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Im Paradies der gemeinen Stubenfliege

Die ganze Zeit über hatten sich Barnaby und Sergeant Simmons angeschwiegen. Jeder von ihnen war in seine ganz eigenen Gedanken vertieft.

„Chef.“

„Ja, Sergeant.“

„Ich glaube, ich sollte meinen Beruf lieber an den Nagel hängen und irgendetwas anderes machen. Ich eigne mich nicht zum Polizisten.“

Barnaby schaute den jungen Mann, mit dem braunen Stoppelhaarschnitt und den grünen Augen, vollkommen entgeistert an. „Wie kommen sie denn auf diesen Unsinn? Sie sind ein ganz ausgezeichneter Polizist, Sergeant Simmons.“

„Genau das bin ich eben nicht, Chef. Ich habe die ganze Zeit darüber nachgedacht, was ich tun würde, wenn er sich eins von meinen kleinen Mädchen schnappt.“ Er holte tief Luft, „Ich würde ihn ganz sicher töten, wenn ich die Gelegenheit dazu bekäme. Aber als guter Polizist dürfte ich solche Gedanken gar nicht haben und das macht mir Angst.“

„Sie sind in erster Linie ein Mensch, Sergeant Simmons, und Menschen haben nun mal menschliche Gefühle und menschliche Gedanken. In ihrer Situation würde es mir sicherlich ganz genauso ergehen. Dennoch bin ich davon überzeugt, dass sie am Ende das Richtige tun würden, auch wenn es ihnen verdammt schwerfallen würde. Wir sollten diesen Scheißkerl einfach schnappen, damit kein Kind mehr sterben und keine Familie mehr leiden muss. Apropos, … wie geht es ihrer Frau denn eigentlich? Wissen sie schon, was es diesmal wird?“

„Nein, Rita ist diesbezüglich ganz eigen. Sie will es auf gar keinen Fall vorher wissen. Aber in knapp vier Monaten wird sich zeigen, ob ich endlich männliche Verstärkung bekomme.“

Barnaby bog auf einen schmalen, holprigen Feldweg ab. Die Farm der drei Henson Brüder lag mitten in einem größeren Waldstück am Ufer eines idyllischen Sees.

Der Vater der drei Jungs hatte sich schon vor mehr als zwanzig Jahren aus dem Staub gemacht. Das konnte man ihm eigentlich auch gar nicht verübeln, denn Jenna Henson war zeit ihres Lebens eine herrschsüchtige, ständig meckernde Hexe, die sich selbst und ihrem Umfeld das Leben stets zur Hölle machte. Seit ihrem Tod, vor fast einem Jahr, verwahrlosten die Jungs zusehends und ließen Haus und Hof immer mehr verkommen.

Carl, der Älteste, hatte bei einem tragischen Unfall seine rechte Hand verloren und Pete, dem zweitältesten, fehlte der linke Unterschenkel. Böse Zungen behaupteten, dass die beiden ihre Unfälle absichtlich herbeigeführt hätten, um möglichen Arbeiten besser aus dem Wege gehen zu können. Barnaby fand diese Theorie allerdings sehr gewagt. Er konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass sich jemand aus reiner Faulheit, die Gliedmaßen abhacken würde.

Ricky, der Jüngste im Bunde, war zwar körperlich vollkommen unversehrt, aber geistig auf dem Stand eines Sechsjährigen. Man hatte Carl und Pete schon öfter nahegelegt, Ricky in eine entsprechende Einrichtung zu geben, aber davon wollten die beiden partout nichts wissen. Wahrscheinlich konnten und wollten sie aufgrund der Tatsache, dass er der Einzige in der Familie war, der noch über beide Arme und beide Beine verfügte, nicht auf seine wesentlich flexiblere Einsatzfähigkeit verzichten.

Der stetig zunehmende Schrott am Wegesrand war ein untrügliches Zeichen dafür, dass sie ihr Ziel fast erreicht hatten. Barnaby musste schockiert feststellen, dass sich der Müll seit seinem letzten Besuch, so ziemlich verdoppelt hatte. Wo holten die Hensons dieses ganze Zeug bloß her? Der Zustand des Hauses und des Grundstücks trieben ihm glatt die Tränen in die Augen. Eine stinkende Müllhalde mitten im Paradies. Unvorstellbar, dass es Menschen gab, die freiwillig in so einem Dreckloch hausten.

Überall lagen Motoren, Einzelteile von Autos oder anderer Metallschrott herum. Dazwischen Berge von stinkenden Mülltüten. Ein paar fast nackte Hühner scharrten im ölverseuchten Erdboden nach Würmern, die es gar nicht geben konnte. Hier bestand ganz offensichtlich dringender Handlungsbedarf, denn diese Viecher bettelten förmlich um ihre Erlösung.

Barnaby musste unbedingt ein ernstes Wort mit den Hensons reden, so konnte es definitiv nicht weitergehen. Sämtliche Tierschutz- und Umweltorganisationen des Landes würden zu Recht auf die Barrikaden gehen, wenn diese Zustände publik würden.

Ricky Henson kam gerade aus einem der windschiefen Holzschuppen. Als er den Rover kommen sah, verschwand er eilig im Haus.

Barnaby klopfte an die, nach Farbe schreiende, Haustür. Erwartungsgemäß blieb alles still. Er klopfte erneut, „Jetzt kommt schon Leute, was soll der Scheiß? Ich weiß genau, dass ihr zu Hause seid. Macht gefälligst die Tür auf.“

„Ist offen.“

Der unerträgliche Gestank, der Barnaby und Sergeant Simmons entgegen schlug, raubte ihnen regelrecht die Luft zum Atmen. An dem Ort, an dem sich vermutlich die Spüle befand, türmten sich Berge von schmutzigem Geschirr. Schimmelkulturen, unterschiedlichen Ausmaßes, sorgten für ein abwechslungsreiches Farbspiel. Auf der Arbeitsplatte daneben lagen haufenweise Schlachtabfälle, die den zahlreichen Fliegen eine perfekte Kinderstube boten. Es wimmelte nur so von Maden in verschiedenen Entwicklungsstufen. Musca domestica, die gemeine Stubenfliege, war außer den drei Brüdern vermutlich das einzige Lebewesen, das sich hier wie im Paradies fühlte.

Überall lagen leere Schnapsflaschen und zerdrückte Bierdosen herum und der Fußboden diente auch gleichzeitig als großer, gemeinschaftlicher Aschenbecher.

Carl und Pete saßen grinsend am vollkommen zugemüllten Küchentisch. Beide hatten total verfilzte dunkelblonde Haare, zottelige Vollbärte und ein sichtbar gestörtes Verhältnis zu Wasser und Seife. „Chef Inspektor Fuller, … was verschafft uns die Ehre ihres Besuchs?“

„Carl, Pete, … ich muss mit Ricky sprechen.“

Carl bohrte sich mit Hingabe in seiner Nase, „Sie wissen doch, dass er nicht gerne mit Leuten spricht.“

„Darauf kann ich jetzt leider keine Rücksicht nehmen. Ist er in seinem Zimmer?“

Carl betrachtete seine Ausbeute von allen Seiten, ehe er das Fundstück zu einer kleinen Zwischenmahlzeit werden ließ, die offensichtlich mundete, „Jo.“

„Ihr habt doch sicher nichts dagegen, dass Sergeant Simmons sich in der Zwischenzeit mal ein bisschen bei euch umschaut, … oder?“

„Nö, … solange er hier nichts durcheinanderbringt, kann er gucken, bis er schwarz wird. Wir Hensons haben schließlich nichts zu verbergen.“

Da Carl scheinbar Appetit auf einen Nachschlag hatte, zog Barnaby es vor, sich schnellstens aus dem Staub zu machen. Er stieg die ächzende Treppe nach oben, wohlweißlich darauf bedacht, weder die Wand, noch das schmierige Geländer zu berühren.

Barnaby wusste, was ihn erwartete. Er kannte das halbdunkle Loch, das Ricky als Schlafzimmer diente. Eine löchrige, mit Urinflecken übersäte Matratze, ein Schrank ohne Türen, ein halb blinder Spiegel und ein Eimer, der ihm nachts als Toilette diente, … natürlich ohne Deckel.

Der Chef Inspektor klopfte an und ging hinein. Ricky hockte zusammengekauert in der Zimmerecke, auf seiner Matratze, und hielt seinen, fast kopflosen, Teddybären fest an sich gedrückt. Er hatte die gleiche geschmackvolle Filzfrisur, wie seine beiden Brüder. Allerdings verzichtete er wenigstens auf dieses erbärmliche Sauerkraut in seinem Gesicht.

Der beißende Gestank war mehr als nur bestialisch. Doch die Ursache hierfür lag auf der Hand, denn die provisorische Toilette hatte inzwischen reichlich Gesellschaft bekommen. Unzählige Behälter wie Flaschen, Becher, Kanister, Eimer und Dosen, standen gut gefüllt in der Ecke, gleich neben der Tür.

„Hey Ricky, du hast doch nichts dagegen, wenn ich das Fenster mal kurz öffne?“ Barnaby steckte den Kopf nach draußen, holte tief Luft und kämpfte gegen die langsam aufsteigende Übelkeit. Er musste das jetzt zu Ende bringen, auch wenn es ihm unter den gegebenen Umständen verdammt schwerfiel. „Du warst doch gestern Abend in der Stadt, Ricky, … hast du da vielleicht irgendwas gesehen?“

Ricky schwieg und knabberte nervös an seinen Fingernägeln herum.

„Ich weiß, dass du im Sparrowspark warst, Ricky, also sag mir einfach wann.“

Barnaby wartete vergebens auf eine Antwort. „Hör zu, Ricky, es ist wirklich verdammt wichtig, dass du mir meine Fragen beantwortest. Wenn du jetzt nicht mit mir redest, dann muss ich dich aufs Präsidium mitnehmen, und ich werde dich garantiert nicht eher gehen lassen, bis du mir alles erzählt hast.“

„Ricky war nicht im Park.“

„Doch war er. Wir haben deine Zigarettenstummel neben einem Baum gefunden. Ich kenne deine heimliche kleine Tabakplantage im Wald, also lass den Quatsch. Wenn du mich noch einmal anlügst, dann nehme ich dich ganz bestimmt mit und sperre dich in eine Zelle.“

„Nein, nein, nein! Ricky nicht einsperren!“

„Dann erzähl mir endlich von deinem Ausflug in die große Stadt, verdammt noch mal.“

Er fing an mit seinem Oberkörper zu wippen, dabei ließ er die Flecken auf seiner Matratze nicht aus den Augen. „Ricky war heute Morgen in der Stadt, musste für Carl und Pete Schnaps kaufen. Ricky fährt immer ganz früh in die Stadt, weil die Leute böse sind und immer über ihn lachen.“

Barnaby wurde ungeduldig, der Gestank raubte ihm langsam den Verstand. „Ja und weiter, … was hast du im Park gemacht?“

„Ricky war zu früh da, der große Laden war noch nicht auf. Da ist Ricky in den Park gegangen.“

„Und dann?“

„Auf der Bank lag ein kleines Mädchen und hat geschlafen. Ricky hat nur aufgepasst, dass ihr keiner was tut, … ehrlich Mister Inspektor. Dann kam diese Frau und hat ganz laut geschrien. Da hat Ricky Angst bekommen und ist schnell weggelaufen.“

„Wovor hattest du denn solche Angst?“

Er zuckte mit den Schultern, „Weiß nicht, … vielleicht hatte Ricky Angst, dass der schwarze Mann zurückkommt.“

Barnaby wurde hellhörig, „Erzähle mir von dem schwarzen Mann, Ricky. Wie hat er ausgesehen?“

Zum ersten Mal, seit der Chef Inspektor das Zimmer betreten hatte, hob Ricky seinen Kopf und schaute ihm direkt ins Gesicht. Sein Blick war finster und bedeutungsvoll, „Der kam gerade aus dem Park, als Ricky aus dem Auto steigen wollte. Ricky hat sich gar nicht aus dem Auto getraut und ist sitzen geblieben, bis der schwarze Mann weg war.“

„Wie hat er ausgehen?“

„Schwarz, … ganz, ganz schwarz.“

„Die Haare?“

„Nein, die konnte Ricky doch gar nicht sehen. Er war ganz schwarz angezogen und hatte eine Kapuze auf dem Kopf.“

„Und sein Gesicht?“

„Konnte Ricky auch nicht sehen, der schwarze Mann hatte die Kapuze ganz weit nach vorne gezogen und auf den Boden geguckt.“

„War er groß oder klein?“

„Das weiß Ricky nicht.“

„Wo hattest du geparkt?“

„In der Straße, wo auch der große Laden ist.“

„Danke Ricky, du hast mir sehr geholfen.“

„Kann Ricky jetzt hier bleiben?“

„Kann er, aber er sollte unbedingt sein Zimmer aufräumen. Bring den ganzen Müll bloß endlich nach draußen Junge, sonst wirst du noch ernsthaft krank.“

Ricky kicherte, „Okay, bis nächste Woche um siebenundzwanzig Uhr ist alles aufgeräumt, das schwöre ich ihnen, Mister Inspektor.“

„Schön Ricky und noch was, … du weißt, dass du eigentlich gar nicht Auto fahren darfst, du hast nämlich keinen Führerschein.“

„Aber Carl und Pete haben doch den Arm und das Bein ab, die können nicht fahren. Einer muss doch zum Bier kaufen in die Stadt.“

„Mag sein Ricky, aber du darfst trotzdem nicht fahren. Wenn ich dich dabei erwische, dann sperre ich dich ein.“

„Na gut, dann muss Ricky halt aufpassen, dass ihn keiner erwischt.“

Hier waren in der Tat Hopfen und Malz verloren, Barnaby seufzte, „Ist schon Recht Junge, … ist schon Recht. Mach‘s gut Ricky, bis zum nächsten Mal.“

Barnaby war stinksauer, „Carl, Pete, … sofort raus vor die Tür, ich habe mit euch zu reden.“

„Aber Chef Inspektor, sie wissen doch, dass ich nicht besonders gut zu Fuß bin.“

„Entweder ihr bewegt jetzt auf der Stelle, eure faulen, ungewaschenen Ärsche vor die Tür, oder ich ramme euch meinen kompletten Fuß in Dieselbigen.“

„Wow, Pete, das klingt aber verdammt energisch. Wir sollten besser tun, was der Chef der hiesigen Polizei von uns verlangt.“

„Spar dir deinen überflüssigen Sarkasmus, Carl, dir wird das Lachen schon noch vergehen.“

Barnaby wusste gar nicht so recht, wo er anfangen sollte, „Also gut ihr beiden Spezialisten, dann hört mir mal ganz genau zu. Ihr werdet umgehend dafür sorgen, dass der komplette Müll vom Grundstück verschwindet. Dann werdet ihr die Tiere, auf humane Weise, von ihrem Schicksal erlösen, das Haus picobello säubern und euch angemessen um euren, in Pisse ertrinkenden, kleinen Bruder kümmern. Ich für meinen Teil werde sofort die entsprechenden Stellen, über euer kleines verschwiegenes Müllparadies in Kenntnis setzen. Wenn ihr nicht auf der Stelle handelt, dann ist euer bisheriges Leben Geschichte.“

„Aber es geht niemanden etwas an, wie wir hier ...“

„Halt deine Klappe, Carl, … halt bloß deine verdammte Klappe. Ihr habt gehört, was ich gesagt habe. Macht was draus oder lasst es bleiben, mir ist das vollkommen egal. Entweder ihr werdet jetzt und hier selbst etwas verändern, oder die anderen werden das für euch tun. Eure Entscheidung.“

Da Barnaby jedes weitere Wort für überflüssig hielt, stieg er mit einer riesigen Wut im Bauch in seinen Wagen, wo Sergeant Simmons bereits auf ihn wartete. Dann holte er sein Handy aus der Tasche, hämmerte wie wild auf den Tasten herum und fluchte dabei wie ein Rohrspatz, „Ist ja klar, wenn man die Scheißdinger mal braucht, dann funktionieren sie natürlich nicht. Simmons, sobald wir in der Nähe eines funktionierenden Telefons sind, werden sie sich sofort mit den entsprechenden Behörden in Verbindung setzen. Ricky Henson braucht dringend Hilfe.“

Dennis Simmons kannte seinen Chef mittlerweile ziemlich gut und gab Barnaby einfach die Zeit, die er brauchte, um sich halbwegs zu beruhigen.

„Und, ... hat Ricky Henson etwas Interessantes beobachtet?“

„Er hat vermutlich unseren Täter gesehen. Allerdings ist seine Aussage nicht viel mehr wert, als die der kleinen Milly Wagner. Er hat gesagt, dass es der schwarze Mann war.“

Barnaby schaute auf seine Armbanduhr, „Haben sie etwas dagegen, wenn wir noch kurz bei Ruth Collins vorbeifahren, bevor wir uns Connor und Konsorten vornehmen? Ich könnte jetzt wirklich eine Tasse Tee gebrauchen.“

„Gegen eine Tasse von Misses Collins wohlschmeckendem Tee hätte ich jetzt auch nichts einzuwenden.“

„Mein Gott Barnaby, du siehst ja ganz schrecklich aus.“

Er gab ihr einen Kuss auf die Wange, „Danke für das Kompliment, Liebes, … ich habe noch jemanden mitgebracht.“

„Sergeant Simmons, wie nett. Kommt rein. Ihr mögt doch bestimmt eine schöne, heiße Tasse Tee.“

„Nichts lieber als das.“

Da bei beiden noch das halbe Henson Grundstück an den Schuhen klebte, zogen sie diese sicherheitshalber aus, ehe sie der Hausherrin in die Küche folgten. Nachdem Ruth ihre Gäste und sich selbst entsprechend versorgt hatte, setzte sie sich zu den beiden an den Tisch. „Was ist los, habt ihr sie gefunden?“

Barnaby nickte mit dem Kopf, „Heute Morgen, im Sparrowspark.“ Dann erzählte er ihr, angefangen beim Leichenfund am frühen Morgen, bis hin zum Besuch bei den Hensons, jedes Detail seines, wie er fand, ziemlich miserablen Tages.

„Und wie geht’s jetzt weiter?“

„Als Nächstes wollen wir uns Connor vorknöpfen. Ich glaube allerdings nicht, dass uns das sehr viel weiter bringt.“

„Warum machst du nicht einfach eine Gegenüberstellung mit Ricky.“

Barnaby zog die Stirn kraus, „Was für eine Gegenüberstellung, … etwa mit dem schwarzen Mann?“

„Ganz genau. Vielleicht kann Ricky ja etwas über Größe und Statur des Täters sagen, wenn er entsprechende Vergleichsmöglichkeiten hat.“

„Du bist ein Genie, Ruth, … warum bin ich da eigentlich nicht selber drauf gekommen?“

„Was die Hensons betrifft, lass mich bitte erst noch mal mit denen reden, bevor du etwas unternimmst.“

Barnaby blieb skeptisch, „Glaubst du wirklich, dass das was bringt?“

„Die Jungs können doch eigentlich gar nichts dafür, dass sie so sind, wie sie sind. Denen fehlt einfach nur jemand, der ihnen mal zeigt, wo es lang geht. Wenn du da jetzt die Behörden hinschickst, dann stecken sie Ricky in eine Anstalt und dort würde er eingehen wie eine Primel. Die Jungs kennen mich. Ich glaube schon, dass ich etwas bewirken kann. Gib mir ein paar Tage Zeit. Ich verspreche dir, dass ich mich um das Problem kümmern werde.“

Barnaby leerte seine Tasse, „Ganz wie du meinst, Ruth. Tu, was du nicht lassen kannst. Apropos, wie ist es eigentlich mit deinem Enkel Tyler gelaufen? Ich dachte, ich würde ihn heute kennenlernen.“

Ruth seufzte und verdrehte die Augen, „Ehrlich gesagt, nicht so besonders gut. Es wird wohl doch schwieriger, als ich dachte. Der Junge ist total introvertiert, er sperrt sich gegen alles und jeden. Er will mit uns bekloppten Engländern nichts zu tun haben, wenn du verstehst, was ich meine.“

Der Chef Inspektor erhob sich vom Sofa, „Ich verstehe und es tut mir ehrlich leid für dich. Da hast du ja wahrlich noch ein hartes Stück Arbeit vor dir.“

Sie lächelte müde, „Wahrscheinlich wird es leichter sein, die Hensons zum Aufräumen zu bewegen, als meinen Enkel zu einem Gespräch mit mir. Aber was soll`s, ich habe ja ein ganzes Jahr Zeit. Das wird schon, … irgendwann, … hoffe ich wenigstens.“

„Na gut, Liebes, wir müssen dann erst mal wieder los. Die Arbeit ruft. Sergeant Simmons und ich dürfen uns jetzt noch auf eine, sicherlich sehr tief greifende, Konversation mit Connor Purnell freuen.“

„Na dann, viel Glück.“

„Auf Wiedersehen, Misses Collins, … und vielen Dank für den Tee.“

„Gern geschehen, Sergeant. Und bestellen sie ihrer Frau einen lieben Gruß von mir.“

„Kümmern sie sich bitte gleich morgen, um eine Gegenüberstellung mit dem schwarzen Mann, Sergeant. Ein paar von unseren Leuten sollen sich entsprechend anziehen. Vielleicht kann uns Ricky ja doch weiterhelfen. Und sagen sie den Kollegen, dass sie Ricky mit Samthandschuhen anfassen müssen, sonst erreichen sie gar nichts. Das Beste wird sein, wenn sich Constable Dunley um den Jungen kümmert.“

„Geht klar, Chef, ich werde alles Nötige in die Wege leiten. Wo fahren wir jetzt eigentlich hin, … zu Connor nach Hause?“

„Ich glaube nicht, dass wir unseren Freund um diese Zeit zu Hause antreffen würden. Der ist entweder im Park, auf dem Friedhof oder im RatCat. Und genau da werden wir auch zuerst nachsehen.“

Das RatCat war zwar nicht die einzige, aber die wohl mit Abstand angesagteste Bierkneipe, in der ganzen Stadt. Was sicherlich auch mit der ziemlich ungewöhnlichen Inneneinrichtung zu tun hatte.

Das gesamte Mobiliar bestand aus Holzkatzen. Tische, Stühle, Barhocker, alles Miezekatzen in den unterschiedlichsten Positionen. Dazwischen lauerten überall hölzerne Ratten. Sie saßen auf Regalen, liefen an der Decke, schauten aus verschiedenen Löchern in den Wänden oder belästigten die Möbel, indem sie zum Beispiel dem Sofa ins Ohr oder einem Hocker in den Schwanz bissen. Die Ausstattung dieses Ladens musste ein Vermögen gekostet haben, aber offensichtlich hatte sich die Investition gelohnt. Denn an den Wochenenden nahmen manche Leute einen ziemlich weiten Anfahrtsweg in Kauf, nur um in diesem Ambiente, eine oder mehrere, von den insgesamt dreiundvierzig internationalen Biersorten zu probieren, die hier ständig angeboten wurden.

Die Friedhofs-Clique war nicht zu übersehen. Connor und seine treue Gefolgschaft, also die Freaks, die ihm permanent am Hintern klebten, hatten eine der Sofaecken in Beschlag genommen. Connor grinste, als er die beiden Polizisten kommen sah, „Sieh an, der Herr Chef Inspektor mit Anhang. Was verschafft uns denn die Ehre ihres Besuches? Brauchen sie vielleicht noch ein paar Schminktipps?“

„Nicht wirklich, Connor, aber besten Dank für dein Angebot. Ich möchte dir viel lieber ein paar Fragen stellen. Zum Beispiel wo du gestern Abend, um neunzehn Uhr siebenundzwanzig, warst.“

Wie immer trug Connor sein schwarz gefärbtes Haar zusammengebunden zu einem Pferdeschwanz. Das Gesicht war kalkweiß, Augen und Lippen schwarz geschminkt. Connor leerte sein Glas in einem Zug. Nachdem er lange und ausgiebig gerülpst hatte, grinste er erneut, „Hab keine Ahnung, Chef, ist wohl schon zu lange her. Außerdem geht sie das überhaupt nichts an, wann ich wo und mit wem meine kostbare Freizeit verbringe.“

„Genau, wo kommen wir denn da hin. Schließlich sind wir freie Bürger“, die stoppelhaarige, grauenhafte Schönheit an Connors Seite, fühlte sich offensichtlich veranlasst Partei zu ergreifen.

Barnaby verschaffte sich ein wenig Platz auf der Bank, indem er Connor mit der ganzen Masse seines Körpers beiseite drängte. „Jetzt pass mal genau auf, mein lieber geschmackvoll geschminkter Freund. Wenn ich dich etwas frage, dann hast du mir gefälligst zu antworten. Ich bin Bulle, … schon vergessen? Wir können uns auch gerne auf dem Präsidium unterhalten, wenn dir das lieber ist. Also noch mal von vorne. Wo warst du gestern Abend?“

Connor zuckte mit den Schultern und versuchte einen Dackelblick, „Ich versuche mich ja zu erinnern, Chef Inspektor, ehrlich. Aber es will mir einfach nicht einfallen.“

„Mir ist schon klar, dass du den größten Teil deines Gehirns bereits sinnlos versoffen und verkifft hast, deshalb helfe ich dir mal ein bisschen auf die Sprünge. Du warst gestern um neunzehn Uhr siebenundzwanzig im Supermarkt in der Crownsstreet und hast Bier gekauft, welches du anschließend im Sparrowspark am Obelisken-Denkmal verzehrt hast.“

„Na, wenn sie das sagen, dann wird es wohl so gewesen sein.“

Barnaby legte seinen Arm fest um Connors Schulter, „Weißt du was, Herzblatt, ich verstehe durchaus, dass du in deiner Position als Anführer dieser hochgeistigen Organisation deinen Ruf als Oberarschloch vehement verteidigen musst, aber ich kann auch anders.“ Er wandte sich an Simmons, „Sergeant, ich bräuchte mal ihre hochgeschätzte Meinung. Wir können beweisen, dass sich Mister Purnell zur fraglichen Zeit, ganz in der Nähe des Fundortes der dritten Leiche aufgehalten hat. Die erste Leiche wurde auf dem Friedhof, dem Lieblingsaufenthaltsort von Mister Purnell, auf einem Grabstein gefunden. Das zweite Opfer gleich nebenan in der Kirche, auf einer Bank. Dann wäre da noch die Tatsache, dass Mister Purnell vorbestraft ist und zu einer Gruppierung gehört, der man Ritualmorde durchaus zutrauen könnte. Da dürfte es doch nicht schwierig sein einen Haftbefehl zu erwirken, … oder?“

„Nichts leichter als das, Chef, … soll ich mich gleich darum kümmern?“

„Schon gut, schon gut, ich habe es ja begriffen. Wir waren gestern Abend bis circa dreiundzwanzig Uhr am Denkmal und haben ein bisschen relaxed. Danach sind wir direkt hierher gegangen. Barny, der Wirt, kann das hundertprozentig bezeugen. Da war keine Leiche im Park, Inspektor, ehrlich nicht. Hey man, wir stehen zwar auf Friedhöfe, aber wir schlitzen doch keine Kinder auf. Wissen sie eigentlich, wie übel das ist? Jeder, der uns anglotzt, einfach jeder in dieser verdammten Stadt denkt doch sowieso, dass wir das waren. Wir wollen auch, dass dieses Schwein endlich geschnappt wird.“

„Und warum benimmst du dich dann wie ein Vollidiot?“

Connor schwieg und starrte etwas unbeholfen auf sein leeres Glas.

„Verstehe schon, du musst dein Image wahren. Man Connor, werd endlich erwachsen. Willst du dein ganzes Leben lang den Macker raushängen lassen, nur weil dein Vater Pfarrer ist? Glaube mir, es gibt weitaus Schlimmeres als das. Das Leben ist viel zu kurz, um es so sinnlos verstreichen zu lassen.“

Barnaby entließ Connor aus seinen Klauen und erhob sich von der Bank, „Habt ihr irgendjemanden im Park gesehen?“

„Nur zwei, drei Leute, die mit ihrem Hund gegangen sind, sonst war da keiner.“

„Was lange währt, wird endlich gut, … danke Connor. Wenn dir beziehungsweise euch noch etwas einfällt, dann meldet euch bitte. Vielleicht schaffen wir es ja gemeinsam, dieses furchtbare Kainsmal von euch zu nehmen. Viel Spaß noch und trinkt nicht so viel.“

„Und, … was denken sie über Connor und Konsorten?“

„Das Gleiche, wie vorher auch. Die waren es nicht. Connor hat zwar als kleiner Pimpf leidenschaftlich gerne Frösche mit einem Strohhalm aufgeblasen, aber spätestens beim Sezieren eines Hamsters wird dem doch garantiert sofort schlecht. Bei Connor ist alles nur Show, und wie ich finde, eine verdammt Schlechte.“

„Dann haben wir nach wie vor keinen Verdächtigen in diesem Fall. Was machen wir jetzt?“

„Sie fahren jetzt nach Hause zu ihrer Familie, und ich schaue noch mal kurz im Büro vorbei. Vielleicht haben Wilson und Green ja etwas erreicht. Wir sehen uns dann am Montag, Sergeant. Falls ich sie vorher brauche, rufe ich an.“

„Gibt es etwas Neues, Emma?“

„Leider nicht, Chef. Constable Greens Befragung im Supermarkt hat nichts ergeben. Pink Rose ist halt so ein Allerweltsschaumbad, das von vielen gekauft wird. Aber keiner vom Personal konnte sich erinnern, das ein Kunde es mal in größeren Mengen erworben hat. Und Mister Tandy hat schon seit einer halben Ewigkeit keine Filetiermesser mehr verkauft. Die meisten seiner Kunden kaufen sich Jagdmesser. Außerdem hatte Miss Bonham ja sowieso schon von jedem Messer ein Exemplar geordert, aber keines von den untersuchten Messern kam als Tatwaffe infrage.“

„Liegt alles auf meinem Schreibtisch?“

Emma nickte, „Inklusive der letzten Laborberichte.“

„Gut, dann machen sie jetzt Feierabend, Emma.“

„Chef.“

„Ja?“

Sie druckste ein wenig herum, „Also ich, … ich war nur ganz kurz auf der Toilette. Als ich wieder kam, habe ich Allegra Hunt dabei erwischt, wie sie in den Akten geschnüffelt hat. Ich habe keine Ahnung wie viel und was sie gelesen hat. Es tut mir leid, ich hätte die Akten vorher wegschließen müssen, aber …“

„Ist schon gut, Emma, ich kümmere mich gleich darum. Gehen sie nach Hause, … bis morgen dann.“

Dieses kleine Aas arbeitete wirklich mit allen Tricks. Offensichtlich benötigte sie mal wieder einen kleinen Dämpfer.

„Allegra Hunt.“

„Hier ist Barnaby.“

„Oh wie nett, haben sie endlich ein paar neue Informationen für mich?“

„Wie mir Constable Dunley berichtet hat, weißt du ja sowieso schon mehr, als du eigentlich dürftest. Jetzt hör mir mal genau zu, mein Fräulein. Wenn du auch nur ein winziges Detail veröffentlichst, dass nicht im offiziellen Pressebericht steht und dadurch die Ermittlungen gefährdest, dann wirst du den alten Barnaby mal von einer ganz anderen Seite kennenlernen. Ich weiß, dass du dich oftmals fragwürdiger Mittel bedienst, um an irgendwelche Informationen zu kommen, aber bei der Polizei ziehst du nie wieder so ein mieses Ding ab. Haben wir uns verstanden?“

„Ja, ich habe verstanden und es tut mir auch leid. Natürlich werde ich nichts veröffentlichen, was den Fall gefährdet. Ich nutze diese Informationen lediglich für meine eigenen Recherchen. Vielleicht kann ich ja etwas in Erfahrung bringen, was der Polizei weiterhilft.“

„Lass die Finger von diesem Fall, Allegra, das ist viel zu gefährlich. Wer weiß, wozu der Täter fähig ist, wenn er in die Enge getrieben wird. Du bist eine gute Journalistin. Kümmer dich um deinen Job und überlass die Mördersuche der Polizei.“

„Ja, ja.“

„Was heißt ja, ja?“

„Ich verspreche ihnen, dass ich meine Füße stillhalten werde. Aber sie werden mich doch trotzdem weiterhin auf dem Laufenden halten?“

„Selbstverständlich werde ich das, … gute Nacht, Allegra.“

„Gute Nacht, Barnaby.“

Natürlich wusste er, dass Allegra ihre Füße nicht stillhalten würde. Es lag einfach in ihrer Natur, dass sie ihre Nase überall reinstecken musste. Barnaby machte sich ernsthaft Sorgen, dass dieser unverbesserliche Hitzkopf sich eines Tages durch irgendeine spontane und vollkommen unüberlegte Handlung doch noch in Gefahr bringen könnte.

Der Chef Inspektor knipste seine Schreibtischlampe an, zog den Aktenstapel zu sich herüber und stellte sich mental auf eine verdammt lange Nacht ein.

Das Blut der Kinder

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