Читать книгу Medizin der Erde - Susanne Fischer-Rizzi - Страница 28
Beinwell
ОглавлениеSymphytum offlcinale
Familie der Raublattgewächse - Boraginaceae
In meinem Garten, ganz im äußersten Eck, kämpfen zwei Giganten miteinander. In das Beinwellfeld ist der Kürbis vom benachbarten Komposthaufen eingedrungen. Die Beinwellpflanzen stehen dicht beieinander, die großen, fleischigen Blätter so weit wie möglich um den hohen Stängel ausgebreitet. Sie scheinen alle Kraft des Bodens in sich aufgesaugt zu haben, um damit ihre Gestalt größer und größer werden zu lassen. Die Kürbispflanze, dick und gefräßig, windet sich wie eine große Schlange durch den Beinwellwald und versucht sich mit mächtigen, schirmgroßen Blättern Platz zu schaffen. Ich bin schon gespannt, wie dieses Schauspiel am Rand meines Gartens weitergehen wird. Dieses Stückchen Beinwellfeld ist vielleicht der ergiebigste Teil meiner Pflanzungen, es ist ein Stück lebendiger Arzneischatz, wo ich die wertvollsten Heilmittel gleich schubkarrenweise geschenkt bekomme. Jetzt im Sommer gehe ich öfter hierher, um mich an den zartvioletten Blüten des kanadischen Beinwells zu erfreuen. Ich bin dabei nicht allein, ganze Scharen von Hummeln freuen sich über die dick mit süßem Nektar gefüllten glockenförmigen Blüten. Um Verwechslungen gleich zu Beginn der Bekanntschaft mit dem Beinwell zu vermeiden, möchte ich die verschiedenen Pflanzen auf meinem Feld vorstellen: In der linken Ecke steht der einheimische, altbewährte und »ganz normale« Beinwell. Sein Beiname »officinalis« weist uns dezent darauf hin, dass wir es hier mit einer Heilpflanze von Rang und Namen zu tun haben. Er wurde nämlich schon in früheren Zeiten im Officin, dem Werkraum der alten Apotheken, verarbeitet und im amtlichen Arzneiverzeichnis aufgeführt. Er ist eine alte und geschätzte Heilpflanze von stattlichem Aussehen. Um den dicken fleischigen Stängel, der bis zu einen Meter Höhe erreichen kann, reihen sich große, lanzettliche Blätter. Sie wirken etwas plump und grob gestaltet. Blätter wie Stängel machen der Familie der Raublattgewächse, zu welcher der Beinwell gehört, große Ehre, denn sie sind mit vielen spitzen, rauen Haaren besetzt. Die Blätter sind am Stiel herablaufend verwachsen, so als ob sie nicht loslassen könnten. Dies galt den früheren Pflanzenkennern als Zeichen, um etwas über die Bestimmung des Beinwells zu erkennen. In dieser Geste drückt sich die zusammenhaltende Kraft des Beinwells aus. Auf den menschlichen Körper übertragen heißt dies, dass der Beinwell Auseinandergeratenes wieder zusammenfügen kann. Und wirklich wird der Beinwell seit langer Zeit als Heilmittel für gebrochene Knochen und bei Gewebsverletzungen mit großem Erfolg verwendet. Die Pflanze, so erkannten die Alten, trägt das Zeichen des Planeten Saturn. Dieser steht für die zusammenfügenden, festhaltenden und verhärtenden Kräfte. Saturnpflanzen haben oft harte, raue Oberflächen, wie z. B. auch der Schachtelhalm. Das Grün der Beinwellblätter scheint etwas abgedunkelt mit einem Schuss Schwarz. Saturngeprägte Pflanzen öffnen ihre Blüten nicht zum Licht, sondern neigen sie nach unten. Auch die Blüten des Beinwell sind zum Boden hin geöffnet. Angeschnittene Wurzeln des Beinwell im Boden wachsen wieder zusammen, auch dies deutete man als eine zusammenfügende Kraft der Pflanze.
Der Arzt und Astrologe Nicholas Culpepper schrieb im 17. Jahrhundert in seinem Kräuterbuch über den Charakter des Beinwells:
»Dies ist eine Pflanze des Saturn, ich nehme an, sie steht unter dem Zeichen des Steinbocks, kalt, trockenn und erdig in ihrer Qualität.«
Der Beinwell hat entweder weißlichgelbe oder violettblaue Blüten. Die Pflanzen mit den violetten Blüten nannte man früher »Beinwellmännlein«, die mit den gelblichen Blüten »Beinwellweiblein«. Die Blüten sitzen an überhängenden, zu Spiralen aufgerollten Stielenden.
Etwas weiter rechts in meinem Garten möchte ich bekanntmachen mit »dem Beinwell, der aus der Fremde kommt«. So lautet die Übersetzung seines lateinischen Namens »Symphytum peregrinum«. Er ist tatsächlich keine einheimische Pflanze, sondern stammt aus dem fernen Sibirien und aus der Ukraine. Er ist eine Kreuzung aus dem Symphytum officinalis und aus einer Beinwellart, die hauptsächlich im Kaukasus heimisch ist. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wurde der Symphytum peregrinum, heute Comfrey genannt, von einem englischen Gärtner, der in den Diensten der Katharina II. stand, von Petersburg nach England gebracht. Über Kanada wurde er nach den USA, Neuseeland und Australien eingeführt. Deshalb nennt man ihn heute noch den »kanadischen Beinwell«. Unter dem »modernen« und doch alten englischen Namen Comfrey ist er bei uns in den letzten Jahren berühmt geworden. Der Comfrey wird größer als der Beinwell, seine Blätter und Stängel sind ebenfalls behaart, jedoch viel weniger borstig. So kann der Comfrey als wertvolle Futterpflanze verwendet werden. Die Blätter des Comfrey laufen nicht am Stängel entlang nach unten. Er wirkt trotz seiner Größe insgesamt weicher und heller, das Grün seiner Blätter ist freundlicher. Er scheint die Saturnnatur dieser Familie etwas aufgelöst zu haben. Über der ganzen Wuchtigkeit seiner Erscheinung schweben, wieder an spiraligen Stängeln, zartviolette Blüten.
Auch sie wirken viel leichter als die seines kleinen Bruders, des Beinwells. Der einheimische Beinwell hat in seinen Blättern einen Stoff, das Symphyto-Cynoglossin, das schwach lähmend auf das zentrale Nervensystem wirkt. Dieser Stoff ist jedoch nur in sehr kleinen Mengen enthalten. Er ist es, der die schmerzstillende Wirkung der Beinwellblätter, auf Wunden aufgelegt, verursacht. Der Comfrey enthält diesen Stoff nicht. Er kann deshalb an Tiere in großen Mengen verfüttert werden und wurde früher als ergiebige Futterpflanze angebaut. Seine Blätter können bis zu sechsmal im Jahr geschnitten werden. Sie sind sehr wertvolles Futter; denn sie enthalten große Mengen Eiweiß (pro Hektar 2200 kg). Außerdem enthalten sie Vitamin B12, A, C und viele verschiedene Mineralien.
Der Beinwell und der Comfrey werden manchmal unter dem Namen Schwarzwurz angeführt. Die Gartenschwarzwurzel, Scorconera hispanica, hat zwar auch schwarze Wurzeln, ist aber keine Beinwellart, sondern gehört zur Familie der Asteraceae. Beinwell und Comfrey gehören hingegen zur Familie der Raublattgewächse, Boraginaceae. Diese Familie enthält ca. 20 verschiedene Beinwellarten. Sie ist nach unserer schönen Gewürzpflanze, dem Borretsch, benannt. An seinen tiefblauen Blüten kann ich mich nicht sattsehen, und ich hege eine regelrechte Bewunderung für diese Pflanze, die so viel Optimismus hat, eine so unförmige, stachelige und widerborstige Gestalt mit solch bezaubernden Blüten zu krönen. Aber dieser Charakterzug scheint in der Familie zu liegen, denn auch die zarten, blauvioletten Blüten des Comfreys stehen im Gegensatz zu seinen plumpen Blättern.
Es liegt viel Gegensätzliches in den Mitgliedern dieser Familie. Von den 1600 Arten sind uns einige wenige als Heilpflanzen bekannt: Beinwell (Symphytum officinale), Lungenkraut (Pulmonaria officinalis), Borretsch (Borago officinalis), Vergissmeinnicht (Myosotis arvensis), Ochsenzunge (Anchusa officinalis), Hundszunge (Cynoglossum officinale). Sie alle können die Farbpalette vom Rot zum Blau durchlaufen. Sie erblühen oft im Rot und verblühen im Blau. Auch beim Beinwell kann man manchmal nicht sagen, ob die Blüte nun blau und rot ist. Das Lungenkraut kann sogar beides vereinen, es trägt rein rote und rein blaue Blüten zur gleichen Zeit. Beide Pole, Yin und Yang, die blaue Himmelskraft und die rote Erdkraft, verbinden sich mit diesen Pflanzen. Die gleichen gegenpoligen Kräfte finden wir später auch bei der Heilwirkung des Beinwells wieder, er kann zur gleichen Zeit festigen und auflösen; die saturnalen Kräfte in der Pflanze haben auch ihren Gegenspieler. Dieses Spiel der Ausgeglichenheit können wir besser verstehen, wenn wir die Eigenart der Pflanzenfamilie noch näher betrachten und studieren. Sie alle haben einen hohen Gehalt an Kieselsäure. Dieses Element kann vom Wässrigen bis zum Festen, in seiner härtesten Form als Bergkristall, alle Formen annehmen. Der Beinwell hat fleischig-wässrige Blätter und Stängel, die Wurzel ist voll von zähem Schleim. Standorte sind bevorzugt feuchte Stellen, Flussläufe, feuchte Gräben usw. Gleichzeitig aber hat die Kieselsäure, im Kontakt mit dem Lebendigen, das Bestreben, ihn mit Form und Licht zu durchdringen. Sie kann dieses Bestreben bis auf die Spitze treiben, ganz wörtlich genommen, bildet sie spitze leichte Formen, besonders an der Peripherie. Beim Beinwell sind dies die unzähligen scharfen Borsten am Stängel und an den Blättern.
Im menschlichen Körper kann die Kieselsäure auf das unspezifische, weiche Bindegewebe formend und festigend einwirken, das Wachstum an der Peripherie, Haare, Nägel und Haut unterstützen. Sie wirkt auf das Weiche wie auf das Feste. Bänder und Sehnen werden gestärkt und aufgebaut, gleichzeitig kann der Beinwell Schwellungen und Blutergüsse auflösen. So prägt das Element Kieselsäure diese Pflanzen, sie ist in deren Formen wiederzufinden.
Doch der Kieselsäure im Beinwell ist ein weiterer Stoff hinzugefügt, der diese Pflanze von den anderen Kieselsäure-Pflanzen unterscheidet und ihr ganz eigene Heilkräfte verleiht. Es ist das Allantoin. Was hat dieser Stoff mit Fliegenmaden zu tun? Diese spielen nämlich bei seiner Entdeckung eine wichtige Rolle. Von Larrey, dem bekannten Chirurgen Napoleons, wissen wir, dass er schlimme eitrige Wunden mit Fliegenmaden behandelte. Er hat dies sicher aus dem Wissensschatz der alten Volksheilkunde übernommen. Viel später, zur Zeit des Zweiten Weltkrieges, hat der Amerikaner Robinson bei indianischen Heilern beobachtet, wie diese Wunden mit Fliegenmaden heilten. Robinson fand heraus, dass in den Maden der Heilstoff Allantoin enthalten ist, der Wunden schnell heilen lässt. Man versuchte diesen Stoff synthetisch herzustellen. Es gelang, man musste aber feststellen, dass das Allantoin der Natur sehr viel besser wirkt als das synthetisch hergestellte. Und dann besann man sich wieder auf zwei Pflanzen, die diesen Stoff in größeren Mengen beinhalten: Beinwell und Sanikel. Dass diese Pflanzen eine ähnliche Heilwirkung haben, wusste man schon seit vielen Jahrhunderten. Die heilige Hildegard nennt den Beinwell Consolida (consolidare = zusammenfügen), und das kleine Sanikelkraut hat schon immer den Namen Consolida minor. Dieses Pflänzchen ist inzwischen ganz in Vergessenheit geraten. Es trägt eine weiße Doldenblüte und wächst in feuchten Wäldern und an Bachufern.
Allantoin, so wissen wir heute, kommt außerdem noch in der Rinde der Rosskastanie, in Weizenkeimen und im Harn von Hunden vor. Der Allantoingehalt des Beinwells ist besonders hoch, und die Kombination verschiedenster heilender Stoffe lässt den Beinwell viel umfassender wirken als der isolierte Einzelwirkstoff. Allantoin kann Wunden reinigen, indem es zerstörtes Gewebe beseitigt, das Wundwachstum anregt und beschleunigt, da es die Zellbildung aktiviert. Zusammen mit der Kieselsäure und den anderen Stoffen kann der Beinwell deshalb besonders bei Wunden mit Gewebeverlust helfen. Weiter beschleunigt das Allantoin die Heilung von Knochenbrüchen, indem es die Bildung des Kallus anregt. Als Kallus bezeichnet man den sogenannten Ersatzknochen, der den gebrochenen Knochen wieder zusammenfügt, indem er den Knochenspalt überbrückt. Wir finden hier eine Erklärung des alten Beinwellnamens »Wallwurz« (wallen = zusammenwachsen). Aber damit ist die Aufzählung der wichtigsten Heilstoffe des Beinwells noch nicht erschöpft. Er enthält große Mengen Schleim und außerdem Gerbstoffe.
Wer schon einmal die Beinwellwurzeln verarbeitet hat, der wird sich sicher an den zähen Schleim dieser Pflanze erinnern. Die Lederer und Gerber haben früher diesen Schleim aus den Wurzeln gekocht, um damit Leder geschmeidig und weich zu machen. Weber und Spinner befeuchteten damit harte Fasern, besonders das Kamelhaar, um ihre Verarbeitung zu erleichtern. Und schließlich brauten die Maler daraus eine intensive rote Farbe; sie kochten dazu den Schleim und vermischten ihn mit Öl, Pigmenten oder Schellack.