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Prolog

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Isenburg, März im Jahre des Herrn 1028

Ein Schrei, der ihr durch Mark und Bein ging, schreckte Odarike aus dem Schlaf.

Süßer Jesus, was war passiert? Mit klopfendem Herzen setzte sie sich auf, schlug fröstelnd die Arme um ihre bloße Brust und starrte in das Halbdämmer der Schlafkammer.

Wer in aller Welt hatte so fürchterlich geschrien? Agino?

Noch im selben Moment, als sie einen raschen Blick neben sich warf und das schummrige Nachtlicht ihr den leeren Platz an ihrer Seite zeigte, fiel ihr ein, dass ihr Gatte die Burg schon vor Tagen verlassen hatte. Mit großem Gefolge war er nach Aachen gezogen, um der Wahl von Kaiser Konrads Sohn zum Thronfolger beizuwohnen.

Noch immer hallte der markerschütternde Schrei in ihren Ohren nach, doch so angestrengt Odarike auch lauschte, konnte sie nur die vertrauten nächtlichen Geräusche hören: die regelmäßigen Atemzüge ihres Kindes, das in der Wiege zu ihrer Rechten schlummerte. Das leise Schnaufen der Magd zu Füßen der Bettstatt. Ein gelegentliches Knarren im Gebälk der Decke.

Allmählich dämmerte ihr, dass der Schrei nur ein Traum gewesen sein konnte, ein Alp, der sie im Schlaf verfolgt hatte. Aber warum wollte dann das unruhige Flattern in ihrem Magen nicht weichen?

Für einen Augenblick erwog Odarike, die Magd zu wecken, damit sie unten in der Halle nach dem Rechten sähe, schlug dann aber die Felle zurück und griff nach ihren Gewändern. So unruhig, wie sie war, würde sie ohnehin nicht mehr einschlafen können. Da konnte sie auch selbst nachsehen.

Rasch schlüpfte sie in Untergewand und Schuhe, streifte das winterwollene Obergewand über und schlang den Gürtel um ihre Hüfte. Als sie schließlich nach dem Nachtlicht griff, ließ ein Klimpern sie heftig zusammenzucken, und vor Schreck biss sie sich auf die Lippe. Muttergottes! Was für ein übler Nachtmahr mochte das gewesen sein, der sie im Traum heimgesucht hatte, wenn schon das vertraute Geräusch des Schlüsselbundes an ihrem Gürtel sie derart aus der Fassung brachte?

Die Magd schien von dem Klimpern nicht erwacht zu sein, und mit einem Blick in die Wiege überzeugte sich Odarike davon, dass auch ihr Sohn noch friedlich schlief.

Der Anblick des Kleinen entlockte ihr ein Lächeln. Von seiner Felldecke hatte er sich freigestrampelt, lag zusammengerollt wie ein Kätzchen auf der Seite und umklammerte fest das Holzpferd, das einer der Knechte für ihn geschnitzt hatte – sein Lieblingsspielzeug, ohne das er nicht einschlafen mochte.

›Die Wiege ist ihm zu klein geworden‹, ging es ihr durch den Kopf, während sie behutsam die Felldecke um seine schmalen Schultern zurechtzupfte. Ihr Herz zog sich wehmütig zusammen. Allzu bald schon würde sie ihn aus ihrer Obhut entlassen müssen. Dabei erschien er ihr noch viel zu zart und zu zerbrechlich, um zu lernen, was er lernen musste, damit er sich in dieser Welt der Wölfe würde behaupten können. Wie sollten diese kleinen Hände jemals ein Schwert tragen, diese schmalen Schultern die Last eines Kettenhemdes? Odarike unterdrückte ein Seufzen. Nichts anderes war ihm bestimmt, und alsbald würde die Härte des Kriegers den empfindsamen Ausdruck aus dem Gesichtchen vertreiben, das dem ihren so sehr glich.

Ob Agino je ...?

Als hätte sie den Gedanken laut ausgesprochen, presste sich Odarike erschrocken die Hand vor den Mund und schüttelte heftig den Kopf. An dieser Wunde würde sie niemals rühren. Das hatte sie vor dem Altar der Jungfrau geschworen!

Widerstrebend riss sie sich von der Wiege los und verließ leise die Kammer.

Abgesehen vom gedämpften Jaulen des Windes, der stets um das Gemäuer der Burg pfiff und Einlass durch die kleinsten Ritzen fand, herrschte auch auf dem schmalen Gang, der von der Schlafkammer zur Treppe führte, noch nächtliche Stille.

Vorsichtig setzte Odarike einen Fuß vor den anderen. Der Steinboden war uneben, und das Nachtlicht in ihrer Hand trug nicht weit. Nach kaum zehn Schritten machte der Gang eine scharfe Biegung, und noch ehe sie die Ecke erreicht hatte, erfasste unvermittelt ein scharfer kalter Luftzug die Lampe. Die kleine Flamme flackerte auf, dann erlosch sie.

Wie erstarrt blieb Odarike stehen und blinzelte mit angehaltenem Atem in die plötzliche Dunkelheit. Hörte sich der Wind nicht plötzlich an wie das dämonische Geheul der Wölfe, die die Heerscharen der Toten herbeiriefen? Und dieser graue Schatten hinter der Biegung? Ein Wiederkehrer? Ein ...?

»Vermaledeiter Mönch!«, stieß sie einen Augenblick später hervor.

Keine Höllenbrut hatte ihr Nachtlicht ausgeblasen. Nein, der allzu bußfertige Kaplan ihres Gatten trug an ihrem Missgeschick die Schuld!

Kaum hatte sie sich an der Wand entlang um die Biegung getastet, fand sie ihre Vermutung bestätigt. Eine Pforte im Mauerwerk zu ihrer Rechten stand weit offen. Mit Eisenverstrebungen verstärkt, um ein Eindringen von außen zu erschweren, führte die Tür hinaus ins Freie auf einen Söller, der den Palas mit der Burgkapelle verband. Wie schon so oft hatte der Kaplan verabsäumt, sie wieder sorgsam hinter sich zu schließen. Kaum hatte Odarike die Pforte zugezogen und auch den schweren Riegel vorgeschoben, fiel ihr ein, dass sich der Kaplan womöglich noch in der Kapelle aufhielt. War der Riegel erst vorgeschoben, ließ sich die Tür von außen nicht mehr öffnen.

Einen Moment lang gab sie sich dem köstlichen Gedanken hin, ihm den ausgestandenen Schrecken heimzuzahlen, und malte sich aus, wie ärgerlich es dem Mönch wäre, wenn er die Tür bei seiner Rückkehr verschlossen fand. Dann würde er den weiten Weg über den Burghof antreten müssen, anstatt hier rasch und bequem in seine Kammer schlüpfen zu können.

Geschähe ihm ganz recht, wenn er sich auf dem dunklen unwegsamen Burghof den Hals bräche, dachte sie verärgert, um sich dann rasch zu bekreuzigen.

Muttergottes! Was hegte sie nur für bösartige Gedanken? Wogen ihre Sünden nicht schon schwer genug? Seufzend schob sie den Riegel wieder zurück und trat auf den Söller hinaus.

Wie ein Adlerhorst thronte die Isenburg auf einem Bergsporn hoch über dem Eisbachtal und gab den Blick weit nach Osten, Süden und Westen frei.

Schon lange vor seiner Wahl zum König hatte Kaiser Konrad das wehrhafte Gemäuer erbauen lassen und die Burg mit den umliegenden Ländereien anlässlich seiner Krönung vor vier Jahren seinem getreuen Vasallen Agino zu Lehen gegeben. Noch im selben Jahr war Odarike mit dem neuen Burgherrn vermählt worden. Da ihr Gatte hoch in Kaiser Konrads Gunst stand und noch andere Lehen im Wormsgau, Nahegau und Lahngau besaß, hatte Odarike die Isenburg vor einem halben Jahr zum ersten Mal betreten.

Obwohl der scharfe Märzwind sie frösteln ließ und ihr das Haar ins Gesicht schlug, blieb Odarike nach nur wenigen Schritten stehen, angezogen von dem Anblick, den ihr die bedächtig herauf ziehende Dämmerung darbot.

Im Osten zu ihrer Linken erhellte ein Hauch von Blau das dunkle Band der sanften Hügel und Wälder, während sich das bewaldete Bergland im Westen noch kaum von der Schwärze der Nacht abhob.

Unterhalb des Söllers lag der ummauerte Burghof, und hinter der Wehrmauer fiel der Hang steil nach Süden hin ins Eisbachtal ab. Hier ließen der Wind und das zögerliche Dämmerlicht die Wipfel der Bäume zu gespenstisch tanzenden Schatten werden und die Wiesen, die Felder, das Dorf zu Füßen der Burg und die vereinzelten, fernab gelegenen Gehöfte wie von der Hand Gottes ausgestreute Tintenkleckse erscheinen. -

Allmählich kroch der frostige Wind unter Odarikes wollenes Gewand und schien sich wie eine eisige Hand auf ihre Haut zu legen. Dennoch folgte ihr Blick wie gebannt dem blassen Licht am Himmel, das sich so unmerklich ausbreitete, als wolle der Allmächtige ihre Augen narren.

Als Odarike sich endlich auf ihr eigentliches Vorhaben besann und sich widerstrebend von dem Anblick löste, war die Sonne noch nicht aufgegangen. Aber ihr Vorbote – ein zartes Morgenrot – berührte die Baumkronen auf den Hügeln zu ihrer Linken und überzog die dem Osten zugewandte Seite des Bergfrieds mit einem rosenfarbenen Schimmer, sodass die Dunkelheit hinter dem Turm im Westen umso schwärzer wirkte.

Auf dem Burghof unter ihr herrschte noch friedliche Stille, und kein Laut morgendlicher Geschäftigkeit war hinter den Mauern der Burg zu hören. Doch unten im Tal erhellte das Morgenlicht schon die Hütten im Dorf und schien wie rotgoldene Flammen an den Holzfassaden emporzuzüngeln. Hie und da stieg Rauch über den strohgedeckten Dächern auf, und ein fernes, gedämpftes Geräusch von Eisen auf Eisen verriet ihr, dass der Dorfschmied bereits mit seiner Arbeit begonnen hatte.

Tief einatmend stieß Odarike sich von der Brüstung ab und drehte sich um. Höchste Zeit für sie, in der Kapelle nachzusehen, ob der nachlässige Kaplan ...

Mitten in der Bewegung verharrte sie.

Irgendetwas stimmte nicht.

Plötzlich drohten ihr die Beine den Dienst zu versagen, und unwillkürlich streckte Odarike die Hand aus, um sich an der Brüstung festzuhalten.

Nirgendwo zog die Morgendämmerung im Süden heller herauf als im Osten. Kein Rauch, der von einem Herdfeuer aufstieg, erzeugte einen solchen Qualm. Und kein Hammer, der auf den Amboss schlug, hatte einen so hellen Klang.

Bis ins Mark erschüttert, schloss Odarike die Augen.

Der Dorfschmied würde heute kein Eisen schmieden. Und vielleicht nie mehr wieder.

Allmächtiger! Würde er denn niemals Ruhe geben?

›Ich muss Alarm schlagen‹, fuhr es ihr durch den Kopf, noch ehe der erste ferne Schrei aus dem Tal an ihr Ohr drang. Und doch blieb sie reglos stehen und rührte sich auch nicht, als der donnernde Ruf »Zu den Waffen!« vom Ausguck des Bergfrieds über den Hof fegte.

Schlagartig erwachte die Burg zum Leben.

Irgendwo bellte ein Hund. Von irgendwoher hörte Odarike das leise Schluchzen einer Frau. Jemand brüllte einen Befehl, und Fackeln flammten unterhalb des Söllers auf. Menschen rannten über den Hof, brüllend, weinend, fluchend; Waffen klirrten, Räder rumpelten über den steinigen Boden, und rasch übertönte der Lärm auf der Burg jedes flehende Gebet, Gott möge sich erbarmen und die Burg schützen, und jeden noch so lauten Hilferuf aus dem Tal.

Unfähig, den Blick von den Flammen zu lösen, die unten im Dorf schon hie und da die strohgedeckten Dächer erfasst hatten und die Bäume ringsum in ein gespenstisch schönes Licht tauchten, stand Odarike wie erstarrt an der Brüstung und wartete auf die Furcht.

Doch dieses Mal war es anders. Keine Angst, kein Zorn, kein Gefühl von Schuld schien sie zu erreichen, nicht einmal das Mitleiden mit den Bauern und Hörigen, die zu Füßen der Burg elend sterben würden, noch ehe der Tag vorüber war.

›Aber ich sollte mich fürchten‹, dachte sie vage.

Sie wusste, was geschehen würde. Sie wusste, dass er erst Halt machen würde, wenn er all die fruchtbaren Felder im Tal verwüstet hätte, wenn alles Vieh abgeschlachtet, jedes Gehöft in Schutt und Asche gelegt und jeder Mann, jedes Weib und jedes Kind niedergemetzelt wäre, falls ihnen die Flucht in den trügerischen Schutz der Burg nicht mehr rechtzeitig gelang.

Und wenn das Land zerstört wäre, kein Halm mehr stehen, kein Stein mehr auf dem anderen liegen würde, wenn das Blut der Dörfler den Boden tränkte und ihre Glieder verkohlt und morsch wie dürre, abgestorbene Zweige in den Himmel ragten, dann würde er seine Männer gegen die Burgmauern schicken.

Und wer sollte ihn dieses Mal aufhalten?

Der Burgherr war im weit entfernten Aachen, und mit ihm die meisten wehrfähigen Männer. Viel zu wenige waren zurückgeblieben, um die Burg notfalls zu verteidigen. Niemand hatte so früh im Jahr mit einem Angriff gerechnet.

Wohl würde es Zeit kosten, die wehrhaften Mauern der Burg zu erstürmen, doch womöglich nicht Zeit genug. Bis Agino von der Belagerung erfuhr und mit seinem Tross zurückgekehrt wäre, war es vielleicht schon zu spät.

Und wenn schließlich die letzte Zuflucht, der Bergfried, fiele, was dann?

Mein Kind ... Scharf sog Odarike den Atem ein, und so jäh wie ein Dolchstoß kehrte die Furcht zu ihr zurück.

Nein.

Das würde er nicht wagen.

Oder doch?

Aus dem Augenwinkel nahm sie noch wahr, dass das Dorf jetzt in hellen Flammen stand und der Wind die Asche zu ihr herauftrug. Einen Lidschlag lang glaubte sie sogar, das Knistern der Funken zu hören und – wie ein Echo von einem anderen Ort – die Schreie sterbender Menschen. Dann hatte sie auch schon ihr Gewand gerafft und war zur Pforte zurückgelaufen, vorangetrieben von nur einem Gedanken: Mein Kind ...

Die Heilerin von Worms

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