Читать книгу Das Spital zu Jerusalem - Sven R. Kantelhardt - Страница 27
ОглавлениеAuria
Konstantinopel, August 1096
Auch auf der Südseite des Goldenen Horns stand ihnen eine kleine Pforte in einem der Hafentore offen. Tristano ließ dem Wächter einige Münzen in die offene Hand klimpern. Innen waren die Straßen trotz der späten Stunde noch belebt. Männer, die ihren Trachten nach zu urteilen aus aller Herren Ländern stammten, drängten sich um einige junge Frauen in grellen und oft aufreizenden Kleidern. Hafendirnen. Davon gab es in Amalfi vielleicht eine Handvoll, aber hier waren es Hunderte. Oder trug man in Konstantinopel solche Kleidung? Verschämt rückte Auria an ihrem Kleid herum.
»Dort ist es«, rief da Tristano und zeigte auf ein hell erleuchtetes Haus. »Das ist das Haus von Mutter Helena. Hier können wir einkehren.« Sie drückten sich durch die niedrige Tür in einen bereits überfüllten Schankraum. »Warte einen Augenblick«, forderte Tristano seine junge Begleiterin auf. Er drängte sich zur Theke durch und wechselte einige Worte mit dem Mann dahinter. Der zeigte nach hinten, wo eine schmale Treppe in den höheren Teil des Hauses führte. Schon war Tristano zurück. »Ich habe ein eigenes Zimmer für uns zum Essen bekommen. Hier unten ist es einfach zu voll.«
Er zog sie durch die Menge an Leuten zu der Treppe. Oben angekommen, wandte er sich in einem schmalen Gang nach links. Von dem Gang gingen in lateinischen Zahlen nummerierte Zimmer ab. Tristano stieß die Tür zu Nummer V auf. Hinter ihnen erschien eine junge Frau mit einer Kerze auf einem Ständer. Sie drückte sich wortlos an Auria vorbei und stellte die Kerze in dem Raum auf einen kleinen Tisch. Zwei Stühle standen daran und im hinteren Teil der schmalen Kammer ein Bett. Auria seufzte innerlich. Beim Anblick der Schlafstatt merkte sie, dass sie wirklich ziemlich müde war. Mühsam unterdrückte sie ein Gähnen. Tristano bestellte bei der jungen Frau mit der Kerze derweil irgendwelche Gerichte. Mit der Bestellung verließ die Griechin das Zimmer. Doch gleich darauf kam eine ältere Frau mit Bechern und einem Tonkrug.
»Tristano. Du wieder hier? Ich bringe euch schon einmal den Wein.« Sie stellte den Tonkrug mit den Bechern auf den Tisch. »Und du bist in Begleitung? So eine reizende junge Dame.« Sie griff ungeniert nach Aurias blonden Locken. Die fuhr erschrocken zurück. »Vor mir brauchst du keine Angst zu haben, Schätzchen. Ich bin Mutter Helena.« Die Frau war Auria trotz ihrer freundlichen Worte zutiefst unsympathisch, aber weil sie keine Kraft zum Streiten aufbringen konnte, ließ sie sie gewähren.
»So, dann erst einmal Salute«, rief Tristano, sobald die Alte das Zimmerchen verlassen hatte, und reichte Auria einen bis zum Rand mit schwerem roten Wein gefüllten Holzbecher. Wenig später kam das Essen – mehrere Schüsseln voll mit Weinblättern, die mit Hackfleisch und Knoblauch gefüllt waren, gebratenen Pastinaken, dünnen Brotfladen, die dem Gefühl nach schon einen Morgen erlebt hatten, und andere Dinge. Auria griff beherzt zu, denn sie wusste, Wein auf nüchternen Magen war keine gute Idee. Tristano erzählte derweil von Venedig, seiner Heimatstadt in einer Lagune ganz im obersten Winkel des Mare superior. Wie zufällig rückte er dabei immer näher an Auria heran. Auf einmal legte er einen Arm um sie und griff mit der anderen in den Ausschnitt ihres Kleides. Auria stieß einen Schrei aus und sprang auf. Da er seine Hand nicht von ihr zurückzog, zerriss das Kleid darüber und entblößte ihre Brust. Tristano fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Komm schon. Du willst es doch auch. Sonst wärst du doch nie hierhergekommen! Und außerdem findest du von hier sowieso nicht alleine zurück.«
Sie schnappte nach Luft. An was für ein Scheusal war sie da geraten! Er drohte ihr, sie alleine hierzulassen, wenn, wenn …? Nein, das konnte sie nicht einmal denken. Sie riss die Tür auf und lief aufheulend in den Gang hinaus. Doch bevor sie die Treppe erreichte, stand da Mutter Helena. »Was ist denn passiert?«, fragte sie entgeistert.
»Ich, er, er will mich …«, stotterte Auria. Die Alte kniff die Augen zusammen. Dann hob sie beschwichtigend die Hand. »Komm erst einmal mit zu mir«, entschied sie und schob Auria auf die andere Gangseite und in ein geräumigeres Zimmer hinein. »So, nun setze dich erst einmal.« Sie drückte sie auf eine Wandbank nieder. »Dein Kleid ist zerrissen«, stellte Mutter Helena fest. Sie schüttelte den Kopf. »Was meinst du, was deine Familie denkt, wenn du so mitten in der Nacht heimkommst?« Sie blickte Auria ernst an. Deren Magen krampfte sich schmerzhaft zusammen. Ja, was würde Laura sagen? Und was erst der gestrenge Hausherr? Ihr Ruf war zerstört! »Das heißt, wenn du es überhaupt schaffst, heil heimzukommen und nicht von einem Trunkenbold überfallen, vergewaltigt und ins Goldene Horn geworfen wirst«, fuhr die Alte schonungslos fort. Auria rang die Hände. Was sollte sie nur tun? Die Tränen stiegen ihr in die Augen.
»Sch«, beruhigte die ältere Frau sie. »Du bleibst heute Nacht erst einmal bei mir. Und dein Kleid werde ich dir nähen«, entschied sie.