Читать книгу Das Blut der Kinder - Sylvia Giesecke - Страница 8
ОглавлениеEin Tritt in den Fettnapf
Als Tyler die Augen aufschlug, brauchte er einen Moment um sich zu orientieren. Doch dann fiel es ihm wieder ein. Man hatte ihn in die Verbannung geschickt und er war gestern am späten Abend angekommen.
Er schaute sich um. Natursteinwände, Gardinen mit Rosenmuster, Bilder an den Wänden, kleine Deckchen, diverse Dekorationsgegenstände und ein großer runder Webteppich auf dem dunklen Dielenfußboden. Der weibliche Einfluss war nicht zu übersehen, dennoch wirkte es keinesfalls kitschig. Es gab bestimmt viel schlimmere Orte für ein Exil.
Tyler öffnete die Tür zum Flur und lauschte, im Haus war es totenstill. Lediglich ein paar offene Fachwerkbalken trennten die Küche vom Flur. Die Luft schien offensichtlich rein zu sein, also konnte er einen Vorstoß in das unbekannte Terrain wagen.
Die auf Hochglanz polierte Hightech Küche, die er aus New York kannte, konnte man mit dieser in keinster Weise vergleichen. Überall hingen Kräuter, Blumen, Knoblauchzöpfe, Kupfertöpfe und Kochlöffel von der Decke. Es gab endlose Regale mit alten Kaffeekannen, einen alten Herd mit verschnörkelten Füßen, ein blaues Sofa mit einem Tisch und vier passenden Stühlen und jede Menge Schränke.
Eine doppelte Glastür führte auf die angrenzende Veranda. Diese Tür und noch vier weitere Fenster boten Ausblick in drei Richtungen. Tyler sondierte die Lage, aber Ruth Collins war nirgends zu sehen.
Glücklicherweise verfügte diese, etwas altertümlich anmutende Küche, auch über moderne Küchengeräte wie Elektroherd, Mikrowelle und einen ziemlich großen Kühlschrank. Den nahm Tyler als Nächstes unter die Lupe. Butter, Käse, Milch, Eier, Wurst und frisch gepresster Orangensaft. Wo zum Geier hatte sie die Cola versteckt? Er hatte schrecklichen Durst, und da der Teufel in der Not ja bekanntlich Fliegen fraß, suchte er sich ein Glas und begnügte sich zunächst erst mal mit diesem Saft.
Nervös wie ein Dieb, bei seinem allerersten Einbruch, schlich er weiter über den Flur. Vorbei an einer gewaltigen Glasfront, die sich vom Boden bis zur Decke, über die gesamte Länge der überdachten, mit Knöterich bewachsenen, Veranda erstreckte. Von hier aus konnte er sie gut sehen.
Ruth war weit hinten im Garten mit harken oder so etwas Ähnlichem beschäftigt. Perfekt. So konnte er sich wenigstens sicher sein, dass sie ihm bei der Erforschung des Hauses nicht ins Gehege kommen würde.
Er entspannte sich ein wenig, entdeckte ein weiteres geräumiges Bad und ein Schlafzimmer mit Himmelbett. Danach ging er rüber ins Wohnzimmer, das genau wie die Küche, nur durch ein paar Fachwerkbalken vom Flur getrennt war. Wie in jedem normalen Wohnzimmer gab es hier eine Sofaecke mit Tisch, einen flachen Schrank mit Fernseher und ein paar Bücherregale. Im hinteren Teil stand ein ziemlich altes Klavier.
Tyler stellte das leere Glas auf den Tisch. Ein paar Bilder, die direkt neben dem Kamin an der Wand hingen, erregten seine Aufmerksamkeit. Er kannte den Maler. Das waren alles Werke von Salvador Dali. Eigentlich hatte er nicht die geringste Ahnung von Kunst, aber er liebte Dalis zerlaufene Uhren. In New York hing ein besonders großes Poster, von der Beständigkeit der Erinnerung, an seiner Zimmerwand. Dass sie diesen exzentrischen Spanier mit dem gezwirbelten Bart ebenfalls mochte, brachte Ruth auf jeden Fall schon mal ein paar Pluspunkte ein.
Jetzt gab es nur noch eine Tür auf dem Flur, die unbedingt geöffnet werden wollte. Ein letzter vergewissernder Blick in den Garten, … seine Gastgeberin war noch immer in akzeptabler Entfernung intensiv mit ihrem Gartengerät beschäftigt. Tyler konnte es also durchaus wagen.
Bei diesem Raum handelte es sich um eine Mischung aus Büro und Bibliothek. Deckenhohe Bücherregale nahmen zwei komplette Wände in Beschlag. Vor der Fensterfront stand ein Schreibtisch mit modernster Computertechnik. An der gegenüberliegenden Wand befand sich ein flaches Schränkchen, mit unzähligen verschiedenen Buddhas und anderen merkwürdigen Skulpturen. Darüber hing eine Vielzahl von schwarz-weiß Fotos, die eine jugendliche Ruth Collins, in den verschiedensten Winkeln dieser Erde zeigten.
Der Schreibtisch schien am interessantesten zu sein. Es wäre doch gut zu wissen, ob diese Misses Collins eventuell etwas zu verbergen hatte. Der Inhalt der Schubladen beschränkte sich auf das Übliche, alles nur langweiliges Zeug. Tyler widmete sich einem Stapel Briefe. „Liebe Misses Apple, ihr letztes Buch hat mir erwartungsgemäß wieder sehr viel Freude bereitet …“ Wer zum Teufel war Misses Apple und warum war Ruth im Besitz ihrer Post?
Plötzlich stand sie hinter ihm in der Tür und räusperte sich. Tyler wäre am liebsten auf der Stelle im Boden versunken, doch der wollte sich einfach nicht auftun.
„Kommst du mit in die Küche, ich habe Pfannkuchen im Ofen.“
Sie wusch sich die Hände und deckte wortlos den Tisch. Tyler konnte deutlich spüren, dass ihr seine Aktion zu schaffen machte. Doch das war ihm im Moment fast egal, denn diese Pfannkuchen dufteten ganz fantastisch, und da er seit geraumer Zeit nichts mehr gegessen hatte, fiel er hemmungslos über die süße Köstlichkeit her.
Ruth setzte sich zu ihm an den Tisch, „Da wir jetzt einige Zeit zusammenleben werden, möchte ich unbedingt ein paar Dinge klarstellen. Du kannst dich in diesem Haus absolut frei bewegen und du kannst dich jederzeit, ohne zu fragen, in der Küche bedienen. Mein Schlafzimmer, mein Schreibtisch und mein Computer sind allerdings tabu. Ich möchte, dass du meine Privatsphäre genauso respektierst, wie ich die deine. Wenn du irgendetwas über mich wissen möchtest, dann frag mich einfach. Rede mit mir, dann wirst du feststellen, dass ich gar nicht so irre bin, wie dein Vater immer behauptet hat.“
Ruth erhob sich und ging Richtung Verandatür, „Ach ja, ich möchte dich noch bitten, kein benutztes Geschirr im Haus herumstehen zu lassen. Ich mag es aufgeräumt und es wäre schön, wenn du darauf ein bisschen Rücksicht nehmen würdest. Falls du mich brauchst, ich bin im Garten.“
Verdammt, da gab es diesen riesen großen Fettnapf und Tyler hatte ihn genau mittig erwischt. Er wusste, dass er einen Fehler gemacht hatte. Schließlich gehörte es sich nicht, in den Privatangelegenheiten anderer Leute herumzuschnüffeln und im umgekehrten Fall, hätte er wahrscheinlich ziemlich sauer reagiert. Er musste das unbedingt wieder in Ordnung bringen und sich bei Ruth entschuldigen. Zumal er ja auch noch ihre Zustimmung brauchte, um vor den Ferien nicht mehr in die Schule gehen zu müssen.
Er räumte die Küche auf, wusch das Geschirr ab und ging dann hinaus in den Garten.
„Ruth.“
„Ja, Tyler.“
„Ich, … ähh, … es tut mir leid, … ich möchte mich bei dir für mein Benehmen entschuldigen. So etwas wird nie wieder vorkommen, das verspreche ich dir.“
Sie schaute kurz auf und lächelte ihn an, „Ist schon vergessen.“
„Ruth.“
„Ja, Tyler.“
„Ja also, … ich wollte dich fragen, ob es okay ist, wenn ich erst nach den Ferien mit der Schule anfange. Ich meine, … die machen doch jetzt sowieso nicht mehr allzu viel, ich würde also nichts Großartiges versäumen.“
Ruth lehnte die Harke gegen einen Baum, „Das halte ich für keine gute Idee. Ich finde du solltest in jedem Fall am Montag zur Schule gehen. Das ist die beste Möglichkeit, noch ein paar Kids in deinem Alter kennenzulernen. Mit denen könntest du dann in den Ferien etwas unternehmen. Ist schließlich besser, als sich mit einer alten Frau zu langweilen.“
Tyler wurde wütend, diese Frau hatte ihm eigentlich überhaupt nichts zu sagen. „Ich will aber nicht in die Schule und ich werde auch nicht gehen.“
„Oh doch, Tyler, du wirst. Du kannst gerne mit deinem Vater telefonieren, um das zu klären. Ich für meinen Teil habe die Order, dich in die Schule zu schicken und das werde ich auch tun.“
Tyler schossen die Tränen in die Augen, er fühlte sich verraten und verkauft. „Du, … du …“
„Ja, Tyler?“
„Ich hasse dich! Ich will weder mit dir noch mit irgendjemand anderen auf dieser bekloppten Insel etwas zu tun haben. Ihr Engländer könnt mir alle gestohlen bleiben.“
Tyler rannte in sein Zimmer, knallte die Tür zu, warf sich aufs Bett und heulte. Er war sich absolut sicher, dass er dieses Jahr niemals überstehen würde.