Читать книгу Das Blut der Kinder - Sylvia Giesecke - Страница 7

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Ein kleiner schlafender Engel

Der Anruf erreichte ihn genau um sechs Uhr vierunddreißig.

„Fuller.“

„Wir haben sie gefunden, Chef.“

„Wo?“

„Im Sparrowspark, direkt neben den Obelisken auf einer Bank.“

„Danke, Wilson, ich bin gleich da.“

Fünf Minuten duschen und anziehen, ein Glas Milch auf Ex und zehn Minuten Autofahrt. Für ein ausgiebiges Frühstück hatte Barnaby, jetzt weder die Ruhe noch die Zeit. Bis zuletzt hatte er so sehr gehofft, dass sie die kleine Selma lebend finden würden, aber das war eben nur reines Wunschdenken. Was war das bloß für ein Mensch, der kleine Kinder wie Vieh abschlachtete und sie dann völlig ausbluten ließ? Selma Woods war bereits das dritte kleine Mädchen, das in Counterfoil Grove auf so bestialische Weise getötet wurde und Barnaby wusste, dass sie nicht die Letzte sein würde. Sie mussten diesen Wahnsinnigen unbedingt stoppen, aber bis heute gab es einfach keine brauchbare Spur. Vielleicht hatten sie ja dieses Mal mehr Glück.

Die diensthabenden Kollegen hatten den Fundort weiträumig abgesperrt und die Anzahl der Schaulustigen hielt sich aufgrund der frühen Tageszeit in Grenzen.

Direkt neben der Absperrung erwartete ihn bereits eine alte Bekannte, „Guten Morgen, Barnaby. Offensichtlich wurde die Leiche, der kleinen Selma Woods heute Morgen gefunden. Was können sie mir zum Stand der Ermittlungen sagen? Deutet irgendetwas auf einen möglichen Täter hin?“

„Guten Morgen, Allegra. Du siehst doch, dass ich gerade erst angekommen bin. Du solltest mir schon die Möglichkeit geben, mich erst einmal selbst zu informieren, bevor du über mich herfällst.“

Die junge Frau hob die Hand zum militärischen Gruß, „Okay, Chef, stehe hier und warte geduldig.“

Er mochte Allegra Hunt trotz ihrer ausgeflippten Art. Sie war die mit Abstand fähigste Reporterin bei den C.G. News, der beliebtesten Tageszeitung von Counterfoil Grove und Umgebung. Barnaby kannte sie bereits seit vielen Jahren. Er konnte sich noch gut daran erinnern, wie sie einmal auf ihrem Dreirad, mit wehenden blonden Zöpfen, die River Road heruntergeschossen kam und glücklicherweise nur, vollkommen zerkratzt, in einer Hecke landete. Ständig hatte sie irgendwelche Dummheiten im Kopf und hielt ihn und seine Kollegen mächtig auf Trab. Wenn sie nicht gerade irgendwo hochkletterte, wo sie dann nicht mehr herunterkam, ging sie auf Wanderschaft, um einen Schatz, einen verwunschenen Prinzen oder das Ende des Regenbogens zu suchen. Einmal fanden sie Allegra erst nach zwei Tagen. Sie hockte mit gebrochenem Knöchel in einem Brunnenschacht bei der alten Ruine.

Wahrscheinlich lag es am frühen Tod der Mutter, dass sie als Kind immer wieder aus der Reihe tanzte. Die gebürtige Schwedin Svenja Hunt starb an einem Hirntumor, als Allegra gerade mal drei Jahre alt war. Ihr Mann Dexter verfiel in eine tiefe Depression und fühlte sich mit der Erziehung seiner kleinen Tochter, zunächst vollkommen überfordert. Es dauerte fast ein ganzes Jahr, bis er sich endlich wieder gefangen hatte. Doch von da an kümmerte er sich voller Hingabe um das Wohl seines Kindes. Als Allegra dann, zwecks Studiums, nach London ging, war sein Drang sie zu beschützen noch immer so groß, dass er sie begleitete. Als sie ein paar Jahre später in ihre Heimatstadt zurückkehrte, blieb Dexter in London, wo er am Ende auch starb. Woran wusste Barnaby nicht, Allegra hatte es ihm nie erzählt.

Constable Wilson, klein, dick, mit schwarzem Oberlippenbart, war der größte Speichellecker vor dem Herrn. Seine Lieblingsbeschäftigung bestand darin, seinen Vorgesetzten so tief in den Hintern zu kriechen, dass nur noch die Spitzen seiner Schuhe rausguckten. „Morgen, Chef. Sie wurde, um kurz vor halb sieben, von einer Zeitungsfrau entdeckt. Ich war der Erste am Tatort und habe sofort alles Nötige in die Wege geleitet. Die Gerichtsmedizinerin ist gleich mit der ersten Untersuchung fertig. Die Spurensuche hat bis jetzt noch nichts ergeben.“

„Danke, Constable Wilson.“

Sie sah aus wie ein kleiner schlafender Engel, mit ihren frisch gekämmten Haaren, einem sauberen Kleidchen und den, zum Gebet, gefalteten Händen. Ein Bild der Ruhe und des Friedens, wäre da nicht diese klaffende Wunde an ihrem Hals.

„Bei dem Opfer handelt es sich eindeutig um die kleine Woods. Eine Identifizierung durch die Mutter ist nicht notwendig, ich kenne das Opfer persönlich.“

„Danke, Wilson, die meisten von uns kennen Selma Woods.“

„Soll ich ihnen einen Kaffee besorgen, während sie auf Miss Bonham warten, Chef?“

„Danke, Wilson, ich trinke keinen Kaffee.“

„Dann vielleicht einen Tee?“

„Nein danke, ich möchte nichts.“

Mercedes Bonham, eine schokoladenbraune Schönheit mittleren Alters, arbeitete bereits seit über zehn Jahren, als Leiterin der Pathologie im Mercy Hospital und war gleichzeitig auch die Gerichtsmedizinerin von Counterfoil Grove. Da in dieser beschaulichen Kleinstadt eher nicht so viele Menschen eines unnatürlichen Todes starben, hatte sie in ihrem Zweitjob glücklicherweise sonst nur wenig zu tun.

„Guten Morgen, Chef Inspektor“, sie zog sich die Handschuhe aus und gab Barnaby die Hand.

„Guten Morgen, Miss Bonham. Wie sieht es aus?“

Mercedes Bonham streifte sich die Kapuze ab, schüttelte ihre schulterlangen, dunkelbraunen Rastalocken und schaute besorgt zu der Parkbank, neben den drei Obelisken. „Es ist genau wie beim letzten Mal, keine offensichtlichen Spuren. Das Opfer ist picobello sauber, wurde höchstwahrscheinlich nicht sexuell missbraucht und ist grob geschätzt, seit ungefähr fünfzehn Stunden tot. Genaueres kann ich erst nach der Autopsie sagen. Ich werde ihnen meinen Bericht so schnell wie möglich zukommen lassen.“

„Danke, Miss Bonham, das würde ich sehr zu schätzen wissen. Constable Wilson, haben sie dafür gesorgt, dass die Mutter informiert wird?“

„Ähh, … ich dachte …“

„Schicken sie umgehend einen Sergeant zur Oaksfarm, oder wollen sie das Selmas Mutter von der Presse aufgeklärt wird?“

„Aber ich könnte doch …“

„Sie können dafür sorgen, dass sich alle Mitarbeiter um fünfzehn Uhr im Besprechungsraum einfinden, und dass mir bis dahin alle, bereits vorhandenen, Ermittlungsergebnisse vorliegen. Danke, Constable Wilson, das wär`s fürs Erste.“

Solche Menschen machten ihn krank. Er fragte sich immer wieder, wie Wilson es geschafft hatte, sich durch die nicht ganz einfache Ausbildung zu winden, all die Prüfungen zu bestehen, um am Ende dann tatsächlich, ein relativ guter Polizist zu werden. Er war dumm, ignorant und besaß keinerlei Taktgefühl. Bei jedem seiner Schritte tropfte der Schleim und hinterließ eine breite, glitschige Spur. Jeder, der sich in seiner Nähe aufhielt, lief Gefahr auszurutschen und sich sämtliche Knochen zu brechen.

Allegras Outfit entsprach heute so gar nicht Barnabys Geschmack, aber das tat es ja eigentlich nie. Wie immer trug sie mehrere Shirts, Blusen und Tops übereinander, weshalb er ihr auch insgeheim den Namen Zwiebelchen verpasst hatte. Die grellen Farben und die verwirrenden Muster waren jedes Mal die reinste Folter für seine armen alten Augen.

Über den knielangen, rot-schwarz gestreiften Leggings, trug sie einen kurzen Jeansrock. Dazu Wollsocken und derbe Schnürstiefel. Ihre kurzen strohblonden Haare, die sie gerne mit Farbe, falschen Zöpfen, Bändern oder kitschigen Haarspangen dekorierte, hatte sie heute unter einer Wollmütze mit Teddybärmotiv versteckt. Kein normaler Mensch würde mitten im Sommer eine Wollmütze tragen, aber Allegra war eben kein normaler Mensch. Grüne Augen, Stupsnase, Schmollmund und eine perfekte Figur. Sie hätte durchaus als Modell arbeiten können. Doch für Allegra kam immer nur eins infrage, sie wollte um jeden Preis Journalistin werden. Eine gute Wahl, denn sie war nicht nur klug und geschickt im Umgang mit Menschen. Mit ihrer direkten Art, Ausdauer und Beharrlichkeit, verschaffte sie sich oftmals Informationen, um die sie ihre Kollegen nur beneiden konnten.

Die Anzahl der Schaulustigen hatte sich inzwischen mehr als verdoppelt.

„Lass uns ein paar Schritte zusammen gehen, Allegra.“

„Schießen sie los, Barnaby, ich bin ganz Ohr.“

Auf so banale Hilfsmittel wie Diktiergerät oder Schreibblock verzichtete sie grundsätzlich. Ihr Gedächtnis funktionierte besser, als jeder Computer.

„Die kleine Selma ist schätzungsweise, seit ungefähr fünfzehn Stunden tot. Wie bei den anderen beiden Opfern hat auch hier, höchstwahrscheinlich, kein sexueller Missbrauch stattgefunden. Das Opfer wurde gewaschen und gekämmt. Der Fundort ist sauber, es gibt wieder keinerlei Hinweise auf einen möglichen Täter.“

„Und?“

„Nichts und. Wir müssen erst den endgültigen Bericht der Gerichtsmediziner abwarten und sehen, ob die Spurensuche noch etwas ergeben hat.“

Sie blieb stehen und stemmte die Hände in die Hüften, „Jetzt kommen sie schon, Barnaby, das kann doch nun wirklich nicht alles gewesen sein.“

„Du weißt ganz genau, dass ich dir aus ermittlungstechnischen Gründen, nicht alles erzählen darf. Außerdem muss ich selber erst einmal abwarten, was die Untersuchungen der Leiche und des Fundortes ergeben werden. Du hast doch sowieso, mehr oder weniger, die Exklusivrechte an diesem Fall. Ich rufe dich heute Abend an, … okay?“

Sie kraulte sein Kinn, „Okay, aber eine winzig kleine Kleinigkeit müssen sie mir jetzt schon noch geben …“

Barnaby hielt ihr Handgelenk fest, „Du bist einfach unmöglich, Allegra, aber das weißt du ja selber.“ Er seufzte, „Selma wurde, mit ziemlicher Sicherheit, in den Wald gelockt. Wir haben Hundekot und ein Stück Hanfseil gefunden. Der Täter hat vermutlich einen kleinen Hund als Lockmittel benutzt.“

In diesem Augenblick fuhr der schwarze, auf Hochglanz polierte Kombi, der Firma Wellington und Söhne, dem einzigen ortsansässigen Bestattungsunternehmen, an ihnen vorbei Richtung Fundort. Schweigend schauten sie dem Leichenwagen, der in wenigen Minuten den toten Körper dieses unschuldigen Kindes abtransportieren würde, hinterher.

Allegra seufzte, „Was ist das bloß für ein Mensch, Barnaby? Sagen sie mir, wer so etwas Schreckliches tut.“

„Ich weiß es nicht, Allegra. Wenn ich es wüsste, … wenn irgendjemand es wüsste, dann wären wir schon einen großen Schritt weiter.“

„Wurde denn noch kein Täterprofil erstellt?“

„Ist alles in Arbeit. Und jetzt musst du mich entschuldigen, ich muss ins Präsidium.“ Barnaby stieg in seinen Wagen.

„Chef Inspektor.“

„Ja?“

„Werden sie ihn schnappen?“

„Das werden wir, meine Liebe, da kannst du dir sicher sein.“

„Versprechen sie es mir?“

„Ich verspreche es dir.“

Die Frage war einfach nur, wie viele Kinder bis dahin noch sterben mussten, doch diesen Gedanken behielt Barnaby lieber für sich.

„Guten Morgen, Chef. Ein Mister Kensington hat für sie angerufen. Sie möchten sich bei ihm melden, sobald sie im Hause sind.“

„Danke, Emma. Sobald die ersten Ergebnisse vorliegen, hätte ich sie gerne auf meinem Schreibtisch.“

„Selbstverständlich, Chef. Mögen sie vielleicht einen Tee?“

„Das ist eine hervorragende Idee, sehr gerne.“

Sein Büro, ein sonnendurchfluteter freundlicher Raum, befand sich im dritten und somit obersten Stockwerk des hiesigen Polizeipräsidiums. Einziges Manko war die Tatsache, dass der Verkehrslärm von der Queen Elisabeth Road, der Hauptstraße von Counterfoil Grove, es zu manchen Tageszeiten unmöglich machte, bei geöffnetem Fenster zu arbeiten. Dazu kamen dann noch diese stinkenden Abgase, die jeden Atemzug zu einem tödlichen Roulettespiel machten.

Barnaby stellte den Ventilator auf die höchste Stufe ein, zog sein Jackett aus und ließ sich in den abgewetzten Ledersessel, hinter seinem alten Holzschreibtisch fallen. Als die Büros vor drei Jahren renoviert wurden, wollte man ihm solche hässlichen Möbel aus Kunststoff, Glas und Stahl aufzwingen, aber Barnaby hatte sich strikt geweigert und sein altes Mobiliar behalten. Er brauchte nun mal eine warme und gemütliche Umgebung, sonst konnte er einfach nicht richtig denken.

Die einzige geduldete Grünpflanze in diesem Raum hieß Mister Survivor. Ein Gummibaum, der Dank seiner liebevollen Pflege und Zuwendung, im Laufe der Jahre, zu einem regelrechten Urwaldriesen herangewachsen war und eine Menge Platz für sich beanspruchte. Als Meira ihn, vor einer halben Ewigkeit, in der hintersten Ecke eines Kaufhauses entdeckte, krönte nur noch ein einziges Blatt sein sterbendes Haupt. Man wollte ihr den Gummibaum sogar schenken, aber Meira hatte darauf bestanden, den vollen Preis zu bezahlen. Mit viel Liebe, Geduld und Spucke, schaffte sie es schließlich, dass aus dem kleinen Kerl ein stattliches Bäumchen wurde. Und weil er ja nun mal ein echter Überlebenskünstler zu sein schien, taufte sie ihn Mister Survivor und stellte ihn, als Quelle der Inspiration, in Barnabys Büro. Ob Mister Survivor ihn in der Vergangenheit tatsächlich schon mal inspiriert hatte, wusste Barnaby nicht so genau, aber das spielte auch überhaupt keine Rolle. Er liebte diesen Gummibaum und freute sich inständig über jedes neue Blatt.

Barnaby holte sein kleines schwarzes Adressbuch aus der Schublade. Woodrow Kensington und er waren schon ein ganzes Leben lang befreundet. Der ehemalige Chef Inspektor von Scotland Yard, genoss seit einem knappen Jahr seinen wohlverdienten Ruhestand. Eine Tatsache, um die ihn Barnaby ziemlich beneidete.

Wenn die beiden aufeinandertrafen, was bedauerlicherweise eher selten der Fall war, dann konnten sie stundenlang philosophieren, diskutieren oder einfach nur irgendwelchen Blödsinn erzählen. Ihre größte Leidenschaft bestand darin, bei einem Pfeifchen und einem schönen malzigen Whisky, die berühmtesten Schachpartien der großen Meister nachzuspielen und zu analysieren.

„Kensington.“

„Woodrow, du alter Strauchdieb, wie geht es dir?“

„Mir geht es ganz ausgezeichnet, Barnaby, danke der Nachfrage. Ich war drei Monate in Afrika, bei meiner Tochter Lilibeth, bin gestern erst zurückgekommen.“

„Man Woodrow, du hast ja keine Ahnung, wie sehr ich dich beneide.“

„Ich kann`s mir vorstellen, ich habe es heute früh in der Zeitung gelesen. Habt ihr sie schon gefunden?“

„Haben wir, … heute Morgen, um kurz vor halb sieben.“

Es klopfte an der Tür. „Wart mal kurz, … ja bitte.“

„Ihr Tee, Chef.“

Constable Emma Dunley war eine echte Perle, … seine Perle. Sie war nicht nur klug, einfühlsam und zuvorkommend, sondern zudem auch noch ausgesprochen hübsch. Ihre tiefschwarzen Haare trug sie stets streng zurückgekämmt. Barnaby kannte sie eigentlich nur mit dieser, wie er fand, etwas altmodischen Duttfrisur.

Die kleine zierliche Frau, mit den dunkelbraunen Augen, erledigte seit nunmehr fast drei Jahren seine Post und stand ihm mit Rat und Tat zur Seite.

„Ich habe mir erlaubt, ihnen ein Käsebrötchen zu belegen. Sie haben doch mit Sicherheit noch nicht gefrühstückt.“

„Sie sind ein Schatz, Emma, vielen Dank. Apropos, … haben sie mein komisches kleines Telefon irgendwo gesehen?“

Sie lachte, „Ihr Handy liegt, wie immer, in der rechten oberen Schublade.“

Er würde sich wohl nie daran gewöhnen, dass er dieses Privatsphäre raubende Wunderwerk der Technik, ja eigentlich immer bei sich haben sollte.

„So, da bin ich wieder. Ja, so wie es aussieht, verhält es sich, wie bei den anderen beiden Opfern. Das Kind wurde gebadet, es fand kein sexueller Missbrauch statt und es gibt kaum verwertbare Spuren. Ich warte noch auf die entsprechenden Ergebnisse. Dieser Fall raubt mir noch den Verstand, Woodrow, ich könnte deinen Beistand jetzt wirklich gut gebrauchen.“

„Genau das wollte ich dir vorschlagen, mein Lieber. Ich muss mich noch schnell um ein paar wichtige Dinge kümmern. Sobald ich alles erledigt habe, komme ich rüber nach Counterfoil Grove.“

„Ich freu mich, Woodrow, … mach`s gut mein Freund und beeil dich bitte.“

„Ich freu mich auch, wir sehen uns …“

Während Barnaby seinem knurrenden Magen zu etwas Beschäftigung verhalf, durchforstete er zum x-ten Mal die Akte von Cindy Smith, dem kleinen dunkelblonden Mädchen, mit dem die Entführungs- und Mordserie vor fast genau neun Wochen begonnen hatte. Cindy verschwand am helllichten Tag vom Grundstück der Großeltern. Ihre Großmutter war nur für einen kurzen Moment ins Haus gegangen, um ihrem kleinen Bruder die Windeln zu wechseln.

Etwas außerhalb des Farmgrundstücks fanden die Ermittler später einen ausgelaufenen Behälter für Seifenblasen und ein kleines Randstück von einem Foto. Aber es gab keine Fingerabdrücke und auch sonst keinerlei brauchbare Spuren.

Das Schrillen des Telefons riss ihn aus seinen Gedanken, „Ja.“

„Die Spurensicherung hat direkt neben einem Baum, ungefähr fünfzehn Meter vom Fundort entfernt, mehrere Zigarettenstummel der Marke selbst gedreht gefunden. Dort muss jemand längere Zeit gestanden, gewartet und somit vielleicht auch etwas beobachtet haben. Außerdem haben sie gegenüber von der Parkbank, also genau auf der anderen Seite der Obelisken, in und um einen Abfalleimer, einen Haufen leere Bierdosen, Jointfilter und anderen Müll gefunden. Unter anderem auch eine Quittung vom Supermarkt in der Crownsstreet, über eben genau diese Dosen, mit gestrigem Datum und einer exakten Uhrzeit. Neunzehn Uhr siebenundzwanzig. Der ganze Krempel wird gerade auf Fingerabdrücke und DNA Spuren untersucht. Ich habe beim Stadtreinigungsamt angerufen und nachgefragt, wann die Abfallbehälter im Sparrowspark das letzte Mal geleert wurden. Gestern zwischen fünfzehn Uhr dreißig und sechzehn Uhr. Wenn die Jungs gründlich waren, dann ist dieser komplette Müll, der gerade im Labor untersucht wird, erst nach sechzehn Uhr im Park gelandet. Des Weiteren habe ich den Namen der Kassiererin in Erfahrung gebracht, die um diese Zeit an Kasse acht gesessen hat. Ich habe mir erlaubt Misses Sexton, so heißt die gute Frau, anzurufen und für ein Gespräch her zu bitten. Vielleicht kann sie sich ja noch an die Käufer erinnern. Sie wollte so in zehn Minuten hier sein.“

„Danke, Emma, das war gute Arbeit. Schicken sie diese Misses Sexton dann gleich in mein Büro und fühlen sie den fleißigen Arbeitern vom Stadtreinigungsamt, noch mal persönlich auf den Zahn. Sagen sie denen, dass wir sie nicht verpetzen werden, wenn sie ein wenig geschlampt haben. Wir wollen nur sichergehen, dass der ganze gefundene Müll ausschließlich von gestern stammt.“

„Wird gemacht, Chef.“

Vor circa fünf Wochen verschwand Lisa Priest, ein brauner Lockenkopf mit blauen Augen, ebenfalls am helllichten Tag von einem der Spielplätze im Sparrowspark. Ihre Mutter hatte nur für einen kurzen Augenblick nicht hingesehen, da war es auch schon passiert. Eine Spur von Kirschlutschern führte ins dichte Gebüsch und zu einem weiteren Fotoschnipsel. Ihre Spielgefährtin Milly sagte später aus, dass ein großer schwarzer Mann, mit einem ganzen Korb voller Lutscher und Schokolade, im Gebüsch gestanden und gewunken hätte. Milly hatte sich nicht getraut dem schwarzen Mann zu folgen, aber Lisa wollte unbedingt ein paar Lutscher holen, weil sie die doch so gerne mochte.

Es klopfte. „Ja bitte.“

Eine kleine dicke Frau mittleren Alters, mit einer ziemlich missratenen Dauerwelle und offensichtlichen Akneproblemen, betrat schüchtern sein Büro. „Guten Tag, mein Name ist Shauna Sexton. Sie wollten mit mir sprechen?“

Barnaby erhob sich aus seinem Sessel, ging um den Schreibtisch und schüttelte der, penetrant nach altem Schweiß stinkenden Frau, etwas angewidert die Hand. „Guten Tag, Misses Sexton, ich bin Chef Inspektor Fuller. Schön, dass sie kommen konnten. Bitte nehmen sie doch Platz.“

Barnaby verzog sich wieder hinter seinen Schreibtisch und war froh, dass das gute alte Stück, aufgrund seiner beachtlichen Größe, für einen ausreichenden Sicherheitsabstand, zwischen ihm und dieser äußerst ungepflegten Person sorgte. „Sie arbeiten also im hiesigen Supermarkt in der Crownsstreet und hatten gestern Abend Dienst an Kasse acht. Können sie sich vielleicht daran erinnern, wer so gegen neunzehn Uhr dreißig, mehrere Dosen Bier und Zigaretten bei ihnen an der Kasse bezahlt hat?“

In diesem Augenblick verlor Shauna Sexton plötzlich jegliche Schüchternheit und lief zur Höchstform auf. „Ob ich mich noch daran erinnere? Natürlich erinnere ich mich an dieses Pack, dieses nutzlose Gesindel. Ganz im Vertrauen, Chef Inspektor, aber ich bin davon überzeugt, dass diese geisteskranken Leichenschänder hinter all diesen furchtbaren Morden stecken. Man sieht es ihnen doch direkt an, dass sie nur zu einem fähig sind, nämlich zum Abmurksen von kleinen unschuldigen Kindern.“

Ihr irrer Blick jagte ihm fast ein bisschen Angst ein, „Hoppla, Misses Sexton, nicht so stürmisch. Sagen sie mir doch erst einmal, wer das Bier gekauft hat. Wer war denn nun gestern Abend, zur besagten Zeit, an ihrer Kasse?“

„Na wer wohl, … jetzt enttäuschen sie mich aber doch ein wenig, Chef Inspektor. Ich meine natürlich diese schwer gestörten Gruftis, die sich nachts auf dem Friedhof rumtreiben, Leichen schänden und armen Hühnern die Köpfe abbeißen.“

„Das ist sehr interessant, Misses Sexton. Woher wissen sie das denn alles?“

„Na, das weiß doch jeder.“

„Verstehe. Und wie viele von diesen Gruftis mussten sie gestern Abend ertragen?“

„Sie können sich gar nicht vorstellen, was ich durchgemacht habe, Chef Inspektor …“

„Wie viele, Misses Sexton?“

„Fünf, sie waren zu fünft. Zwei Mädchen und drei Jungs, … glaube ich jedenfalls. In der heutigen Zeit kann man sich da ja nicht so sicher sein.“

„Kannten sie einen von denen?“

„Nicht persönlich und darüber bin ich, ehrlich gesagt, auch ziemlich froh. Nicht auszudenken wenn …“

„Was heißt nicht persönlich, können sie mir nun einen Namen nennen oder nicht?“

„Na, die sehen doch alle gleich aus, mit ihren kalkweißen Gesichtern, schwarz geschminkten Augen, Lippen und Fingernägeln, diesen Friedhofsklamotten und …“

„Sie können mir also keinen Namen nennen.“

„Nein, kann ich nicht, aber …“

„Danke, Misses Sexton, das wär´s fürs Erste. Constable Dunley wird ihre Personalien aufnehmen. Wenn wir noch Fragen haben, dann melden wir uns bei ihnen.“

„Wie jetzt, … sie machen keine Gegenüberstellung?“

„Im Moment nicht. Wie gesagt, wir melden uns bei ihnen, falls wir sie noch mal brauchen. Auf Wiedersehen, Misses Sexton.“

Barnaby hielt ihr die Tür auf und gleichzeitig die Luft an. Nachdem sie sein Büro endlich verlassen hatte, riss er sofort alle Fenster weit auf. Er steckte den Kopf nach draußen und holte ein paar Mal tief Luft. Die abgasgeschwängerte Luft über der Queen Elisabeth Road, war das reinste Parfüm im Vergleich zu den ekelhaften menschlichen Ausdünstungen, die in diesem Moment als kleine Moleküle durch den Raum waberten, um sich dauerhaft in seinem Büro einzunisten. Sollte er jemals im Supermarkt auf Shauna Sexton treffen, dann würde er sofort zu einer anderen Kasse gehen. Egal wie viel Zeit ihn das am Ende kosten würde.

Es klopfte. „Ja, Emma, kommen sie rein.“

Sie stellte sich direkt neben ihn ans Fenster, „Wow, die Lady roch aber ziemlich streng.“

„Ich würde eher sagen, dass sie gestunken hat, wie die Pest.“ Barnaby schloss die Fenster und setzte sich wieder an seinen Schreibtisch.

„Ich habe inzwischen mit den beiden Herren von der Stadtreinigung gesprochen. Sie haben mir noch mal bestätigt, dass sie gestern garantiert jeden Fetzen Müll, aus den Abfallbehältern und drum herum entfernt haben. Was ist mit der Aussage, der geruchsintensiven Dame? Soll ich die Herrschaften aus der Grufti-Szene herbestellen?“

„Nein, ich will erst noch die Ergebnisse abwarten. Die Friedhofsjunkies laufen uns schon nicht weg, die nehme ich mir später vor.“

„Aber was ist mit Connor Purnell?“

Der Chef Inspektor zuckte sichtlich gleichgültig mit den Schultern, „Das mit den Autoradios ist jetzt drei Jahre her. Seit dem hat er sich, außer einer verdammt großen Klappe, nichts mehr zuschulden kommen lassen. Das sind bloß ein paar geltungssüchtige Kids, Emma, die schlitzen kleinen Kindern nicht die Kehle auf. Und wir wissen doch schließlich alle, was tatsächlich hinter Connors subtiler Gesinnung steckt.“

Es war ein offenes Geheimnis in Counterfoil Grove, dass Connor Purnell das Produkt einer heimlichen und kurzen Affäre von Pfarrer Jonathan Richmont war. Wahrscheinlich rebellierte er deshalb einfach gegen alles, was irgendwie normal erschien. „Ich spreche auf jeden Fall noch mit dem Jungen, aber das hat im Moment keine Priorität.“

Um kurz vor drei zog Barnaby sein Jackett über, klemmte sich die Akten unter den Arm und machte sich, zusammen mit Emma Dunley, auf den Weg in den Konferenzraum. Im Flur trafen sie auf Mercedes Bonham, die gerade aus dem Fahrstuhl kam. „Tut mir leid, ich habe es nicht eher geschafft.“

„Kein Problem, Miss Bonham. Wenn sie uns zur Besprechung begleiten möchten, könnten sie dem Team ihre Ergebnisse gleich selber mitteilen.“

Das Team bestand aus Constable Peter Wilson, Constable Carl Green, Sergeant Dennis Simmons, Sergeant Walter Patterson, Perle Emma und seiner Wenigkeit.

„Meine Herren, sie kennen ja Miss Bonham. Sie wird uns jetzt aus erster Hand darüber aufklären, was die Autopsie der kleinen Selma ergeben hat. Bitte Miss Bonham, sie genießen ab sofort unsere volle Aufmerksamkeit.“

Sie räusperte sich, „Also gut, … Selma ist gestern so zwischen vierzehn Uhr dreißig und fünfzehn Uhr gestorben. Es ist genau wie bei den anderen beiden Mädchen, sie wurde definitiv nicht sexuell missbraucht. Man hat ihr mit einem scharfen Messer, vermutlich einem Filetiermesser wie es Angler gerne benutzen, die Kehle fast bis zur Halswirbelsäule durchtrennt und sie anschließend ausbluten lassen. Andere Verletzungen gibt es nicht. Wie bei Cindy und Lisa war auch ihr Magen mit Torte, Eiscreme, Gummibärchen und Schokolade gut gefüllt. Sie durfte sich kurz vor ihrem Tod noch einmal richtig den Bauch vollschlagen. Genau wie bei den anderen Opfern, fand ich in ihren Haaren, am Körper und an der Kleidung, Rückstände eines Rosenschaumbads. Das Kind und die Kleidung wurden in Pink Rose gebadet, dem stark duftenden Badezusatz den man, wie wir bereits wissen, in jedem beliebigen Supermarkt erwerben kann. Auch dieses Mal wurde Pink Rose wieder in einer Konzentration von eins zu fünfzig angewendet, also cirka ein Liter Schaumbad auf fünfzig Liter Wasser. Selma wurde noch zu Lebzeiten darin gebadet, denn ihre Haut wies einige gerötete Stellen auf. Offensichtlich eine allergische Reaktion auf die viel zu hohe Konzentration dieses, ohnehin schon stark parfümierten, Pflegeproduktes.“

Barnaby musste zwangsläufig an Shauna Sexton denken und war sich nicht sicher, ob diese ungewöhnlich große Menge an Badezusatz, für Misses Sexton tatsächlich ausreichend gewesen wäre. Eines wusste er allerdings ganz genau, nämlich dass die Pickel in ihrem Gesicht keine allergische Reaktion auf irgendein Pflegemittel waren …

Es klopfte und ein junger Constable übereichte Emma eine Akte. Emma widmete sich umgehend dem Studium der Selbigen und Mercedes Bonham fuhr mit ihrem Bericht fort. „Der erste Tox-Test war negativ und es gibt kein einziges fremdes Haar, keinen Fusel und kein Staubkörnchen. Das Kind war absolut sauber. Der Täter hat sogar an die Fingernägel, Fußnägel und Schuhsohlen gedacht. Man könnte fast meinen, dass er die Kinder in vollkommen sterilen Behältnissen transportiert. Es steht alles detailliert in meinem Bericht. Wenn sie keine weiteren Fragen haben, dann würde ich mich jetzt gerne verabschieden.“

„Natürlich, … und vielen Dank, Miss Bonham.“

„Keine Ursache, Chef Inspektor. Ich wünsche ihnen alles Glück dieser Erde. Es wird Zeit, dass sie dieses Monster endlich dingfest machen.“

Barnaby klappte die überdimensionale Wandtafel auf, und schaute in die Gesichter von drei kleinen Mädchen. Neben den Fotos der Opfer stand hier alles Weiß auf grün, was er und sein Team im Laufe der Zeit an Informationen und Beweisen zusammengetragen hatten.

„Okay, ich schlage vor, wir fangen noch mal ganz von vorne an. Was wissen wir und was wissen wir nicht? Was kann sein und was kann nicht sein? Bitte, meine Herrschaften, legen sie los.“

Erwartungsgemäß ergriff Constable Wilson umgehend das Wort, „Ich bin nach wie vor davon überzeugt, dass es sich bei dem Täter um so ein pädophiles Arschloch handelt, so einen gottverdammten Kinderschänder.“

„Aber keines der Kinder wurde sexuell missbraucht, … finden sie das nicht ungewöhnlich, Wilson?“

„Das ist doch ganz einfach. Während er die Kinder abschlachtet, geilt er sich richtig auf, geht dann zwei Schritte beiseite und poliert sich ordentlich den Schwanz.“

„Ist es vielleicht möglich, dass sie sich in Gegenwart von Constable Dunley etwas gewählter ausdrücken, Constable Wilson?“

„Entschuldigung, Chef, … wollte sagen, er onaniert neben den Leichen.“

„Na also, geht doch. Gibt es noch andere Vorschläge?“

Constable Green, der Youngster im Team, meldete sich etwas zaghaft zu Wort, „Also ich, … ähh, … ich glaube noch immer an einen Ritualmord. Die durchgeschnittenen Kehlen und die blutleeren Körper, da ist es doch ziemlich wahrscheinlich, dass die Kinder bei irgend so einem sinnlosen Ritual geopfert wurden. Wir sollten uns auf die Friedhofsszene konzentrieren.“

„Der Grundgedanke ist nicht schlecht, Constable. Was mich allerdings stört, ist zum einen die Häufigkeit und zum anderen die Tatsache, dass die Opfer am Ende so liebevoll gebadet, gekämmt und in einer so friedlichen Position aufgebahrt wurden. Es sieht doch fast so aus, als hätte der Täter ein furchtbar schlechtes Gewissen. Das passt nicht zu diesen verrückten Punks, eher zu einer Frau.“

Sergeant Walter Patterson, der auch für die Erstellung des Täterprofils zuständig war, lenkte ein, „Da gebe ich ihnen absolut Recht, Chef. Obwohl es für eine Frau sehr ungewöhnlich ist, auf eine so brutale Art und Weise zu töten. Frauen neigen wahrscheinlich eher dazu, ihr Opfer mit einem Kissen zu ersticken, es zu vergiften oder es in einer Badewanne zu ertränken. Dennoch deutet die Präsentation der Opfer vielmehr auf einen weiblichen, als auf einen männlichen Täter hin. Wir sollten die Möglichkeit, dass es sich um eine Frau handeln könnte, keinesfalls außer Acht lassen. Ich muss zugeben, dass es unter diesen ungewöhnlichen Umständen sehr schwer ist, ein aussagekräftiges Täterprofil zu erstellen …“

„Entschuldigung, dass ich sie unterbreche, meine Herren, aber es gibt Neuigkeiten.“ Emma Dunley genoss sofort die volle Aufmerksamkeit, aller Anwesenden Kollegen. „Ich habe die Berichte der Spurensicherung gelesen, auf dem Fotoschnipsel hat man wieder keine Fingerabdrücke gefunden …“

Wilson konnte es einfach nicht lassen, „Dieses Foto ist der Schlüssel, wir sollten uns unbedingt auf die Suche nach diesem Foto machen.“

Sergeant Dennis Simmons, der von diesem Fall besonders betroffen war, weil er selber zwei Mädchen im Alter der Opfer hatte, schüttelte mit dem Kopf, „Und wie stellst du dir das vor, Peter? Willst du vielleicht zu jedem Anwohner dieser Stadt gehen und dir sein Fotoalbum zeigen lassen? Glaubst du wirklich, dass der Täter so blöd ist und der Polizei dieses Bild unter die Nase reibt? Halt lieber deine Klappe und lass Constable Dunley weiterreden.“

Wilson spielte den Beleidigten und Emma fuhr fort, „Die fünf Zigarettenstummel, die neben dem Baum gefunden wurden, sind eindeutig von selbst gedrehten Zigaretten. DNA-Spuren sind zwar ausreichend vorhanden, müssen aber noch ausgewertet werden. Und dann ist es immer noch fraglich, ob die Suche in der Datenbank etwas ergibt. Das Ungewöhnliche an diesem Tabak ist die Tatsache, dass er nicht parfümiert und ungewöhnlich grob geschnitten ist.“

„Ricky Henson.“

„Was haben sie gesagt, Chef?“

„Es gibt nur einen, der seinen Tabak selber anbaut und das ist Ricky Henson.“

„Soll ich ihn gleich verhaften lassen, Chef?“

„Immer mit der Ruhe, Wilson. Was haben sie noch für uns, Emma?“

„An dem Müll wurden ebenfalls DNA-Spuren sichergestellt, aber auch hier müssen wir erst noch auf Ergebnisse warten. Bei den Fingerabdrücken haben wir mehr Glück. Neben den Abdrücken von vier unbekannten Personen fand das Labor auf fünf Bierdosen und dem Kassenzettel, die deutlichen Fingerabdrücke von Connor Purnell.“

„Soll ich …“

„Nein, Wilson, sie sollen Connor nicht verhaften lassen.“

Sergeant Simmons räusperte sich, „Na ja, Chef, immerhin war Connor erwiesenermaßen gestern am Fundort und wir können nicht hundertprozentig ausschließen, dass es sich hier um Ritualmorde handelt. Vielleicht reicht es den Kids ja nicht mehr, einfach nur auf dem Friedhof rumzuhängen und sie brauchen neuerdings einen ganz besonderen Kick.“

Barnaby schüttelte entschieden seinen Kopf, „Das kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen, Sergeant. Diese Kids meiden Shampoo und Seife, wie der Teufel das Weihwasser. Die würden ihr Opfer nicht hinterher noch baden und kämmen. Außerdem sind sie zwar rotzfrech, aber nicht blöd. Die feiern doch nicht direkt neben dem Fundort eine Party und riskieren es, dabei von jedermann gesehen zu werden, bevor sie ihr Opfer auf der Bank platzieren.“ Er klappte die Tafel wieder zu, „Also gut, dann wollen wir mal. Ich fahre gleich raus zur Henson Farm und anschließend statte ich unseren schlecht geschminkten Freunden einen Besuch ab. Sergeant Simmons, sie begleiten mich. Emma, wenn sie so weit sind, dann setzen sie sich bitte mit Allegra Hunt in Verbindung und teilen ihr den Stand der Dinge mit. Das mit dem Rosenschaumbad und den Fotoschnipseln behalten wir nach wie vor für uns, das ist Täterwissen. Auch von Connor Purnell und Ricky Henson sollte sie zunächst noch nichts erfahren. Ich möchte erst mal abwarten, was die weiteren Ermittlungen ergeben. Sergeant Patterson, sie setzen sich mit Scotland Yard in Verbindung und bitten um ein zusätzliches Täterprofil. Schicken sie denen alles, was wir haben.“

„Geht klar, Chef.“

„Wilson, sie gehen in den hiesigen Angelshop und versuchen in Erfahrung zu bringen, wie viele Filetiermesser im letzten halben Jahr verkauft wurden. Da verkehrt meist Stammkundschaft, vielleicht kann sich Mister Tandy ja an jemanden erinnern. Constable Green, sie gehen noch mal in den Supermarkt und befragen das Personal. Möglicherweise erinnert sich ja doch jemand an einen Kunden, der mehrere Flaschen von diesem Pink Rose gekauft hat. Falls noch jemand eine Frage hat, dann wäre jetzt genau der richtige Zeitpunkt. Wenn nicht, dann sollten wir endlich loslegen und diesem kranken Killer auf die Pelle rücken. Sergeant Simmons, wir treffen uns in zehn Minuten in der Tiefgarage.“

Barnaby legte den Aktenstapel auf seinen Schreibtisch, nahm die Fotos von den Opfern heraus und steckte sie in seine Tasche. Da die Hensons wahrscheinlich die einzigen Menschen in ganz Groß Britannien waren, die nicht über ein Telefon verfügten, öffnete er etwas widerwillig die rechte obere Schublade. Irgendwann würde bestimmt jemand feststellen, dass man beim ständigen Gebrauch dieser Dinger, entweder blumenkohlartige Tumore in seinem Kopf heranzüchtete oder vollkommen verblödete. Da Emma es regelmäßig hinter seinem Rücken fütterte, war eine Kontrolle der Betriebsbereitschaft nicht vonnöten. Barnaby ließ es achtlos in seine Jackentasche gleiten und hoffte, dass es niemals klingeln möge.

„Ich fahre dann erst mal zu den Hensons. Wenn irgendetwas ist, … ich habe es eingesteckt.“

Emma musste unweigerlich grinsen, „Ist gut, Chef, ich werde auch versuchen, sie nicht anzurufen.“

Die Auffahrt zur Queen Elisabeth Road, eine lang gezogene unübersichtliche Kurve, mit einer nicht unerheblichen Steigung, machte Barnabys altem Rover ziemlich zu schaffen. Damit sich sein treues Vehikel nicht allzu sehr quälen musste, nahm der Chef Inspektor stets ein wenig Anlauf. In letzter Sekunde sah er einen Schatten auf sich zurasen und reagierte mit einer Vollbremsung. Es krachte laut und ihm schlug das Herz bis zum Hals. Allegra Hunt stand direkt vor dem Wagen, stützte sich mit beiden Armen auf die Motorhaube und grinste ihn durch die Windschutzscheibe an.

Barnaby stieg aus und knallte die Tür zu. Er war mehr als nur stinksauer, „Verdammt noch mal, Allegra, was soll der Scheiß! Ich habe dir schon tausend Mal gesagt, dass du mit deinen Rollschuhen hier nicht so runter rasen sollst.“

„Das sind Rollerblades …“

„Es ist mir vollkommen egal, wie diese Dinger heißen. Wenn ich dich noch einmal dabei erwische, dann werde ich dich wegen versuchten Mordes einsperren. Mir bleibt nämlich garantiert eines Tages mal das Herz stehen.“

„Sie wissen doch, dass ich perfekt mit den Dingern umgehen kann. Außerdem habe ich sie gehört. Ich wusste, dass mir ihr altes Schlachtschiff entgegenkommt.“

„Dann kommt also auch noch Böswilligkeit dazu. Du solltest dir schon mal einen guten Verteidiger suchen.“

„Jetzt mal im Ernst, Barnaby, … was gibt es für Neuigkeiten?“

„Ich habe jetzt überhaupt keine Zeit, Allegra. Constable Dunley wird dich später telefonisch über alles in Kenntnis setzen.“

„Wo wollen sie denn so eilig hin?“

„Betriebsgeheimnis.“

Sie zog einen Schmollmund, „Das ist jetzt aber nicht fair.“

„Wann ist das Leben schon mal fair? Und jetzt entschuldige mich bitte.“

Als sie gerade an ihm vorbeirollen wollte, hielt Barnaby sie am Arm fest, „Langsam, Miss Hunt, verstanden. Und Constable Dunley wird nicht genervt, sonst gibt’s Ärger.“

„Zu Befehl, Herr Chef Inspektor.“

Allegra nutzte eher unkonventionelle Fortbewegungsmittel wie Skateboard, Rollschuhe, Blades oder ihren putzigen kleinen Tretroller. Fahrrad und Motorroller kamen nur selten zum Einsatz. Allerdings war es vollkommen egal, auf welchem fahrbaren Untersatz sie sich durch die Stadt bewegte, ihr Fahrstil war absolut mörderisch. Barnaby hatte bereits mehrfach beobachtet, wie sie sich mit einer Wahnsinns-Geschwindigkeit durch den fließenden Verkehr schlängelte und sich dabei Gefahren aussetzte, die seinen Adrenalinspiegel schon beim Zugucken, bis in die Haarspitzen ansteigen ließ. Es grenzte direkt an ein Wunder, dass sie sich bis dato noch nicht das Genick gebrochen hatte.

Es dauerte geschlagene fünf Minuten, bis Barnaby endlich eine Lücke entdeckte, die es ihm erlaubte im dichten Feierabendverkehr mitzumischen. Nach weiteren zwanzig Minuten hatte er das Verkehrschaos schließlich hinter sich gelassen.

Er glaubte nicht wirklich, dass Ricky Henson etwas mit den Morden zu tun hatte. Aber vielleicht hatte Ricky ja etwas beobachtet, … irgendetwas, dass diesem tiefschwarzen Abgrund endlich zu etwas mehr Licht verhalf.

Das Blut der Kinder

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