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ОглавлениеEin Winseln aus der Ferne
Die Sonne stand hoch am Himmel. Es war warm, doch ein stetiger leichter Wind sorgte für eine angenehme Brise. Selma spielte mit ihren drei Puppen in der Sandkiste, unter der großen Eiche. Ihre Mutter hatte sie dick mit Sonnencreme eingeschmiert, ihr einen Strohhut aufgesetzt und sie ermahnt, das Grundstück nicht zu verlassen. Aber Selma war schließlich schon ein großes Mädchen. Nur noch sechsmal schlafen, dann würde sie bereits ihren fünften Geburtstag feiern.
Miss Lucy, ihre schwarzhaarige Puppe, weigerte sich strikt etwas von dem leckeren Sandkuchen zu probieren. Dabei hatte sie sich doch solche Mühe gegeben. Selma ärgerte sich. Sie wollte gerade ordentlich mit Miss Lucy schimpfen, als plötzlich etwas ganz anderes ihre Aufmerksamkeit erregte.
Selma lief zur hinteren Gartenpforte und lauschte. Der Wind fuhr ihr durch die schulterlangen, goldblonden Locken und riss ihr den Hut vom Kopf. Selma registrierte diesen Verlust überhaupt nicht, denn dieses Geräusch, das der Wind aus der Ferne zu ihr herüber trug, genoss jetzt ihre volle Aufmerksamkeit. Da war es wieder, sie konnte es deutlich hören.
Selma schob den Riegel beiseite und stapfte durch das hohe Gras Richtung Waldrand. Auf halbem Weg bekam sie plötzlich ein schlechtes Gewissen. Sie durfte eigentlich gar nicht alleine zum Wald gehen. Selma zögerte. Sie schaute zurück, überlegte kurz, doch dann siegte schließlich ihre kindliche Neugier und Selma ergab sich diesem angeborenen Instinkt.
Er war so unglaublich niedlich und sie musste auch gar nicht weit in den Wald hinein. Nur ein paar Schritte, ein paar wenige Schritte, dann hatte sie ihn erreicht. Der kleine schwarz-weiße Hund freute sich über alle Maßen und Selma setzte sich zu ihm, „Warum bist du denn hier angebunden? Warst du nicht artig?“
Der Welpe sprang ihr auf den Schoß, leckte ihr das Gesicht ab und gebärdete sich wie ein Verrückter.
Selma kicherte, „Magst du vielleicht mit zu mir nach Hause kommen? Miss Lucy will den Kuchen nicht, den ich gebacken habe. Aber vielleicht möchtest du ja ein Stück davon probieren.“
Selma versuchte krampfhaft, den dicken Knoten mit ihren kleinen Fingern zu entwirren. Vollkommen in diese unlösbare Aufgabe vertieft, bemerkte sie nicht, dass sich in diesem Moment eine dunkel gekleidete Gestalt von hinten näherte ...
„Selma! Selma wo steckst du?“ Susan Woods wurde zunehmend nervöser. Die junge Frau spürte genau, dass irgendetwas nicht stimmte. Hinten im Garten fand sie Selmas Strohhut, der sich im Stachelbeerstrauch verfangen hatte. Dann fiel ihr Blick auf die offene Pforte. Voller Sorge folgte sie den Spuren, die ihre kleine Tochter im Gras hinterlassen hatte, doch am Waldrand endeten diese abrupt.
Während Susan kreuz und quer durch den Wald rannte, rief sie wieder und wieder ihren Namen, „Selma, … Selma antworte doch! Bitte, mein Schatz, komm her zu mir.“ Doch Selma blieb verschwunden.
Nach einer halben Ewigkeit lief die vollkommen verzweifelte Mutter zum Haus zurück. Mit zitternden Händen griff sie nach dem Telefon, „Bitte, sie müssen mir helfen, meine kleine Tochter ist verschwunden!“ Mit allerletzter Kraft erzählte sie der Frau am anderen Ende der Leitung, was geschehen war. Dann brach sie weinend zusammen.