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Kapitel 1

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Schwarz hoben sich die Umrisse der Holzkreuze vor dem Lichtschimmer des Leuchtturms ab. Ein kalter Westwind fauchte über den Deich, aber hinter dem Schilfwall, im Schutz der kreisförmig gepflanzten Erlen, war es fast windstill, und die Insel wirkte wie ausgestorben.

Nur ein paar Pferdeäpfel auf dem Platz vor dem Leuchtturm erinnerten noch an den Trubel des Tages. Bei Ebbe, wenn sich das Meerwasser zurückgezogen hatte, schoben sich gelbe Pferdewagen in einer Reihe die steile Auffahrt an der Insel hinauf über den Pflasterweg und setzten schließlich die Tagesbesucher vom Festland auf dem Platz vor dem Leuchtturm ab. Paul hatte das Hallen der Pferdehufe gehört und aus dem Fenster zugesehen, wie sich der Platz bevölkerte und die Touristen zu einem Schnelldurchgang der Sehenswürdigkeiten aufgebrochen waren.

Vor dem Laden des Inselkaufmanns am Platz vor dem Leuchtturm hatte sich eine längere Schlange gebildet. Mit Fischbrötchen und Bier ließen sich die ersten Besucher trotz der herbstlichen Temperaturen vor dem Laden auf den Holzbänken nieder, Grüppchen waren über den Deich spaziert und hatten das Tor zu dem kleinen Friedhof der Namenlosen geöffnet, wo seit Jahrhunderten Unbekannte bestattet wurden, die im Meer den Tod gefunden hatten.

Erleichtert hatte Paul gehört, wie ein Kutschfahrer mit einer Glocke die nahende Flut ankündigte. Nicht einmal zwei Stunden dauerte der Trubel Tag für Tag, rechtzeitig vor der auflaufenden Flut trabten die schweren Kaltblüter mit den Gästen auf den hohen gelben Wagen zur Küste zurück. Danach waren die Insulaner und die wenigen Übernachtungsgäste wieder unter sich.

Nach Einbruch der Dunkelheit schlich sich Paul die hölzernen Stufen des alten Leuchtturms hinunter und setzte dabei seine Stirnlampe auf. Nun würde er endlich ans Ziel kommen. Schon seit Jahren hatte er auf diesen Moment hingearbeitet. Zum Glück hatte niemand seine Ausrüstung entdeckt, die er im dichten Unterholz hinter dem Leuchtturm deponiert hatte. Er schleppte die Tasche zum zweiten Mal am unbeleuchteten Weg hinter dem derzeit unbewohnten Schullandheim entlang, querte schnellstmöglich den beleuchteten Mittelweg zum Nationalparkhaus und nahm dort den abgesperrten Schleichweg über die kleine baufällige Holzbrücke. Ihn trennten nur noch wenige Meter vom Eingang des Friedhofs, er suchte den über ihm verlaufenden Deich ab, konnte aber niemanden entdecken. Voller Ungeduld hatte er an diesem Abend bereits in der Dämmerung einen ersten Versuch unternommen und gerade alles ausgepackt, als ein laut streitendes Paar über den Deich gelaufen kam. Sie setzten ihre Abrechnung ausgerechnet vor dem kleinen Friedhof fort.

Er wartete geduckt hinter dem Gedenkstein, einem wuchtigen Findling mit einer Bronzetafel in Form eines Rettungsrings und einem daraufgesetzten hölzernen Kreuz in der Mitte des kreisförmig angelegten Friedhofs. Jemand hatte dort drei rote Grabkerzen aufgestellt und Blumen abgelegt, vielleicht jemand, der Angehörige in der Nordsee verloren hat, grübelte er und betrachtete die beiden Reihen schlichter Holzkreuze um den Findling herum. Jedes stand für einen Toten, der im Watt aufgefunden oder an die Ufer der Insel gespült worden war. Nur ein Holzkreuz war etwas mächtiger als die anderen, mit einer Holzschnitzerei verziert und mit einem Namen versehen. Der Sprössling einer reichen Bremer Familie war mit seiner Segeljacht im Watt gekentert und ertrunken, das hatte ihm ein älterer Insulaner erzählt, der Stammgast beim Kaufmann war.

Paul kauerte immer noch in seinem Versteck und versuchte, seine Beine abwechselnd zu lockern. Er sah in Richtung der kleinen Brücke, vor der sich der Eingang befand. Er konnte das Paar wegen des Windes nicht verstehen, doch ihre Stimmen klangen versöhnlicher, sie schienen ihn nicht entdeckt zu haben. Fast eine halbe Stunde hatte er gewartet, bis sich die beiden entfernt hatten, da nahte noch eine Gruppe Urlauber auf dem Deich, die den rot zerlaufenden Sonnenball hinter der markanten Silhouette des Turms ablichten wollten, und ihr Stativ aufbauten. Paul hatte sein Vorhaben schließlich um ein paar Stunden auf den späten Abend verschoben.

Als er jetzt aus der Tür schlüpfte, um einen zweiten Versuch zu wagen, war es stockfinster, nur der Turm sandte seine roten und grünen Blinksignale. Paul ließ seine Blicke von der Leuchtkuppel hinabschweifen über die düsteren Umrisse des Turms. Jetzt im Dunkeln sah er nur die Umrisse des Backsteinbaus, und dieser schien noch imposanter zu wirken als im Hellen, ganz und gar nicht wie einer der typischen runden schlanken Leuchttürme, sondern eher wie der Festungsturm einer Burg. Sogar die meisten Fenster wirkten wie Schießscharten in den meterdicken Mauern. Jetzt waren sie dunkel, nur in der zweiten Etage sah er einen Lichtschein, das musste der Flur der Pension sein, wo immer eine Art Notbeleuchtung an war.

Niemand aus dem Leuchtturm schien ihn bemerkt zu haben, auch nicht Margo, mit der er sich in den vergangenen Tagen trotz seiner Vorsätze mehrmals lange unterhalten hatte. Warum musste ihm diese Frau ausgerechnet jetzt über den Weg laufen?

Er verdrängte den Gedanken an Margos leicht spöttischen Blick, an den er viel zu oft denken musste, und rief sich selbst zur Räson, schälte seine Sonde aus der Hülle und fuhr Zentimeter für Zentimeter über den Boden. Bei seinem ersten Versuch hatte er einige Meter vom Gedenkstein entfernt gerade ein Signal empfangen, als er gestört wurde. Jetzt musste es klappen, ihm blieben nur noch zwei Tage in seinem Leuchtturmzimmer.

Die Sonde fiepte, er musste die richtige Stelle erreicht haben, doch was war das? Beinahe wäre er auf seine Sonde gefallen, mitten im Weg lag ein Ast. Er berührte ihn mit dem Fuß, die nackte Angst durchfuhr ihn. Das war kein Ast, das war ein Arm. Da lag jemand bewegungslos auf dem Friedhof. Sternhagelvoll, dachte Paul, knipste seine Stirnlampe an und wollte die traurige Gestalt durch ein paar Ohrfeigen wieder zu Bewusstsein bringen. Er versuchte, den Körper zu drehen, doch der Arm war steif und die Hand eiskalt.

Blitzartig wurde ihm klar, dass seine Hilfe zu spät kam, der Mann war mausetot. Diesen Wollpullover mit dem Zopfmuster hatte er heute auch schon gesehen, da hatte das Kleidungsstück allerdings noch nicht diese dunkelroten Einfärbungen. Das war doch Hein, der Inselkaufmann. Paul schauderte es, als er ein Rascheln im Gebüsch hörte. So schnell er konnte, raffte er seine Ausrüstung zusammen und rannte los, im Laufen zwängte er die Sonde in die Hülle. Seinen Plan konnte er nun erst einmal abschreiben. Bald würde alles von Polizei wimmeln, und das war das Letzte, was er gebrauchen konnte.

Störtebekers Erben

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