegeben, ihre Hütte nicht zu verlassen, ganz gleich, aus welchem Grund.
Der Knabe rang um Atem ...
›Memme‹, dachte Garsende, doch es half nichts. Ihr Mund fühlte sich staubtrocken an. Heilige Jungfrau! Wie sollte sie es nur über sich bringen, ein hilfloses Kind seinem Schicksal zu überlassen?
»Warum ich?«, hörte sie sich fragen, noch ehe sie zu einem Entschluss gekommen war.
»Ich verstehe nicht?«
»Euer Onkel hätte nach dem Bruder Apotheker vom Domstift schicken können. Er hätte rascher bei seinem Sohn sein können als ich. Und es heißt, Bruder Anselm verstünde sein Handwerk.« Garsende hob den Kopf und sah ihn offen an. »Ich konnte Ebertine nicht helfen, und ... Ihr könnt doch unmöglich in Worms leben, ohne zu wissen, dass ich derzeit nicht den besten Leumund habe.«
»Gerede und Geschwätz«, winkte Gernot ab. »Darauf gibt mein Oheim ebenso wenig wie ich. Und den Tod seiner Tochter legt er nicht dir zur Last. Außerdem scheinst du dir auch so manchen zu Dank verpflichtet zu haben, zumindest dort, wo mein Oheim verkehrt.« Ein schiefes Lächeln spielte um seine Mundwinkel, und unwillkürlich dachte Garsende, dass es nicht einfach für ihn sein konnte, einer Beschäftigung nachzugehen, die seinem Stand nicht angemessen war. Hatte sich Gernot aus freien Stücken für das Gewerbe eines Kaufmanns entschieden?
»Mein Oheim mag vieles sein, aber er ist kein dummer Mann. Er glaubt sicher nicht, dass Bruder Anselm oder irgendjemand sonst Ebertines Tod hätte verhindern können.«
»Warum?«, entfuhr es Garsende.
»Gottes Wille?«, schlug Gernot leichthin vor. Er schenkte ihr ein gewinnendes Lächeln. »Falls es das törichte Gerede ist, das dich zögern lässt mitzukommen, kann ich dich beruhigen. Derzeit schwatzt in der Stadt kein Mensch über etwas anderes als den unerwarteten Tod des Dompropstes.«
»Der Tod des Dompropstes?«, echote Garsende überrascht.
»Davon hast du nicht gehört?«
»Von wem denn auch?« dachte Garsende und schüttelte den Kopf.
»Propst Reginhard von Köln wurde tot aus der Pfrimm geborgen«, erklärte Gernot. »Man spricht davon, dass er möglicherweise ermordet wurde.«
Muttergottes! Für einen Augenblick überschlugen sich ihre Gedanken. Die plötzliche Erleichterung, die sie empfand, war überwältigend und auch ein wenig beschämend. Immerhin war doch ein Mensch zu Tode gekommen.
Kein Wunder, dass der Burggraf sie nicht aufgesucht hatte, überlegte sie. Gewiss würde er alle Hände voll zu tun haben, um Nachforschungen über den Tod des Propstes anzustellen. Wie wollte er die Zeit finden, sich auch noch um ihre Belange zu kümmern? Muttergottes! Was sollte sie jetzt nur tun? Wie lange würde es dauern, bis sich die Aufmerksamkeit der Leute wieder ihr zuwandte?
»Das Geschwätz der Leute sollte dich also nicht bekümmern«, brachte sich Gernot in Erinnerung.
Der kleine Rupert. Garsende biss sich auf die Lippe. Bot sich hier nicht die Gelegenheit, dass sie sich selbst in Guntrams Haus umsehen und vielleicht sogar die eine oder andere Frage stellen konnte? Womöglich konnte sie sogar herausfinden, wer einen Grund gehabt hatte, Ebertine zu töten.
Und das Versprechen, dass sie dem Burggrafen gegeben hatte? Garsende seufzte. Vermutlich hätte sie es ohnehin nicht über sich gebracht, das Kind im Stich zu lassen. »Wartet hier einen Augenblick«, sagte sie. »Ich packe nur noch meinen Beutel.«
Zwar hatte es im Lauf des Tages aufgehört zu regnen, doch noch immer hingen dunkle Wolken am Himmel, die der Abenddämmerung Vorschub zu leisten schienen. Das herbstlich gefärbte Blätterdach über dem schmalen Waldpfad, der von Garsendes Hütte in Richtung Worms führte, tat ein Übriges, um den Weg beschwerlich zu machen. Garsende hatte eine Lampe mitgenommen, die Gernot trug, dennoch mussten sie auf ihre Schritte achten, und seit sie den Pfad betreten hatten, war kein Wort mehr zwischen ihnen gefallen.
»Bei einem Weib, wie du es bist, mutet es seltsam an, dass du fernab der Stadt lebst, die dir doch gewiss mehr Schutz böte«, unterbrach Gernot plötzlich ihr Schweigen.
Überrascht hob Garsende den Kopf. Sie konnte sich nicht entsinnen, dass ihr eine solche Frage schon einmal gestellt worden wäre.
»Ein Weib wie ich?«, wiederholte sie. »Was meint Ihr damit?«
»Ich will dich nicht beleidigen, aber deine Rede lässt mich vermuten, dass du nicht in einer solchen Umgebung aufgewachsen bist«, erklärte er. »Daher frage ich mich, wieso du allein hier draußen lebst und ohne Ehegatten, der dich schützt? Ich kann mir nicht vorstellen, dass es dir an dieser Möglichkeit gemangelt hätte.«
Herrje, wollte er sie aushorchen? Misstrauisch sah sie ihn an. Freimütig erwiderte er ihren Blick, und in dem Lächeln, das er ihr schenkte, lag überraschend viel Wärme.
Bei allen Heiligen! Wollte Gernot mit ihr tändeln? Das ließe er besser sein, dachte sie ärgerlich. War Lothar von Kalborn auch der einzige Edelmann gewesen, der ihr Lager geteilt hatte, so war er doch schon einer zu viel für ihren Gleichmut gewesen. Noch ein Mann von Stand, der ihr das Herz bräche, danach stand ihr nun ganz gewiss nicht der Sinn!
»Ich habe mich frei für dieses Leben entschieden«, erwiderte sie scharf.
Ihre Verärgerung schien ihm nicht entgangen zu sein. Beschwichtigend hob er die Hände. »Verzeih meine Neugier. Meine Worte waren ungeschickt und keineswegs herabwürdigend gemeint.«
Der reumütige Ton in seiner Stimme stimmte sie milder.
»Wenn Ihr so wollt, war mir das Handwerk der Heilerin wohl in die Wiege gelegt, wie meiner Mutter, meiner Großmutter und deren Mutter auch.«
»Himmel!« Gernot lachte. »Gab es in deiner Familie denn keine Söhne?«
Lächelnd schüttelte Garsende den Kopf. »Wenn es sie gab, so weiß ich nicht viel über sie.«
»Dann hat dich deine Mutter in deinem Handwerk unterwiesen? «
»Meine Mutter und meine Großmutter. Doch die Zeit meiner Kindheit habe ich im Kloster verbracht«, gab Garsende widerstrebend Antwort.
An ihren Aufenthalt im Kloster dachte sie nicht gerne. Die Nonnen hatten ihre liebe Not mit ihr gehabt. Frei und unbeschwert war ihre Kindheit gewesen, bis ihr Vater beschlossen hatte, sie der Obhut der frommen Schwestern anzuvertrauen. Da sie nun einmal seine Tochter sei, wünsche er nicht, dass sie Heilerin würde wie ihre Mutter, hatte er erklärt und brachte Garsende gegen den Willen ihrer Mutter ins Kloster. Nicht einen Tag hatte sie dort verbracht, ohne sich die Freiheit zurückzuwünschen, die sie nur außerhalb der Klostermauern zu finden glaubte. Mit ihrer spitzen Zunge, ihrer Auflehnung gegen die strengen Regeln und ihrem Ungehorsam hatte sie den Nonnen und sich selbst das Leben reichlich schwer gemacht. Dennoch hatte sie dort viel gelernt – Dinge, die weder ihre Mutter noch ihre Großmutter sie hätten lehren können.
»Du scheinst nicht gerne dort gewesen zu sein?«, bemerkte Gernot.
Erheitert lachte Garsende auf. »Nicht einen Tag«, gestand sie. »Als mein Vater mich schließlich vor die Wahl stellte, entweder den Schleier zu nehmen oder mich zu vermählen, entschied ich mich ohne zu zögern für einen Ehemann.«
»Dann hattest du einen Gatten? Und bist jetzt Witwe?«
›Herrje, er lässt nicht locker‹, dachte Garsende und seufzte. »Mein Vater starb, noch ehe das Verlöbnis rechtens beschlossen war. Ich weiß nicht einmal, wen er als meinen Gatten ausgewählt hatte. Doch durch seinen Tod stand es mir frei, zu meiner Mutter zurückzukehren und ihr Handwerk zu erlernen.«
In Gernots Gesicht stand offenkundig eine Frage, doch er nickte nur schweigend, als wolle er sie nicht noch einmal durch eine unbedachte Äußerung verscheuchen.
Garsende lächelte. »Konrad von Rieneck war mein Vater«, beantwortete sie die unausgesprochene Frage. »Meine Mutter aber nicht sein Eheweib.«
»Wäre sie es gewesen, wärst du gewiss nicht hier«, bemerkte er. Garsende warf ihm einen raschen Blick zu, doch er hatte den Kopf gesenkt, und sie konnte den Ausdruck in seinem Gesicht nicht sehen.
Unmerklich war es dunkler geworden. Der Lichtschein der Lampe in Gernots Hand hüpfte bei jedem seiner Schritte wie ein Irrlicht auf und nieder, und die Bäume ringsum gerieten allmählich zu dunklen, schemenhaften Wächtern des Pfads. Unwillkürlich hatten sie ihre Schritte beschleunigt. Wenn sie Worms noch erreichen wollten, bevor die Stadttore geschlossen wurden, mussten sie sich beeilen.
Während Garsende aufmerksam dem Schein der Lampe folgte, überlegte sie, wie sie das Gespräch möglichst unverfänglich auf Ebertine bringen sollte.
Schließlich war es jedoch Gernot, der auf seine Base zu sprechen kam. »Warum hast du meinem Onkel gesagt, Ebertine sei möglicherweise vergiftet worden?«, fragte er plötzlich.
Ein wenig verwundert über seine Wortwahl, runzelte Garsende die Stirn. Gernot hatte nicht gefragt, warum sie glaubte, Ebertine sei vergiftet worden. Nein, er wollte wissen, wieso sie Guntram ihren Verdacht mitgeteilt hatte.
»Er war ihr Vater. Ich fand, er hatte ein Recht darauf, von meinem Verdacht zu erfahren«, antwortete sie.
»Natürlich«, sagte er leise. »Und warum glaubst du, dass ein Gift schuld an ihrem Tod war?«
»Es war die Art, wie sie starb, denke ich«, antwortete sie vage.
»Hmm, die Art, wie sie starb«, wiederholte er. Er warf ihr einen nachdenklichen Blick zu. »Und sonst hat nichts deinen Verdacht erregt?«
Die Frage hatte leichthin geklungen, als wäre sie nicht weiter von Bedeutung. Doch in seiner Stimme hatte ein eigentümlich unechter Ton mitgeschwungen. Mit einem Mal wurde Garsende unangenehm bewusst, dass sie gänzlich allein mit ihm war. Dämmerung. Ringsum Wald. Und keine Menschenseele.
Muttergottes! Würde Guntram von Hollerborn tatsächlich seinen Neffen zu einer Heilerin schicken, um sie ins Haus zu holen? Hätte er nicht vielmehr einen Knecht geschickt? Oder Irma, die Magd?
Herrje, und warum in aller Welt war ihr das nicht eingefallen, bevor sie ihn begleitete? Wie hatte sie nur so töricht sein können? Für einen Augenblick schienen ihre Knie nachzugeben, und prompt strauchelte sie.
»Obacht«, rief Gernot und packte sie am Arm. Dass er ihren Arm sofort wieder freigab, nachdem sie sich gefangen hatte, beruhigte Garsende nur wenig.
Unwillkürlich sah sie sich um. Noch befanden sie sich auf ihrem Eigen, und dieses Stück des Waldes kannte sie wie nichts anderes. Sie wusste, dass sich hinter dem dichten Gestrüpp am Wegrand etwa auf selber Höhe ein Wildpfad befand. Dem Wildpfad würde sie bis zum Karrenweg folgen können, der vom Kloster Mariamünster zur Pfauenpforte führte. Um diese Zeit wäre der Karrenweg belebt. Wanderer, Pilger, Reisende, heimkehrende Bauern würden vor Einbruch der Nacht dem Stadttor zustreben. Wenn es ihr gelänge ...
Gernot schien nicht aufgefallen zu sein, dass sie ihm die Antwort schuldig geblieben war. »Ich bezweifle nicht, dass du Gründe für deinen Verdacht hast, und glaube auch nicht, dass du dergleichen leichtfertig äußern würdest«, meinte er. »Mir will nur einfach kein Grund einfallen, warum irgendjemand Ebertine hätte töten sollen.«
Fragend hob er eine Braue, und plötzlich erschien ihr der Verdacht absurd, dass Gernot sie auf diesen Pfad gelockt hätte, wenn er beabsichtigte, sich ihrer zu entledigen.
Ungeduldig schüttelte sie den Kopf. Was, in aller Welt, war mit ihr los, dass sie sich solchen Unfug zusammenreimte? Falls er sie hätte umbringen wollen, würde er das bereits bei ihrer Hütte getan haben. Die Möglichkeit, dass jemand dort zufällig vorbeikäme, war weitaus geringer als hier, wo der Karrenweg nicht mehr weit entfernt war. Und so, wie die Dinge lagen, würden gewiss Tage vergehen, bevor man dort ihren Leichnam entdeckt hätte.
Allmählich beruhigte sich ihr Herzschlag.
»Mochtet Ihr Eure Base?«, fragte sie, als sie glaubte, wieder Herrin ihrer Stimme zu sein.
»Ob ich sie mochte?« Gernot schien zu zögern. »Nun, sie war noch sehr jung, und zweifellos auch ...« Mit einer ungeduldigen Geste winkte er ab. »Ach, warum sollte ich es schönreden? Nein, ich mochte sie nicht. Ich hielt sie für ein hintertriebenes junges Gör. Wenn sie wollte, konnte sie ohne Zweifel zauberhaft sein. Das wusste sie auch, und sie beherrschte die Kunst, sich diesen Zauber zunutze zu machen, um zu bekommen, was sie wollte.«
Unterdrückter Zorn schwang in seiner Stimme mit, und Garsende fragte sich unwillkürlich, ob Gernot womöglich auch zu jenen gehört hatte, die Ebertines Zauber erlegen waren? Und abgewiesen worden war?
»Mein Oheim verwöhnte sie ohne Maß und ließ ihr jede Laune durchgehen«, fuhr er fort. »Er schien nicht zu bemerken, was er damit anrichtete.«
Der Waldpfad endete, und sie bogen in den breiteren Karrenweg ein, der zur Pfauenpforte führte. Rasch blickte sich Garsende um und sah hinter ihnen vier Knechte, die mit geschulterten Sensen dem Stadttor zustrebten.
»Vielleicht erinnerte sie ihn an seine verstorbene Gemahlin«, meinte Garsende nach einer Weile. »War Ebertine ihrer Mutter ähnlich?«
»Nicht im Geringsten. Hellwig besaß ein sanftes Wesen«, erwiderte Gernot. Trocken fügte er hinzu: »Und falls mein Onkel überhaupt einer seiner Gemahlinnen gedenkt, dann würde dies wohl Godelind sein, seine erste Gattin. Es heißt, Guntram sei untröstlich gewesen, als sie bei Reimuts Geburt starb.«
»Ich wusste nicht, dass Euer Oheim vor Ebertines Mutter schon einmal vermählt gewesen war«, sagte Garsende mehr zu sich selbst. »Ihr sagtet, es hieße, Euer Oheim sei untröstlich gewesen. Habt Ihr Guntrams erste Gemahlin denn nicht gekannt?«
»Das war schwerlich möglich«, antwortete er. »Hellwig war die Schwester meiner Mutter, und als Guntram sich mit ihr vermählte, war Godelind schon etliche Jahre tot.« Plötzlich lachte er. »Mit Hellwig verband sich Guntram dann allerdings mit einem Zweig seiner Sippschaft, den er heute nur allzu gerne verleugnen würde.«
›Das muss ihm doch schmerzlich sein?‹, fuhr es Garsende durch den Kopf, doch in seiner Stimme lagen weder Spott noch Bitterkeit. Aus dem Augenwinkel warf sie ihm einen verstohlenen Blick zu. Nichts an ihm erinnerte sie an Lothar von Kalborn. Weder in ihrem Äußeren noch in ihrem Gebaren waren die beiden Männer einander ähnlich. In Lothars Zügen spiegelte sich zuweilen eine Härte, die Gernots Wesen fernzuliegen schien, und Lothars Lächeln war ... Herrje, es war ein Lächeln, das sie vermisste. Für einen Augenblick zog sich ihr Herz wehmütig zusammen. Dann rief sie sich streng zur Ordnung. Was gäbe es Fruchtloseres als derlei Vergleiche? Hatte sie nichts Wichtigeres im Sinn? Beispielsweise die Frage, ob Reimut ihrem Vater nach Godelinds Tod ein Trost gewesen war, oder ob er seiner älteren Tochter gram war, dass ihre Geburt ihm die Gattin genommen hatte.
Entschlossen reckte sie ihr Kinn. »Womöglich hat Euer Oheim seine jüngere Tochter der älteren vorgezogen und ...«
»Ebertine mag ein launisches, anmaßendes junges Weib gewesen sein, aber keiner von uns hatte einen Grund, sie zu töten«, unterbrach Gernot sie ruhig, aber bestimmt. »Es wäre besser, du ließest sie in Frieden ruhen.«
Noch ehe sich Garsende fragen konnte, ob das ein Rat, eine Warnung oder eine Drohung gewesen war, beschleunigte Gernot seinen Schritt, auf die Pfauenpforte deutend, die nicht mehr weit entfernt vor ihnen lag. »Rasch! Wir müssen uns beeilen. Die Wächter scheinen das Tor schon zu schließen.«