Читать книгу Das Blut der Kinder - Sylvia Giesecke - Страница 12
ОглавлениеEine grausame Begegnung der dritten Art
Als Tyler aus dem Badezimmer kam, hörte er in der Küche Geschirr klappern. Nach der gestrigen Aktion wäre es ihm lieber gewesen, ihr heute Morgen nicht zu begegnen. Obwohl er gestern Abend noch lange wach gelegen hatte, um über ihre Worte nachzudenken, war er noch zu keiner endgültigen Entscheidung gekommen.
„Guten Morgen, Tyler, magst du vielleicht ein paar Eier mit Speck?“
Der herrliche Duft ließ ihm gar keine andere Wahl, „Ja, gerne.“
„Tee oder lieber Orangensaft?“
„Orangensaft.“
Sie stellte ihm den Saft hin und lächelte, „Hast du etwas dagegen, wenn ich mich zu dir setze?“
„Nein, … nein, hab ich nicht.“
Ruth rührte ihren Tee um, „Und, … für welches Transportmittel hast du dich entschieden?“
Diese Eier schmeckten einfach fantastisch. „Ich denke, ich werde heute den Bus nehmen und mir den Weg erst mal anschauen. Vielleicht fahre ich dann ab Morgen mit dem Fahrrad.“
„Bis hoch zur Schule ist es ein ganzes Stück Weg. Ich schätze, dass du mit dem Fahrrad ungefähr eine halbe bis Dreiviertelstunde unterwegs sein wirst.“
Ruth schaute zur Uhr, stand auf und holte eine runde, blaue Dose aus dem Kühlschrank, „Du musst dich beeilen, Tyler, der Bus kommt in cirka fünf Minuten. Ich habe dir ein paar Brote geschmiert, falls du zwischendurch Hunger bekommst.“
Tyler stopfte sich das letzte Stück Speck in den Mund, schnappte sich die Brotbox, rannte rüber ins Gästezimmer, um seine Tasche zu holen und verließ eilig das Haus. Gerade als er die Haustür hinter sich zuziehen wollte, fiel ihm etwas ein. Er ging noch einmal zurück in die Küche, wo seine Großmutter bereits mit Aufräumen beschäftigt war. Nach kurzem Zögern nahm er all seinen Mut zusammen, „Bis später, Ruth, … und vielen Dank.“
Sie war so dermaßen baff, dass sie nicht in der Lage war zu reagieren, aber als die Haustür ins Schloss fiel, überkam sie ein unbeschreibliches Glücksgefühl. Tyler hatte doch tatsächlich ein paar Worte mit ihr gesprochen und nicht nur das, er konnte sich sogar dazu überwinden, sich zu bedanken und zu verabschieden. Der erste und schwierigste Schritt war getan, jetzt konnte es doch eigentlich nur noch besser werden.
Bereits nach den ersten fünf Minuten war sich Tyler absolut darüber im Klaren, dass der Bus als dauerhaftes Transportmittel keinesfalls infrage kam, da er offensichtlich überwiegend von Schülern der unteren Klassen genutzt wurde. Für ihn als gewohnheitsmäßigen Morgenmuffel taten sich hier wahre Abgründe auf. So viel Lärm und Hektik konnten für einen gelungenen Start in den Tag, nicht gerade förderlich sein. Besonders heute, wo er das außerordentliche Vergnügen hatte, der Neue zu sein. Der, den sie alle anstarren und hinter dessen Rücken sie vermutlich tagelang tuscheln und flüstern würden. Dieser Gedanke bereitete ihm einige Bauchschmerzen, deshalb versuchte er sich abzulenken, indem er sich auf die Umgebung konzentrierte.
Das Erste, was ihm in Counterfoil Grove in die Augen stach, war das ungewöhnliche Gebäude eines Bestattungsunternehmens. Noch nie zuvor hatte er ein Haus in Form eines Sarges gesehen. Er war sich nicht sicher, ob man diese Idee als originell oder doch eher als geschmacklos bezeichnen sollte. Auch die anderen Gebäude entlang der Hauptstraße entsprachen nicht dem Bild einer typischen englischen Kleinstadt.
Vor zwei Jahren war er mit seinen Eltern mal in New Orleans. Dort gab es so ein französisches Viertel mit schmiedeeisernen, verschnörkelten Balkonen und genau dahin fühlte er sich in diesem Moment zurück versetzt. Bei so viel amerikanischem Flair fand er es auch nicht weiter verwunderlich, dass die hier sogar eine Bibliothek hatten, die dem Kapitol in Washington verflucht ähnlich sah.
Was Tyler jedoch am meisten beeindruckte, war ein halbrundes Gemäuer, auf dessen Dach eine an einen Marterpfahl gebundene, von Ratten umringte, riesige Katze thronte. Im Vorbeifahren las er das Schild: RatCat, … der etwas andere Pub. Dieses Etablissement musste er sich bei Gelegenheit unbedingt mal von innen anschauen.
Der Bus bog in die Bakerstreet ein, gleich würde sein Spießrutenlauf beginnen.
Die Schule lag versteckt hinter einer dicken hohen Natursteinmauer auf einem erstaunlich gepflegten parkähnlichen Gelände. Es gab ein großes rundes Haupt- und insgesamt fünf längliche Nebengebäude, die sternenförmig um das Hauptgebäude herum angeordnet und durch überdachte Laubengänge mit dem selbigen verbunden waren. Der ganze Komplex erinnerte vielmehr an ein luxuriöses Schloss, als an eine Kleinstadtschule.
Der Schulbus hielt direkt vor dem Haupteingang, und als der Fahrer die Tür öffnete, geschah etwas Merkwürdiges. Aus den schreienden, tobenden Kindern wurden plötzlich sanfte Lämmchen, die sich schweigend und brav in Zweierreihen auf den Weg ins Schulgebäude machten.
Etwas verwundert folgte Tyler ihnen in die Eingangshalle. Eine Hinweistafel neben dem Fahrstuhl verriet ihm, dass sich die Schulleitung im obersten Stockwerk des Hauptgebäudes befand, also fuhr er direkt nach oben.
Er klopfte an die hohe Doppeltür. „Ja bitte.“ Eine ältere Dame, mit lockigen grauen Haaren und einem runden Gesicht, lächelte ihn freundlich an, „Sie müssen Mister Thornton sein. Kommen sie herein, ich sage Miss Mirth eben Bescheid, dass sie da sind.“ Sie nahm den Telefonhörer, „Miss Mirth, Mister Thornton ist da. Ja, … ja, ich werde mich darum kümmern. Ich schicke Mister Thornton dann rein.“ Sie legte den Hörer wieder auf und deutete auf eine, mit Leder gepolsterte Tür, „Bitte Mister Thornton, Miss Mirth erwartet sie.“
Sie war klein und dürr, hatte eine strenge schwarze Hochsteckfrisur, furchtbar schmale Lippen, eine extrem spitze Nase und fast schwarze Augen. Sie starrte ihm über den Rand ihrer goldenen Brille direkt ins Gesicht und kniff die Augen zusammen.
„Guten Tag, Miss Mirth. Ich bin Tyler Thornton …“
„Ich weiß, wer sie sind. Kommen sie her.“
Tyler folgte ihrer Anweisung und war gerade in Begriff sich, auf den Stuhl vor dem gewaltigen Schreibtisch, zu setzen.
„Habe ich ihnen gesagt, dass sie sich setzen dürfen, Mister Thornton? Sie haben heute noch genug Gelegenheit, sich ihren faulen Hintern breit zu sitzen.“
„Entschuldigung, Miss Mirth.“ In diesem Moment war Tyler sich gar nicht mehr so sicher, ob das Internat für Schwererziehbare nicht doch die bessere Alternative gewesen wäre.
Sie erhob sich aus ihrem roten Ohrensessel und umkreiste ihn, wie ein hungriger Skorpion seine Beute. Jeden Augenblick würde sie ihm ihren giftigen Stachel tief in den Leib rammen. „Sie werden mir jetzt ihre volle Aufmerksamkeit schenken, Mister Thornton, denn ich pflege meine Anweisungen grundsätzlich nur einmal zu verkünden. Diese Schule, Mister Thornton, ist meine Schule und in meiner Schule ist unkultiviertes Herumgerenne, außer beim Sportunterricht, absolut verboten. Schreien, Rauchen, Müll auf den Boden schmeißen, alles ist strengstens verboten. Die Fahrstühle werden ausschließlich vom Lehrpersonal genutzt, für Schüler jeden Alters sind sie verboten. Auf dem gesamten Schulgelände herrscht absolute Ruhe und Disziplin. Jeder Verstoß wird umgehend bestraft, hart bestraft. Sie brauchen sich nicht einzubilden, dass sie hier einen Sonderstatus genießen, nur weil sie über den großen Teich gekommen sind. Auch wenn sie der Enkel von Ruth Collins sind, ich behalte sie im Auge, Mister Thornton, haben sie mich verstanden?“
Tyler nickte mit dem Kopf.
„Was ist, haben sie einen Frosch verschluckt? Ich will eine klare Antwort hören.“
„Jawohl, Miss Mirth.“
„Schon besser. Ihr Klassenraum befindet sich in Gang vier, Zimmer Nummer achtundzwanzig. Ihr Klassenlehrer ist Mister Burns.“ Sie setzte sich zurück auf ihren Sessel, „Was ist, wollen sie hier Wurzeln schlagen?“
„Nein, ... nein, ich geh dann mal. Auf Wiedersehen, Miss Mirth.“
„Hoffentlich nicht so bald, … und besorgen sie sich gefälligst eine Schuluniform. In meiner Schule trägt jeder Schüler, egal welchen Alters, eine Uniform. Und jetzt stehlen sie mir bitte nicht länger meine kostbare Zeit.“
Die grauhaarige Dame, die im Vorzimmer zur Hölle saß, warf Tyler einen mitleidsvollen Blick zu, „Miss Mirth hat wohl heute mal wieder einen besonders schlechten Tag. Aber keine Angst, die meisten Lehrkräfte hier sind ganz in Ordnung. Ich bin Misses Adams und du bist also der Enkel von Ruth. Deine Großmutter hält ab und zu mal Vorträge an unserer Schule oder hilft aus, wenn jemand längere Zeit krank ist. Bestell ihr doch bitte einen lieben Gruß von mir.“
„Werde ich machen. Ich gehe dann mal lieber, … auf Wiedersehen.“
Bevor Tyler an die Tür klopfte, holte er noch einmal ganz tief Luft. „Tritt ein, tritt ein, bring Glück herein.“ Ein kleiner untersetzter Typ mit extrem schütterem blondem Haar stürmte grinsend auf ihn zu und schüttelte ihm kräftig die Hand. „Willkommen, Mister Thornton. Wir haben sie schon sehnsüchtig erwartet. Mein Name ist zwar Burns, aber mit Homer Simpsons Chef aus Springfield, bin ich glücklicherweise weder verwandt, noch verschwägert.“
Die Klasse lachte und Tyler konnte sich endlich ein wenig entspannen. Dieser Mister Burns schien tatsächlich in Ordnung zu sein. „Neben Miss Curtis ist noch ein Plätzchen frei. Bitte setzen sie sich.“
Sie hatte einen frechen hellbraunen Fransenschnitt, grüne Augen und eine ganze Menge Sommersprossen auf der Nase, „Hey, ich bin Chloé. Du musst der Enkel von Ruth Collins sein.“
„Bin ich, … ich heiße Tyler. Deine Großmutter ist eine klasse Frau, sie hält manchmal Vorträge an unserer Schule.“
„Hab ich schon gehört.“
Mister Burns räusperte sich, „Könntet ihr zwei Hübschen eure Unterhaltung bitte auf später vertagen, ich würde gerne mit dem Unterricht fortfahren.“
„Natürlich, Mister Burns“, Chloé schob ihr Buch in die Mitte und rutschte ein Stück näher. Sie roch ein bisschen nach frischen Pfirsichen und Tyler mochte diesen Duft.
In der Pause führte Chloé ihn auf dem Schulgelände herum und später lernte er ihre beiden besten Freundinnen, den rothaarigen Ökofreak Ashley und die schüchterne Paige kennen.
„Wir wollen heute noch schwimmen gehen, kommst du nach der Schule mit zum Fluss?“
„Heute nicht, ich bin mit dem Bus hier und müsste auch erst noch Klamotten holen. Ab morgen komme ich mit dem Fahrrad, dann bin ich etwas flexibler.“
Sein erster Tag in der neuen Schule verging wie im Flug und erst auf dem Nachhauseweg fiel Tyler auf, dass ihn eigentlich niemand angestarrt oder über ihn getuschelt hatte. Entweder waren an dieser Schule auch das Tuscheln und das Anstarren unter Strafe verboten oder es interessierte sich tatsächlich keiner für den Neuen aus Amerika. Auf jeden Fall hatte er richtig gute Laune und im tiefsten Innern dankte er seiner Großmutter, dass sie ihn zu seinem Glück gezwungen hatte.
„Hallo Tyler, wie war dein erster Tag?“
„Bis auf eine besonders grausame Begegnung der dritten Art, eigentlich ganz gut.“
Sie nickte verständnisvoll, „Miss Mirth, … tut mir leid, ich hätte dich warnen müssen.“
„Halb so wild, dafür hat der Rest gepasst. Ich soll dich von der Dame grüßen, die diesen Drachen bewachen muss.“
„Von Misses Adams, … danke. Wer ist denn dein Klassenlehrer?“
„Mister Burns.“
„Da hast du aber richtig Glück gehabt, bei dem guten Fergus gibt es immer was zu lachen.“
„Hab ich schon gemerkt, der ist cool drauf.“
„Hast du Hunger?“
„Danke, im Moment nicht. Du hast es ja mit den Sandwiches verdammt gut gemeint, ich habe gerade eben im Bus das Letzte davon vertilgt.“
„Im Kühlschrank liegt ein Stück Braten, falls es dich später doch noch überkommt.“
„Alles klar, ich geh dann mal in mein Zimmer und Ruth …“
„Ja?“
„Ich möchte mich bei dir entschuldigen. Es tut mir leid, dass ich mich wie ein Idiot benommen habe. Lass uns noch mal von vorne anfangen, … ja?“
„Nichts lieber als das mein Junge, nichts lieber als das. Ich freue mich Tyler, ich freue mich wahnsinnig, dass du da bist und ich freue mich besonders darauf, dich endlich richtig kennenlernen zu dürfen.“