Читать книгу Das Blut der Kinder - Sylvia Giesecke - Страница 10
ОглавлениеMiss Ruthy sorgt für Ordnung
Obwohl sie die Antwort bereits kannte, versuchte sie es trotzdem und klopfte an die Tür des Gästezimmers, „Hast du vielleicht Lust mit mir zusammen zu frühstücken, Tyler?“
„Nö, hab noch keinen Hunger, ich mache mir später was.“
„Natürlich, ganz wie du möchtest.“
Enttäuscht stellte Ruth das zweite Gedeck zurück in den Schrank und setzte sich allein an den Tisch. Dennoch, morgen würde sie es wieder versuchen, denn morgen musste Tyler seinen Schutzbunker schließlich verlassen, um zur Schule zu gehen.
Nachdem der Abwasch erledigt war, schrieb sie eine kurze Nachricht auf einen Zettel. „Muss etwas Dringendes erledigen. Wenn du mich brauchst, kannst du mich unter der folgenden Nummer erreichen …“ Er würde sie sicherlich nicht brauchen, aber so hatte sie einfach ein besseres Gefühl.
Als Ruth vor dem Haus der Hensons hielt kam Ricky freudestrahlend auf sie zugelaufen. „Miss Ruthy, Miss Ruthy! Carl, Pete, kommt schnell raus, Miss Ruthy kommt uns besuchen!“
Er fiel ihr um den Hals und hielt sie für einen Moment fest umklammert.
„Ricky Schatz, wie geht es dir?“
„Wenn Miss Ruthy da ist, dann geht es Ricky immer gut.“
Carl und Pete kamen aus dem Haus, die Überraschung stand ihnen deutlich ins Gesicht geschrieben. „Miss Ruth, was für eine unerwartete Freude. Wir können sie im Moment leider nicht rein bitten, ist gerade ein bisschen unaufgeräumt.“
„Genau deshalb bin ich hier, Carl. Chef Inspektor Fuller war gestern bei mir und hat mir von eurem katastrophalen Saustall erzählt.“
Carls Gesicht verfinsterte sich, „Das ist unser Grund und Boden, es geht niemanden etwas an, wie wir hier leben.“
„Da bist du aber gewaltig auf dem Holzweg, Carl. Wenn Barnaby Fuller die entsprechenden Stellen informiert, dann bekommt ihr nicht nur einen Haufen Ärger, sondern müsst auch noch hohe Geldstrafen bezahlen. Schau dich doch mal um, ihr lebt auf einer einzigen Müllhalde. Hier sickert literweise altes Öl aus den Motoren in den Waldboden und dann diese armen Hühner, die quälen sich fürchterlich und sind sowieso nicht mehr zum Verzehr geeignet. Außerdem werden sie euch Ricky wegnehmen und in eine Anstalt stecken. Willst du ihm das wirklich antun? Du weißt genau, dass er das nicht verkraften würde.“
„Nein, nein, nein! Ricky wohnt hier in seinem Zimmer, Ricky geht nicht weg von hier.“
„Schon gut, Schatz, Miss Ruthy wird dafür sorgen, dass das nicht passiert und deine Brüder werden mir dabei helfen. Carl, Pete, … was sagt ihr dazu?“
Carl kratzte sich am Kopf, „Wir wollen natürlich nicht, dass Ricky ins Heim kommt. Aber wie sollen wir das alles schaffen? Ich habe nicht die geringste Ahnung, wo wir anfangen sollen.“
„Dieser ganze Schrott ist eine Menge Geld wert, und ihr könnt das Zeug doch sowieso nicht gebrauchen. Wenn ihr damit einverstanden seid, dann rufe ich einen alten Freund in Darlington an. Mister Carlson hat einen großen Schrottplatz, zahlt gute Preise und holt den Schrott auch selber ab. Aber dazu müsst ihr ihn natürlich aufs Grundstück lassen und selbstverständlich damit aufhören, neuen Schrott heranzuschleppen. Den ganzen Hausmüll packt ihr auf euren roten Laster und bringt ihn zur Deponie. Aber nicht Ricky wird ihn fahren, sondern einer von euch. Benutzt gefälligst eure Prothesen, und zwingt den Jungen nicht immer zum Fahren ohne Führerschein. Außerdem werdet ihr heute noch die Hühner erlösen und den Urin aus Rickys Zimmer schaffen. Ist das so weit in Ordnung, meine Herren?“
Carl und Pete nickten ein wenig verlegen, „Ja, … ja, das ist in Ordnung, Miss Ruth.“
„Schön, dann hätten wir das ja schon mal geklärt. Ich freue mich, dass ihr so einsichtig seid. Des Weiteren muss das Haus vollkommen leer geräumt und gesäubert werden. Auf dem Rückweg von der Deponie besorgt ihr euch bei McKinnley`s ein paar Eimer Farbe. Welche Farbe soll dein Zimmer haben, Ricky?“
Ricky kicherte, „Blau, Rickys Zimmer soll blau sein. Ricky mag blau am allerallergernsten.“
„Ihr habt es gehört, Jungs, euer Bruder wünscht sich ein blaues Zimmer. Und von dem Geld, das ihr von Mister Carlson bekommt, kauft ihr ihm gleich noch ein vernünftiges Bett, einen Schrank und was er sonst noch so benötigt. Ihr solltet euch vielleicht auch ein paar neue Möbelstücke gönnen.“
Ricky hüpfte wie ein Verrückter im Kreis herum, „Ja, ja, ja, … neues Zimmer, neues Zimmer, Ricky kriegt ein neues Zimmer.“ Plötzlich hielt er inne, „Ricky kriegt doch ein neues Zimmer, … oder Carl?“
„Ja kriegst du, aber erst nächste Woche. Heute haben die Geschäfte zu und außerdem müssen wir erst mal aufräumen und sauber machen, bevor wir dir Möbel kaufen können.“
Ricky quiekte vor Vergnügen und hüpfte weiter, „Neues Zimmer, neues Zimmer …“
Ruth war zwar so weit zufrieden mit der Reaktion der beiden Brüder, blieb aber dennoch skeptisch. Schließlich kannte sie Carl und Pete ziemlich gut und befürchtete, dass sich deren unbändige Faulheit, dem momentan so guten Willen, rücksichtslos in den Weg stellen könnte. „Aber nicht nur reden, sondern auch machen. Ich komme nächste Woche wieder vorbei, um mir den Fortschritt persönlich anzuschauen. Also enttäuscht mich nicht, Jungs, und was noch viel wichtiger ist, bitte enttäuscht euren kleinen Bruder nicht. Kann ich mich auf euch verlassen?“
„Wir kümmern uns um alles, … versprochen, Miss Ruth.“
Sie stieg in ihren Mini, „Dann bis nächste Woche. Ach ja, ehe ich es vergesse, ich schicke euch auch noch einen Installateur, der eure sanitären Anlagen wieder in Ordnung bringt. Also lasst den guten Mann ins Haus, damit er seine Arbeit verrichten kann.“
„Geht klar, … und danke, Miss Ruth.“
Den ganzen Nachmittag über hatte sich Ruth um die liegen gebliebene Post gekümmert. Der Blick zur Uhr verriet ihr, dass es bereits kurz nach acht war. Sie ging in die Küche, schenkte sich ein Gläschen trockenen Merlot ein, setzte sich raus auf die Veranda und genoss die abendliche Ruhe. Schritte in der Küche kündigten sein Kommen an. „Ruth.“
Für einen kurzen Augenblick flammte ein winziges Fünkchen Hoffnung in ihr auf, „Ja, Tyler.“
„Wo ist denn diese Schule?“
„In der Bakerstreet. Aber wenn du möchtest, dann fahre ich dich morgen gerne hin.“
„Das wird nicht nötig sein, ich bin schließlich kein Kleinkind mehr. Es reicht vollkommen aus, wenn du mir sagst, wo ich lang muss.“
„Okay, … du musst nach Counterfoil Groove, bleibst zunächst auf der Hauptstraße und fährst dann am vierten Kreisel rechts in die Bakerstreet.“
„Gut. Gibst du mir dann gleich deine Autoschlüssel.“
Ruth schaute ihren Enkel vollkommen entgeistert an, „Wie bitte, ... selbstverständlich nicht.“
„Und wie soll ich dann bitteschön, in diese dämliche Kleinstadtschule kommen?“
„So wie all die anderen Kids auch zur Schule kommen, du kannst dir mein Fahrrad aus dem Schuppen holen oder mit dem Bus fahren. Die Haltestelle ist quasi direkt vor der Tür.“
„Ich fahre doch nicht mit dem Bus oder mit dem Fahrrad. Das kommt überhaupt nicht infrage.“
„Soll mir auch recht sein, dann gehst du eben zu Fuß. Mein Auto bekommst du auf jeden Fall nicht. Nicht heute, nicht morgen und auch nicht in einem halben Jahr.“
Tyler schlug wütend mit der Faust gegen die Wand, „Du hasst mich. Ich weiß genau, dass du mich abgrundtief hasst. Warum hast du es überhaupt zugelassen, dass sie mich hier herschicken, wenn du mich gar nicht haben willst? Hättest du nicht zugestimmt, dann wäre ich jetzt noch zu Hause in New York und müsste deinen Anblick nicht ertragen.“
Jetzt platze Ruth endgültig der Kragen, „Wenn du dich hier weiterhin so unmöglich aufführst, dann könnte es tatsächlich passieren, dass ich meinen Entschluss dich bei mir aufzunehmen doch noch bereuen werde. Nur zu deiner Information, dein werter Herr Vater hatte auch noch eine andere Alternative in petto, nämlich ein Internat für Schwererziehbare in Südfrankreich. Dort hätte er dich eigentlich sogar viel lieber gesehen, als hier bei mir. Als deine Mutter mich gefragt hat, habe ich ohne zu zögern zugestimmt, und ob du es nun glaubst oder nicht, ich habe mich riesig auf dich gefreut. Es wird dir sicherlich nicht entgangen sein, dass ich schon mehrfach versucht habe, einen Schritt auf dich zuzugehen und eine Unterhaltung anzufangen. Erfahrungsgemäß bietet so ein Gespräch nämlich gute Möglichkeiten, sein Gegenüber besser kennenzulernen. Doch du schnüffelst gleich am ersten Tag in meinen Sachen rum, bist stur wie ein Maulesel, rotzfrech und zerfließt den lieben langen Tag in Selbstmitleid. Wenn du das jetzt ein Jahr lang so durchziehen willst, bitteschön, … ich kann mich durchaus darauf einstellen. Es ist nur fraglich, für wen dieses Jahr dann letztendlich härter sein wird, für dich oder für mich. Wenn du mit mir reden möchtest, ich bin jederzeit dazu bereit und würde mich sogar sehr darüber freuen. Wenn nicht, erwarte ich dennoch einen angemessenen Respekt und einen gewissen Anstand mir gegenüber. Denk einfach mal drüber nach. Und jetzt lass mich bitte allein, ich möchte den Abend noch ein bisschen genießen.“
Offensichtlich schockiert über die heftigen Worte seiner Großmutter, verließ Tyler ohne ein weiteres Wort zu verlieren mit hängendem Kopf die Veranda. Ruth bekam ein schlechtes Gewissen. Hatte sie ihn vielleicht doch ein bisschen zu hart angefasst? Auf der anderen Seite konnte sie sich Tylers Frechheiten unmöglich bieten lassen. Bei allem Verständnis für seine schwierige Situation hatte sie dennoch nicht die geringste Lust, ein ganzes Jahr lang als Fußabtreter zu fungieren. Sie konnte nur hoffen, dass ihre Worte wenigstens teilweise fruchteten und ihn ein wenig zum Nachdenken anregen würden.