Читать книгу Störtebekers Erben - Susanne Ziegert - Страница 8
Kapitel 3
ОглавлениеEs war ein grausames Bild. Noch niemals in seinem Leben hatte der Inselbürgermeister Kai-Uwe König auch nur etwas vergleichbar Schreckliches gesehen. Eine Hysterikerin, hatte er gedacht, als ihn der Anruf erreichte. Die junge Frau, die mit ihren beiden Kindern und ihrer Mutter als Tagesausflüglerin auf die Insel gekommen war, weinte und schrie ins Telefon, und er wurde nicht richtig schlau aus dem Gestammel. Er hatte nur verstanden, dass sie etwas Schreckliches gesehen hatte und den Wattwagenfahrer Andrej, der in der Saison für ihn arbeitete, losgeschickt. Dieser hatte ihn gebeten, dringend an den kleinen Friedhof zu kommen. »Hier liegt Hein. Chef muss kommen sehen er selbst.«
Genauer gesagt lag Hein nicht, sondern sein blutiger abgetrennter Kopf steckte auf dem Geländer der kleinen Holzbrücke, die über den Sumpf zum Friedhof der Namenlosen führte. Ein großer Nagel war durch den Schädel getrieben, um den Kopf dort festzumachen.
Wortlos zeigte Andrej hinter den Gedenkstein, wo der Rest des Körpers lag, am kopflosen Hals hatte sich eine Blutlache gebildet. Die junge Frau, die ihn angerufen hatte, saß mit fast grünlicher Gesichtsfarbe auf der Wiese.
Kai-Uwe König wandte sich schnell ab, lange hätte er den Anblick nicht ertragen. Es war eindeutig, der Inselkaufmann war tot, und zwar auf eine ausgesprochen grausame Art und Weise umgebracht worden. Was war mit ihm geschehen? Und wie konnte so etwas Entsetzliches nur auf dieser kleinen stillen Insel geschehen. Es schien ihm wie ein böser Traum. Auch, dass es ausgerechnet einen Freund aus Kindertagen getroffen hatte, wenngleich sie sich in den letzten Jahren aus dem Weg gegangen waren. Aus gutem Grund.
Als im letzten Jahr mitten in der Sommersaison mehrere Brieftaschen gestohlen wurden, war das eine Sensation, über die alle Insulaner nebst Gästen wochenlang redeten. Ansonsten brauchte die Insel nicht mal einen eigenen Polizisten, nur die Wasserschutzpolizei beäugte die Bewohner argwöhnisch, wenn mal wieder ein Schiff oder eine Jacht auf den umliegenden Sandbänken strandete. So manche Rumflasche oder Zigarettenstange von liegen gebliebenen Segelbooten war in der Vergangenheit überraschend in den Vorratskammern aufgetaucht.
Mit dem Rücken zum kleinen Friedhof winkte er Andrej zu sich. Vor seinen Mitarbeitern wollte er seine Ratlosigkeit auf keinen Fall zugeben, obwohl seine Gedanken wie wild durcheinander gingen. Er zeigte auf den Weg vor dem kleinen Friedhof und kommandierte: »Absperren. Du bleibst bis auf Weiteres hier, keinen durchlassen!«
Margo hatte sich auf die Holzbank am Fuß des Turms gesetzt, um eine Zigarette zu rauchen, es war eine Herausforderung gewesen, die volle Kaffeetasse über die seitlich am Turm angebaute Holztreppe unbeschadet nach unten zu tragen. Überhaupt, die Arbeit war das reinste Fitnesstraining. Zwei Treppen hinab in den Keller, über 100 Stufen hinauf unter die Kuppel des Turms, die einmal in der Woche gereinigt werden musste.
Die Bank vor dem Turm war ihr Lieblingsplatz, vor allem während der Ebbe, wenn sich mit lautem Hufschlag die Wattwagen vom Festland ankündigten. In genau festgelegter Reihenfolge fuhren sie vor und stellten sich auf dem Platz zwischen Leuchtturm, Inselkaufmann und Schullandheim auf. Dann wurden die Pferde ausgespannt, kauten gemächlich eine Ration Futter und erleichterten sich auf den jahrhunderte alten Steinen. Vermutlich waren sie verlegt worden als der Turm gebaut wurde, der vor einigen Jahren 700-jähriges Jubiläum hatte.
»Hey Margo, was ist mit deinem Nachbarn los«, rief ihr Jan, ein Wattwagenfahrer, zu, der sich manchmal während ihrer Zigarettenpause zu ihr auf die Bank setzte.
Sonst saßen die Tagesgäste, egal, zu welcher Uhrzeit sie eintrafen, mit dem Inselspezialgetränk Eiergrog, einem Kaffee oder Krabbenbrötchen auf der Terrasse vom Inselkaufmann unter den drei knorrigen Eichen. Doch heute waren seine Bänke aufeinandergestapelt und angekettet.
»Keine Ahnung«, sagte sie und dachte daran, dass Peter Hein offenbar am Abend vorher auch nicht zu Hause gewesen war, sie hatte ihn auch im »Seemannsgarn« nicht gesehen, obwohl dort fast die komplette Inselbevölkerung versammelt war.
Sie hatte gehört, dass ihr Nachbar manchmal am Morgen nicht rechtzeitig aufgeschlossen hatte, zumal in seinem Laden mit Ausschank und einem immer größer werdenden Gartenlokal manchmal bis in den späten Abend feuchtfröhlich gefeiert wurde. Aber an diesem Tag war das unwahrscheinlich, Niedrigwasser war gegen elf Uhr. Jeden Tag verschoben sich die Gezeiten um etwa eine halbe Stunde, das war das wichtigste Naturgesetz, denn hier diktierten noch immer die Gezeiten den Lebensrhythmus.
Aus dem kleinen Inselchen wurde ein hektischer Ort, wenn die Wattwagen für eine gute Stunde mehrere Hundert Menschen vor dem Turm absetzten. Margo war immer noch erstaunt, wie sich die ganze Stimmung von einer Sekunde auf die andere veränderte, und wie plötzlich nach der Abfahrt der Tagestouristen wieder Ruhe einkehrte.
Sie machte ihre Zigarette aus und beschloss, »Störtebekers Wunderkammer« einen Besuch abzustatten. Der kleine Laden befand sich unter der Pension im Turm, hatte aber einen eigenen Eingang, der über eine Stahltreppe zu erreichen war. Dort befanden sich noch die originalen Gewölbe, wo der Turmvogt, den die Hamburger Kaufleute zur Überwachung des Seeverkehrs in den Norden geschickt hatten, seine Amtsstube hatte. Unter seinen Räumen sollte angeblich der Pirat Störtebeker nach seiner Festnahme im Verlies geschmort haben. Mark Cors, der Ex-Schwiegersohn des Inselkaufmanns, der den Laden betrieb, hatte den berühmten Piraten verewigt. Sie trat ein und sah sich um, er hatte die Gewölbe weiß gestrichen und an vielen Stellen das Mauerwerk freigelegt, dazwischen standen Glasvitrinen mit seinen Schmuckkreationen aus Bernstein. Sie entdeckte ihn an einem der Glasschränke, wo er zwei älteren Damen seine Bernsteinschmuckstücke zeigte. Er breitete mehrere Colliers auf seinem Tresen aus und nickte Margo knapp zu. Sie wollte warten, bis er seine Kundschaft abgefertigt hatte, und sah sich nach neuen Kreationen und besonderen Bernsteinen um. Plötzlich kam eine blonde junge Frau auf hohen Absätzen in den Laden gestürmt und schrie mit überschnappender Stimme:
»Papa ist tot!«
Sie wurde von heftigem Schluchzen geschüttelt, dann sah sie Mark feindselig an und kreischte: »Aber du freust dich ja vielleicht.« Er wollte ihr nachgehen, aber sie war schon dabei, die Treppe hinab zu stürmen, und schrie ihm noch »Fass mich nicht an« zu.
Die beiden älteren Damen standen erschrocken und unschlüssig herum. Beinahe hätte die wütende Frau Margo, die an der Tür stehen geblieben war, umgerannt. Sie sah sie hasserfüllt an und kreischte weiter: »Du Schlampe, du Erbschleicherin. Ich kann mir denken, was du vorhattest.« Margo war völlig perplex, und ehe sie eine Antwort parat hatte, hörte sie nur noch das schnelle Hämmern der Absätze auf der Stahltreppe vor dem Laden.
»Meine Ex-Frau«, erklärte Mark überflüssigerweise.