Читать книгу Die Heilerin von Worms - Susanne Eder - Страница 7

Kapitel 1

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Worms, 29. Oktober im Jahre des Herrn 1067

Glockengeläut drang von den Kirchen Sankt Martin und Sankt Lampertii durch den geschlossenen Verschlag und durchbrach die Stille, die in der Schlafkammer herrschte.

›Erst Matutin‹, dachte die Heilerin.

Nur wenige Stunden waren vergangen, seit sie zur Sext in der Salzgasse eingetroffen war, dennoch kam es ihr so vor, als säße sie schon seit einer halben Ewigkeit an Ebertines Lager.

Erschöpft strich sich Garsende eine Haarsträhne aus der Stirn, die sich aus ihrem hüftlangen Zopf gelöst hatte, und streckte die Glieder. In ihrem Körper schien kein Muskel mehr zu sein, der nicht schmerzte.

Stunde um Stunde hatte sich Ebertine immer wieder erbrochen, sich in heftigen Krämpfen aufgebäumt, geschrien und in nicht enden wollender Pein wild um sich geschlagen.

Obwohl Ebertines Schwester Reimut, ihre Base Kunigunde und Ansild, die Gattin ihres Vaters, der Heilerin abwechselnd beigesprungen waren, hatte es sie viel Kraft gekostet, das Mädchen festzuhalten, damit Ebertine sich am Ende nicht noch selbst verletzte.

Seit einer Weile hatte es nun den Anschein, als zeigten Eppich, Eibischwurzel und Gänsefingerkraut endlich ihre Wirkung und brächten den gepeinigten Leib des jungen Weibes zur Ruhe. Die Krämpfe waren verebbt, und sie war eingeschlafen.

Gleich darauf hatte Ansild die Kammer verlassen. Sie wolle nach ihrem Gatten sehen, hatte sie gehaucht. Guntram habe die Krankheit seiner Tochter sehr mitgenommen, gewiss würde ihn die Nachricht freuen, dass es ihr nun besser ginge.

Bevor Garsende etwas darauf erwidern konnte, war auch Reimut aufgestanden. ›Und ich muss unten wieder Ordnung schaffen, nachdem es meiner Schwester gelungen ist, das ganze Haus auf den Kopf zu stellen‹, hatte sie bissig erklärt und Kunigunde mitgenommen, die schon seit geraumer Zeit in einem fort verstohlen gegähnt hatte.

Garsende konnte es den Frauen nicht verdenken, dass sie die Kammer so rasch wie möglich verlassen wollten. Obgleich die Mägde alles hinausgeschafft hatten, was Ebertines krampfender Körper ausgeworfen hatte, stank es im Raum geradezu widerwärtig nach ihren Exkrementen. Um die Luft zu reinigen, hatte Garsende Eisenkraut und Beifuß in die Kohlebecken gestreut. Doch nicht einmal der frische Duft der Kräuter vermochte diesen üblen Geruch zu vertreiben, der sich überall in der Kammer festgesetzt zu haben schien.

Mit einem Seufzen griff Garsende nach dem Tuch, mit dem sie von Zeit zu Zeit den Speichel abwischte, der sich in den Mundwinkeln der Schlafenden sammelte. Doch dann hielt sie mitten in der Bewegung inne und betrachtete Ebertines Gesicht. Heute Morgen noch hatten ihre außergewöhnlich reizvollen Züge an einen sonnigen Frühlingstag erinnert. Jetzt wirkten sie so welk, als hätte das innere Feuer sie ausgezehrt und ihr Jugend und Schönheit gestohlen.

›Zwecklos‹, dachte Garsende. In einem Anflug von Zorn warf sie das Tuch so heftig in die Schale zurück, dass das Wasser überschwappte.

Guntram würde sich freuen, dass es seiner Tochter nun endlich besser ginge, hatte Ansild gesagt.

Garsende wusste es besser. Über dem jungen Weib lag schon der unbestimmte, leere Hauch, der seelenlose Odem, der dem Schnitter vorauseilte. Der Tod griff nach Ebertine, und es gab nichts mehr, was die Heilerin ihm noch entgegensetzen konnte.

Als hätte sein Schatten auch sie berührt, lief Garsende ein kalter Schauer über den Rücken.

›Allmächtiger, hilf mir!‹, flehte sie stumm. ›Lass sie nicht sterben. Nicht jetzt. Nicht ausgerechnet jetzt!‹

In der Stadt zerriss man sich ohnehin schon das Maul über sie, flüsterte hinter vorgehaltener Hand Gerüchte über die gottlose Drude, Lügen, die sich wie ein bösartiges Geschwür in Worms auszubreiten schienen. Und als würde das nicht genügen, um Garsende den Schlaf zu rauben, hatte der Archidiakon des Bischofs für Sankt Martin ein Sendgericht festgesetzt. Wenn nun auch noch Ebertine, die Tochter des Edelmanns Guntram von Hollerborn, in ihrer Obhut stürbe ...

Noch nie hatte Garsende so sehr gehofft, dass sie sich irrte. Und noch niemals hatte sie sich so hilflos gefühlt.

Mit dem Tod des Tuchwebers im Sommer hatte es begonnen. Der Mann war unter die Räder eines Ochsengespanns geraten und hatte zahlreiche Prellungen wie auch eine tiefe Wunde oberhalb des Knies davongetragen. Am nächsten Tag hatte die Wunde geeitert. Doch als sein Weib endlich die Heilerin ins Haus rief, war das Fleisch um die Wunde schon schwarz gewesen, zerfressen vom Wundbrand. Garsende hatte getan, was sie konnte, doch es war längst zu spät gewesen. Der Tuchweber war gestorben. Und sein Weib, außer sich vor Trauer, hatte der Heilerin die Schuld an seinem Tod gegeben.

Garsende sei nicht gottesfürchtig, nie habe sie ein Gebet gesprochen, ihre Kräuter würden nach Schwefel riechen, und sie habe merkwürdige Zeichen in die Luft gemalt, während sie ihre Tränke verabreichte, verkündete die Witwe jedem, der es hören wollte. Und überhaupt, wer wusste denn schon, was die Drude insgeheim murmeln würde und wen sie herbeibeschwor, wenn sie ihre Pulver mischte ...

Die Hetze der Tuchweberwitwe machte die Runde in der Stadt. Zu Anfang schüttelten die Leute noch den Kopf. Doch allmählich blieben die bösen Worte haften. Auf den Gassen steckten die Menschen die Köpfe zusammen, wenn man die Heilerin sah, richtete argwöhnische Blicke auf sie, und manch einer sprang gar zur Seite, wenn sie vorbeiging, um eine Berührung mit ihr zu vermeiden.

Ihr Aufenthalt unter dem Dach des Burggrafen im vergangenen Jahr hatte zwar Garsendes Ansehen in der Stadt deutlich gehoben; und die Zuneigung der Burggräfin Matthäa, aus der diese keinen Hehl machte, hatte ihrem Handwerk einen Nimbus von Ehrbarkeit eingebracht, der auch Frauen von Stand an die Tür ihrer Hütte klopfen ließ. Doch just dieses Klopfen wurde nach dem Tod des Tuchwebers allmählich seltener.

Bevor die Gerüchte jedoch ernsthaften Schaden an ihrem Leumund anrichten konnten, war Anfang September Bischof Adalbero nach Worms zurückgekehrt. Mit seinem Tross trafen Neuigkeiten vom Hof König Heinrichs ein, wo sich der Bischof aufgehalten hatte. Gerüchte über den lasterhaften Lebenswandel des jungen Königs erregten jetzt die Gemüter. In den Gassen und auf dem Marktplatz wurde gemunkelt, Heinrich feiere Orgien, in Quedlinburg und Goslar gehe es zu wie einst in Sodom und Gomorrha, er sei lieblos gegen seine junge Königin und habe sie ins Kloster Herford verbannt. Man machte sich Sorgen, dass die Thronfolge gefährdet sei und die Fürsten die Macht an sich reißen würden; und die Gerüchte um die Heilerin verschwanden.

Und dann, wie aus dem Nichts, waren sie plötzlich zurückgekehrt, heimtückischer, feindseliger, bösartiger als zuvor ...

Ein leises Geräusch, kaum mehr als ein Seufzen, riss Garsende aus ihren finsteren Gedanken.

Ebertine hatte die geröteten Lider geöffnet, an denen noch Spuren ihrer Tränen hingen. Ein schwaches Zucken lief über ihren Leib, und sie bewegte lautlos die blutleeren, zerbissenen Lippen. Das honigfarbene Haar klebte feucht auf ihrer Stirn. Vor der Blässe der Haut wirkten ihre braunen Augen wie schwarze Tümpel und schrien ihre Qual und ihre Furcht lauter hinaus, als jeder Schrei es vermocht hätte.

Garsendes Herz zog sich vor Mitleid zusammen.

»Ihr habt Durst?«, vermutete sie. Den Rücken des Mädchens stützend, hielt sie ihr einen Becher mit stark verdünntem Wein an die Lippen, den sie mit einer Spur Kümmel, Bibernelle und teurem Pfeffer versetzt hatte – ihr letzter, verzweifelter Versuch, dem Leiden des Mädchens doch noch beizukommen. Nach einem winzigen Schluck fiel Ebertines Kopf zur Seite, und sie schloss die Lider. Garsende ließ sie behutsam auf das Lager zurücksinken. Mit angehaltenem Atem wartete sie, bis sie am schwachen Heben und Senken der Brust sehen konnte, dass das Mädchen noch atmete.

›Ich muss hinunter in die Halle‹, ging es ihr durch den Kopf, während sie Ebertines flachen Atem beobachtete. Sie musste Guntram die traurige Botschaft bringen, damit er einen Priester holen und sich von seiner Tochter verabschieden konnte.

Aber was sollte sie dem Vater sagen? Zweifelsohne würde er sie fragen, was Ebertine fehlte, würde wissen wollen, woran sie zugrunde ginge. Und eine Antwort konnte sie ihm darauf nicht geben.

Ratlos biss sich Garsende auf die Lippe.

Noch heute Morgen war das Mädchen völlig wohlauf und munter gewesen. Wie in aller Welt sollte sie Guntram von Hollerborn erklären, dass seine Tochter jetzt, nur wenige Stunden später, im Sterben lag?

So rasch. Wie von einem Augenblick zum anderen ...

Hätte sie das nicht erkennen müssen? Hatte es Anzeichen gegeben? Was hatte sie nur übersehen?

›Sie schläft noch immer. Das ist gut, nicht wahr? Nun wird sie sich bald erholen‹, hörte Garsende eine Stimme hinter sich flüstern.

Erschrocken fuhr sie herum. Sie hatte nicht bemerkt, dass jemand eingetreten war.

Die Öllampe und die glimmenden Kohlen in den zwei Schalen bei der Bettstatt gaben nur wenig Licht her, und die Heilerin konnte Ansild nur an ihrer schmächtigen Gestalt erkennen.

Für einen Moment zögerte Garsende. Dann stand sie entschlossen auf und trat auf Guntrams junge Gattin zu.

›Ich fürchte, Ihr irrt Euch‹, sagte sie leise. ›Ihr solltet Euren Gatten holen.‹

»Aber ich dachte ... O nein! ... Wie soll ich nur ...? O Jesus ...«, stammelte Ansild und schüttelte ungläubig den Kopf. »Aber sie schläft doch jetzt. Da dachte ich ...« Leise stöhnte sie auf. »Muttergottes, das wird ein furchtbarer Schlag für Guntram sein.«

Nachdem Ansild die Kammer verlassen hatte, tupfte Garsende noch einmal über Ebertines Stirn und schüttelte die Felle auf. Zwar glaubte sie nicht, dass eine ordentliche Schlafstatt für Guntram auch nur von geringster Bedeutung wäre, aber so war sie zumindest beschäftigt.

Als sie schließlich die Enden der Decke unter die Strohbündel der Bettstatt schob, trafen ihre Finger auf etwas Hartes, Raues, das zwischen den Bündeln feststeckte. Neugierig zog Garsende den schmalen länglichen Gegenstand heraus und hielt ihn in den Schein der Öllampe. Es war der Schwanz einer Katze, um den ein vertrocknetes Kraut mit winzigen hellgrünen Blüten gewickelt worden war. Teufelskraut? Mit einem halberstickten Laut ließ Garsende das widerwärtige Ding fallen und schlug hastig ein Kreuz.

Wer, in aller Welt, hatte Ebertine verflucht?

Unwillkürlich wanderte ihr Blick zur Bettstatt hinüber.

Augenblicke verstrichen, während Garsende grübelnd das totenbleiche Gesicht des jungen Mädchens betrachtete. Dann klaubte sie den Schwanz mit vor Abscheu spitzen Fingern auf und ließ ihn in einen der Beutel gleiten, die am Gürtel ihres Gewandes hingen.

Die Heilerin von Worms

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