Читать книгу Galway Girl Gesamtausgabe - Tanja Bern - Страница 12
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ОглавлениеIch sitze vor meinem gepackten Wander-Rucksack und zweifle an meinem Vorhaben. Mit Unbehagen denke ich an Ethans Worte, die er so sorglos ausgesprochen hat.
Wer sagt was von Autofahrten?
Er hat mir einen Plan gegeben, auf dem genau aufgelistet ist, was ich mitnehmen darf. Dann hat er mir einen Rucksack gegeben.
„Nur diese Tasche, Sínead, mehr nicht.“
Meinen Protest ließ er nicht gelten.
Das ist vor zwei Tagen gewesen, und nun sitze ich mit Herzklopfen am Küchentisch und schlürfe Tee mit Fergus, der fast vor Neugierde platzt.
„Und du hast echt überhaupt keine Ahnung, wo es hingeht?“
„Ich weiß, dass wir in Irland bleiben“, sage ich grummelnd.
Mein Bruder fährt sich durch das rotblonde Haar und verwuschelt seine Locken so sehr, dass ihm alle Haare zu Berge stehen. Ich beuge mich vor und zupfe an seiner Frisur herum.
„Mich würde das wahnsinnig machen.“
„Was glaubst du, warum ich Papas Baldriantee trinke?“
Fergus lacht lauthals auf. „Aber jetzt mal ehrlich. Irgendwie ist das auch romantisch, oder?“
„Es ist Ethan, Brüderchen.“
„Na und? Willst du mir ernsthaft sagen, du hättest noch nie daran gedacht … Na, ja … eben das. Er sieht echt unverschämt gut aus.“
Fast wäre mir herausgerutscht, dass ich von seiner kleinen Schwärmerei weiß, kann mich aber rechtzeitig zurückhalten.
„Er ist mein bester Freund, Fergus.“
„Jaah, ich weiß. Du betonst das nur so oft, dass ich es dir nicht mehr glaube.“
Ich schnappe entrüstet nach Luft, da hupt es draußen.
„Da ist er ja“, sage ich lächelnd und trinke den Tee in einem Schluck aus.
Fergus will mir bei meinem Rucksack helfen, aber ich bin störrisch und wuchte ihn allein auf meine Schultern. Ich brauche einen Moment, um mein Gleichgewicht zu finden.
„Und du mach keine dummen Sachen!“
„Ach, zurzeit habe ich eh keine Dates, aber ich hab mich jetzt bei Tinder angemeldet.“
Stutzig bleibe ich stehen und drehe mich noch einmal zu ihm um. „Tinder? Was ist das?“
„Du kennst Tinder nicht?“
„Bisher bin ich offensichtlich gut ohne ausgekommen.“
„Es ist die Dating App, Sínead.“
„Aha, hoffentlich finden dich da keine Serienkiller oder so.“
„Och, Sínead! Du kannst einem wirklich jeden Spaß verderben.“
Ich lache auf und hauche ihm einen Kuss auf die Wange.
„Soll ich dich nicht auch mal da anmelden?“
„Untersteh dich!“
Bevor er diese unsägliche Idee weiterentwickelt, gehe ich in den Flur, um die Treppe herunterzugehen. Ich schwanke leicht. Das Gewicht des Rucksacks zieht mich nach hinten.
Verdammt! Ich hoffe, Ethan schleppt mich nicht auf eine Abenteuer-Wandertour. Wahrscheinlich würde ich nach einer Stunde wie eine Schildkröte auf dem Rücken liegen und mit den Beinen in der Luft strampeln, weil der Rucksack mich überwältigt hat.
Ethan sieht mit skeptischem Blick, wie ich auf ihn zu torkele. Mit all meiner Kraft wuchte ich den Rucksack vom Rücken und lasse ihn wie einen nassen Sack vor seine Füße fallen. Er weicht zurück, denn ich hätte fast seine Zehen erwischt. Ethan hebt mein Gepäck probeweise an und zieht eine Augenbraue hoch, sieht zu mir runter.
„Du hast gesagt, ich kann den Rucksack vollpacken!“, verteidige ich mich.
„Äh ja, ich vergaß, was das bei euch Frauen bedeutet.“
„Da ist nur das Wichtigste drin!“
„Bestimmt.“
„Wirklich!“
„Ich bezweifle es doch gar nicht.“
Mit einem Ächzen hebt er meinen großen Rucksack an und stellt ihn in den Kofferraum neben seinen, der dagegen aussieht wie ein Täschchen für zwei Tage Wellness-Hotel.
„Ich gebe zu, ich habe ihn ganz schön vollgestopft. Ich dachte, so lange er noch irgendwie zugeht …“
„Wir nehmen erst mal alles mit. Aussortieren können wir auch später noch.“
„Und wo fahren wir jetzt hin?“ will ich wissen und steige in seinen alten Land Rover.
„Nach Süden“, offenbart er mir mit einem verschmitzten Grinsen.
Ich füge mich seiner Geheimnistuerei, lehne mich in den Sitz und schaue aus dem Seitenfenster.
Die Landschaft rauscht an mir vorbei. Zuerst die bunten Häuser und teils schmalen Gassen von Galway, dann Felder und Wiesen. Die Trockenmauern, die so oft als Abgrenzung dienen, verschwimmen vor meinen Augen, Schafe werden zu weißen Punkten.
Ethan fährt auf die Autobahn.
„Das ist ja sehr abenteuerlich.“
„Du bekommst dein Abenteuer, Galway Girl. Aber die Tour startet nicht in Galway.“
Wo führt er mich hin? In den Nationalpark von Killarney oder an die Klippen vom Ring of Kerry?
Nein, das wäre zu offensichtlich. Ethan ist bekannt dafür, Irlands geheime Orte zu finden. Er führt mich zu etwas Besonderem, das spüre ich.
Heimlich beobachte ich ihn von der Seite. Er wirkt selbst ein wenig unruhig, was sehr untypisch für ihn ist. Liegt es an mir? Oder womöglich am Wetter?
Ich schaue auf das digitale Thermometer, es sind drei Grad plus. Regen prasselt gegen die Windschutzscheibe. Auf der Weite des Landes, die man von hier aus überblicken kann, bildet sich Nebel.
Ethan legt leger die rechte Hand auf die Schaltung, wirkt konzentriert, aber nicht besorgt. Trotzdem sehe ich die Anzeichen von Nervosität. Das Trommeln der Finger auf dem Lenkrad, das wiederholte Durchatmen, als wolle er sich beruhigen.
„Ist alles in Ordnung, Ethan?“
Er blinzelt und sieht mich kurz verwirrt an. „Ja, sicher, warum fragst du?“
„Nur so ein Gefühl. Magst du mir nicht endlich sagen, wohin wir fahren?“
„Du siehst es doch nachher. Mach einfach die Augen zu und schlummere ein bisschen. Du wirst beim Autofahren doch sowieso immer müde.“
Er kennt mich viel zu gut, und natürlich behält er recht. Das monotone Rauschen des Motors lässt mich schnell schläfrig werden.
Mit einem Schulterzucken schnappe ich mir seine Jacke vom Rücksitz, knülle sie zusammen und nutze sie als Kopfkissen. Ich sehe noch, wie er lächelnd zu mir hinsieht, dann schließe ich die Augen.
„Sínead?“
Ich schrecke auf und brauche einen Augenblick, um zu realisieren, dass wir parken.
Mein Blick huscht zu Ethan, der mir mit einem Lächeln eine Tasse, die mir wohlvertraut ist, entgegenstreckt. Ich rieche Kaffee.
„Du hast sie noch?“, frage ich überrascht.
„Was denn?“
„Die Tasse.“
Er sieht auf das Gefäß, dann auf mich. „Natürlich.“
Die dunkelgrüne Farbe blättert etwas ab, und am Rand ist ein winziges Stück Keramik abgesprungen. Meine Gravur erkennt man noch gut, sein Vorname mit irischen Verzierungen. Ich habe ihm die Tasse zum vierzehnten Geburtstag geschenkt. Es war meine erste Gravierarbeit.
Mich durchfährt ein nostalgisches Gefühl, das Ethan unterbricht, als er mich anstupst und nach vorne deutet.
Für den Augenblick bin ich sprachlos. Wir stehen mit dem Fahrzeug auf einem Aussichtspunkt. Ich muss aussteigen!
Vor mir breitet sich die Landschaft aus, die ich bisher nur auf einer Leinwand bewundern konnte. Berge umrahmen ein nebelumhülltes Tal. Das Licht tanzt auf den Hängen, je nachdem wie die Wolken vom Wind bewegt werden. Ein breiter Sonnenstrahl durchdringt die Feuchtigkeit der Luft, beleuchtet die drei Seen, die sich in die Senke schmiegen. Eine Bö zerrt an meinem Haar und bringt feinen Regen mit, der seitlich über die Ebene geweht wird.
Ich umklammere die Keramiktasse, und mich durchfährt ein angenehmer Schauer, als die Hitze des Kaffees meine Hände wärmt.
Ethan tritt neben mich und zeigt nach rechts. Eine Rotwildherde grast in der Nähe. Der Hirsch wittert uns, und die Tiere entfernen sich.
„Du hast mich zum Ladies’ View gebracht“, hauche ich überwältigt.
„Du kannst nicht dein Leben lang das Bild in eurem Laden verehren.“ Ethan sucht meinen Blick. „Hast du überhaupt schon mal den Süden gesehen?“
Ich schüttle mit dem Kopf. Es ergab sich nie, und Thomas wollte im Urlaub stets fort von Irland. „Ich war mal in Dublin“, sage ich.
Er holt etwas aus seinem Rucksack. „Komm, wir gehen ein bisschen spazieren. Aber nimm deine Jacke mit.“
Tatsächlich sind die Temperaturen hier sehr abgesackt, es kommt mir empfindlich kalt vor. Ich trinke rasch meinen Kaffee aus, hülle mich in meinen Parka und folge Ethans Beispiel, als er sich eine Mütze überstülpt.
Ich kann nicht sagen, warum mich Mums Bild von diesem Ort immer so beeindruckt, ich hatte stets das Gefühl, diesem Tal im Geiste irgendwie nahe zu sein. Jetzt gerade bin ich wie verzaubert. Vielleicht weil ich nicht erwartet habe, dass jemandem meine Faszination aufgefallen ist.
Ethan führt mich einen kleinen Pfad entlang, und dann setzen wir uns auf einen großen Felsen, wo er mir ein belegtes Brot reicht, das ich gerne annehme. Wir ignorieren das Wetter, und ich beobachte den Nebel, wie er über die Landschaft streift, genieße die wunderschöne Aussicht auf den Upper Lake. Die raue Schönheit dieses Tales lässt einen erkennen, dass in Irland Vieles ursprünglich geblieben ist, fast unberührt, als hätte die Zeit hier keine Bedeutung.
Der Sonnenstrahl verschwindet, die Umgebung verdunkelt sich, nur um dann für einen Augenblick wieder hell zu erstrahlen, weil eine Wolke vom Wind fortgetrieben wird. Die Wiesen auf den Hügeln leuchten auf, und das erste Mal wird mir bewusst, warum man Irland auch die Smaragdinsel nennt.
Ethan stupst mich sachte an und zeigt nach Westen. Ein Regenbogen überspannt die windumtosten Bergrücken.
„Kerry gibt sich wirklich Mühe, dir zu gefallen“, sagt Ethan mit einem Schmunzeln. „Jetzt warte ich nur noch auf den Leprechaun, der den Goldtopf vor dir versteckt.“
„Du weißt, dass man darüber keine Witze macht.“
Er lächelt nur.
Ich betrachte die blassen Farben der Himmelserscheinung. „Wie sind sie nur auf so ein Märchen gekommen?“
„Es ist wohl aus dem Wunsch geboren, etwas Besonderes zu finden, das einem weiterhilft und glücklich macht.“
Ich seufze, ziehe die Knie an und schlinge meine Arme darum. „Warum ich die ganzen Jahre vom Ladies’ View so fasziniert bin, kann ich dir gar nicht sagen. So gerne würde ich es dir erklären, aber …“
„Das musst du nicht. Vielleicht ist es wegen dieses Tages heute.“
Verwirrt schaue ich ihn an, aber sein Blick ist auf den Regenbogen geheftet. „Wie meinst du das?“
„Das hier … es fühlt sich besonders an … oder?“ Sehe ich da Unsicherheit in seinem Gesicht?
„Ja, sehr“, antworte ich.
„Womöglich hast du es geahnt und dich deshalb nach diesem Ort gesehnt.“
Er sieht mich noch immer nicht an, und ich beobachte den Hirsch, der nun schemenhaft wieder in Sichtweite kommt. Er führt seine Herde sicher über die schartigen Felsen zu den Wiesen. Im Nebel hätte ich die Tiere fast nicht gesehen.
Ich denke über Ethans Worte nach. … nach diesem Ort gesehnt …
Aber wäre es das Gleiche, wenn ich allein hier wäre? Wonach habe ich mich gesehnt, wenn ich Mums Bild angesehen habe? Ich tauche in meine Erinnerung ein, um nach einer Antwort zu suchen.
Mum hängt das neue Landschaftsgemälde auf, und Dad hilft ihr beim Befestigen. Im Augenwinkel sehe ich ihre Bewegungen, allerdings ist meine Konzentration auf das Glas in meiner Hand gerichtet, in das ich eine irische Harfe gravieren möchte. Ich spüre Ärger in mir aufflammen, weil mir die Verzierung nicht gelingt. Mit einem leisen Fluch lasse ich meine Arbeit sinken und streiche mir widerspenstige Haarsträhnen zurück.
„Der Ladies’ View“, sagt Ethan und deutet mit dem Kopf auf das große Bild. „Da wollen sie alle hin.“
„Die Touristen, die du betreust?“, hake ich nach und versuche meine Gravur nun irgendwie zu retten, indem ich keltische Spiralen um das Instrument zeichne.
„Im Sommer total überlaufen, überall Menschen, die fotografieren. Es ist furchtbar.“ Er lacht gelöst, meint es nicht so drastisch, wie er es sagt, das spüre ich.
„Aber?“
„Frühmorgens oder im Winter ist es etwas anderes. Dann …“
Ich halte inne, denn er stockt. „Ja?“
„Als wäre die Zeit stehen geblieben, damit … das Land eine Verbindung zu dir suchen kann.“ Verlegen huscht sein Blick zu mir. „Hört sich bescheuert an, oder?“
„Nein, überhaupt nicht. Bist du oft dort?“
„Wenn ich in Kerry bin, ist der Ladies’ View Pflicht. Leider bin ich meistens zu den Stoßzeiten da und dann immer in touristischer Begleitung.“
Ich lasse das Glas sinken, betrachte Mums neues Bild und überlege, wie es wäre, mit Ethan da oben zu sitzen und diese Berge zu betrachten …
Die Erinnerung beschert mir Herzklopfen. Ist es möglich, dass ich nicht den Ort ersehnt habe, sondern …
Ich blinzle, vertreibe rasch diesen Gedanken. Ethan ist mein Freund! Das wäre eine viel zu romantische Vorstellung. Innerlich rüge ich mich, presse die Lippen aufeinander.
„Alles in Ordnung, Sínead?“
„Ja, ich genieße es sehr, hier zu sein.“
Er nickt und rückt ein Stück näher an mich heran. Zuerst zögert er, dann greift er nach meiner Hand.
Wir haben uns geschworen, ewig Freunde zu bleiben. Doch auf einmal schmerzt mich diese platonische Nähe. Ich bin verunsichert, weil mich jede Faser meiner Seele zu ihm zieht.
Was geschieht hier mit mir?
„Ich wollte schon immer nur mit dir hier sitzen“, raunt er plötzlich.
„Mit mir?“
„Ja …“
Ich suche seinen Blick, doch er schenkt mir nur ein flüchtiges Lächeln und steht abrupt auf. Ist ihm diese Offenbarung unbewusst entschlüpft? Mir kommt es so vor, als wolle er vor der Situation flüchten. Ich beobachte, wie er dort steht und auf das Tal blickt. Ob er wohl am liebsten fortfliegen würde?.
Ich richte mich auf. „Ethan?“
„Mh?“ Er dreht sich halb zu mir um.
„Ich wollte auch immer nur mit dir hier sein.“
Er ist mit einem Schritt bei mir, zieht mich in seine Arme. Ich erwidere seine Geste überrascht, spüre seine Lippen auf meiner Stirn. So stehen wir eng umschlungen am Ladies’ View, und in diesem Augenblick bedarf es keiner weiteren Worte.
*
Die Fahrt geht weiter, und ich weiß immer noch nicht, wo sie mich schlussendlich hinführen wird, Ethan schweigt beharrlich dazu. Wir fahren durch Kenmare, eine kleine Stadt, die direkt an der Bucht liegt, die den Ring of Kerry und den Ring of Beara voneinander trennt. Die beiden Touren sind Touristenattraktionen, wobei erstere wesentlich berühmter ist.
Ethan fährt über die Kenmare Bridge, eine Brücke, die eine Verbindung zwischen den Landstrichen herstellt.
„Fahren wir den Ring of Beara entlang?“, frage ich und hoffe, ihm doch irgendeine Antwort zu entlocken.
„Du bist ein kleiner, neugieriger Kobold, weißt du das?“, sagt er mit einem frechen Grinsen.
Schmollend lehne ich mich in den Sitz zurück.
Ethan lacht. „Okay, ein bisschen verrate ich dir. Wir werden in Lauragh zu Mittag essen, und dann möchte ich dir etwas Besonderes zeigen, dass es nur einmal in ganz Irland gibt.“
„In Lauragh?“
„Nein.“
„Jetzt komm schon!“
„Wenn ich dir sage, wo es ist, googelst du danach.“
Ich lache laut auf. Oh, er kennt mich so gut!
„Wo liegt denn Lauragh? Da habe ich noch nie von gehört.“
„Es ist nicht weit, nur ein kleiner Ort. Aber da gibt es ein sehr süßes Café, in dem man auch Fahrräder mieten kann.“
Ich setze mich kerzengerade auf. „Du willst nicht ernsthaft im Winter mit dem Rad den Healy Pass rauf, oder? Da streike ich.“
„Nein, keine Sorge. Für den Sommer ist zwar eine kleine Tour mit dem Rad geplant, aber wir fahren sie mit dem Auto ab. Im Winter ist das nicht zumutbar.“
Ich atme beruhigt aus und lehne mich wieder zurück. Fahrradfahren bin ich gewöhnt, da ich kein Auto habe. Doch in dieser Jahreszeit sollte man die Caha Mountains mit Vorsicht genießen.
Ich schaue wieder aus dem Seitenfenster und denke an Ethans Worte, die ich nicht einschätzen kann.
Ich wollte schon immer nur mit dir hier sitzen.
Bei der Erinnerung an unser Gespräch rieselt mir eine Gänsehaut über den Rücken. Ich wage kaum darüber nachzudenken, was dieser Satz bedeutet.
Ich lenke mich ab, indem ich auf die idyllische Landschaft schaue. Selbst im Dezember ist die Gegend hier außergewöhnlich schön.
„Warst du mal im Sommer hier?“, frage ich Ethan.
„Ja, sicher, schon einige Male.“
„Ist bestimmt wunderschön, oder? Also, ich meine, noch mehr als jetzt.“ Ich richte mich auf, weil ich zwischen den Hügeln einen See erspäht habe.
„Als deine Reiseleitung würde ich dir jetzt sagen: Ms Murphy, wir befinden uns hier am Rande der Caha Mountains, eine wildromantische und geschichtsträchtige Gegend, die Ihnen sicher gefallen wird.“
Ich lächle, steige in das Spiel ein. „Geschichtsträchtig, Mr Clarke? Das müssen Sie mir näher erzählen.“
„Schauen Sie dort, die Bergkette.“ Er zeigt nach Nordwesten. „Dort sehen Sie den Berg namens Hungry Hill. In der Hungersnot erbaute man die Straße zum Healy Pass, um den Menschen wenigstens eine Arbeit zu geben. Aber er forderte einen furchtbaren Tribut. Viele Arbeiter kamen ums Leben, weil das Gebirge sehr tückisch ist.“
„Wirklich sehr interessant, Mr Clarke. Jemand erzählte mir, dass es hier auf der Beara Halbinsel etwas Besonderes gäbe, das nur einmal in Irland zu finden ist.“
Ethan schnauft amüsiert auf. „Netter Versuch.“
Ich begegne seinem belustigten Blick und strecke ihm die Zunge heraus.
Wir kommen an einigen Häusern vorbei, die wild verstreut in die Landschaft gebaut sind.
„Darf ich vorstellen? Lauragh.“
Ich ziehe überrascht die Augenbrauen hoch. „Wow, das ist … ein wirklich kleines … äh ... Dorf?
„Lauragh ist eine der kleinsten Ortschaften Kerrys, die Leute hier sind stolz auf ihr Zuhause.“
Ich schaue zu den sich im Wind wiegenden Tannen hoch, betrachte den tiefblauen See und öffne das Fenster. Die kalte Luft ist wundervoll!
Ich schließe für einen Moment die Augen, sauge das Aroma in mich auf. Ich nehme den Tannenduft wahr, erkenne darin einen Hauch von Torf, und es riecht sogar entfernt nach Pilzen.
Ethan biegt in eine Auffahrt und parkt vor einem weißen Haus, in dem sich laut Schild das Post Office befindet. Links daneben ist das Pedals & Boots Café.
Wir steigen aus, und zu meiner Überraschung werde ich mir des Meeres bewusst, als eine Bö vom See zu mir herüberweht.
„Was ist das für ein Gewässer?“, frage ich verwundert.
„Es ist eine lange Einbuchtung vom Atlantik und geht in die Kenmare Bay über.“
„Das hätte ich mir denken können, aber es wirkt wie ein See.“
Ich gehe zum Wasser, tauche meine Fingerspitzen hinein. So kalt! Am Ufer beginnt es sogar zu frieren.
Als ich mich aufrichte, fliegen winzige Flocken vom Himmel, die vom Wind hin- und hergewirbelt werden.
„Es beginnt wieder zu schneien!“ Mich durchströmt ein Glücksgefühl. Es gibt nicht oft Schnee in Irland, die Winter sind meistens feucht und mild. Manchmal setzt sich die kalte Jahreszeit dennoch durch und trotzt den Einflüssen des Golfstroms.
Ethan jedoch schaut besorgt.
„Was ist denn?“
„Im Moment ist die Straße in Richtung Ardgroom gesperrt. Wenn ich dich zur Küste bringen will, müssen wir heute noch über den Healy Pass.“
Ich klopfe ihm auf die Schulter. „Keine Sorge, wir fahren doch nicht mit dem Fahrrad“, sage ich keck und ziehe ihn am Ärmel zum Café.
„Du bist ein Stadtkind, Sínead“, grummelt er.
Wir betreten das kleine Café.
„Fàilte“, begrüßt uns die Frau hinter der Theke auf Gälisch. „Wollt ihr euch aufwärmen oder auch was essen?“
„Habt ihr heute eine eurer hausgemachten Gemüsesuppen?“, erkundigt sich Ethan.
„Aber natürlich.“
„Dann bitte zweimal.“ Er beugt sich zu mir. „Die Suppe schmeckt fantastisch.“
Wir setzen uns an einen kleinen, runden Tisch. Durch die Fenster sieht man das wellige Wasser und den Schnee, der nun in dickeren Flocken herunterfällt. Innerlich juchze ich.
„Wenn er liegenbleibt, bist du fällig, Ethan.“
Er lacht verhalten. „Ich weiß, ich bin dir noch eine Schneeballschlacht schuldig.“
„Unbedingt!“
In dem Café fühle ich mich wohl. Wir sind die einzigen Gäste, und ich habe das Gefühl, die Hausherrin kocht nur für uns. Sie scheint Ethan bereits zu kennen, denn sie reden über die Tour im Sommer, für die er hier die Fahrräder mieten möchte.
Draußen sieht es aus wie von Puderzucker überstäubt.
Plötzlich nimmt Ethan meine Hand, was mich erst einmal verwirrt. Es ist Jahre her, dass er mich auf diese Weise berührt hat.
„Sínead, wir können auch bis morgen hierbleiben. Der Schnee soll laut Wetterbericht nicht lange liegenbleiben.“
Er spürt meine Unsicherheit, will sich zurückziehen, doch ich halte seine Hand fest. „Und was wird dann aus meiner ominösen Überraschung? Ich will das sehen, was es nur ein einziges Mal in Irland gibt.“
Die Frau vom Café lacht leise. Sie weiß, worum es geht!
„Du willst also im Schnee den Healy Pass rauf?“, fragt Ethan skeptisch.
„Du hast einen Geländewagen.“
„Dem kann ich nicht widersprechen.“
Wir essen auf und trinken noch eine Tasse Tee. Dann finde ich mich in wirbelnden Schneeflocken wieder. Ich lache, drehe mich im Kreis. So sehr, dass ich schwanke und stolpere. Ethan fängt mich auf, gerät dabei selbst ins Torkeln. Wir benehmen uns, als wären wir betrunken, kichern wie früher als Kinder.
„Sie hat uns bestimmt was in den Tee gemischt“, sage ich verschwörerisch.
„Oder in die Suppe.“
„Du kannst wirklich froh sein, dass noch nicht so viel Schnee liegt, sonst hätte ich dich eingeseift.“
„Was? Aber womit habe ich das verdient?“
„Rache“, flüstere ich ihm zu und versuche mich an dem Lachen einer Hexe. „Für all die Male, wo du mir Schnee ins Gesicht gerieben hast.“
„Du bist wirklich eiskalt und ohne Gnade.“ Ethan verengt die Augen zu Schlitzen.
„Oh ja.“ Ich kenne diesen schelmischen Gesichtsausdruck und flüchte ins Auto. Dieses Mal kriegt er mich nicht.
Schmunzelnd setzt er sich auf den Fahrersitz, schaut mich an und runzelt die Stirn.
„Was ist denn?“
„Hm, was hast du da?“
„Wo denn?“
„Ist das ein Insekt?“
„Was?!“, rufe ich panisch und halte ihm mein zerzaustes Haar hin. „Mach es weg!“
Er schiebt meine Jacke etwas zurück. Ich ahne auf einmal, was er vorhat, ziehe mich abrupt zurück, doch es ist zu spät. Es rinnt mir eiskalt den Rücken hinunter, und ich schreie auf. Ethan hat mir Schnee in den Kragen gesteckt!
„Ethan!“
„Ich bin eben auch eiskalt und ohne Gnade.“
„Das kriegst du zurück“, murmle ich und schnaufe mürrisch auf.
Aber jedweder Ärger vergeht, als wir weiterfahren. Wir plaudern über meine neuen Tassen, die ich graviere und die wirklich gut bei den Touristen ankommen. Er erzählt mir im Gegenzug von seinen letzten Sommertouren. Es ist erstaunlich, wie viele ähnliche Erfahrungen wir mit den Urlaubern gemacht haben, obwohl wir so unterschiedliche Berufe haben.
Auf einmal schweigt Ethan und hält an.
„Was ist los?“
„Sieh nach vorne, ich kann die Straße nicht mehr erkennen.“
Ich schaue durch die Windschutzscheibe und sehe eine reinweiße Schneelandschaft. Die ganze Zeit konnten wir uns an den niedrigen Mauern orientieren, die als Leitplanke dienten. Hier fehlt die Abgrenzung der Straße.
Ethan steigt aus, und ich folge ihm. Ich fühle mich wie in eine andere Welt versetzt. Die grünen Hügel sind fort, bedeckt von einer makellosen Schicht aus Schneekristallen. Nebel kriecht die Hänge hinauf. Hier oben herrscht ein scharfer Wind, der mich frösteln lässt.
Ethan beugt sich hinunter und wischt den Schnee von der Straße fort. Mit einem Seufzen winkt er mich heran.
„Wir sind bereits abgekommen. Siehst du? Und jetzt kommt eine Strecke, die ich nicht fahren werde, wenn die Straße nicht sichtbar ist und Nebel aufzieht.“
„Was machen wir denn jetzt?“, frage ich gefasst.
„Warten. – Komm, gehen wir zurück ins Auto. Wir ziehen uns dick an und trinken etwas Warmes aus der Thermoskanne.“
Ich starre ihn an. Er meint das wirklich ernst.
„Verdammt!“, zische ich. „Es ist meine Schuld.“
„Nein, ich kannte die Gefahr, hab es aber total unterschätzt. Ich hätte nicht gedacht, dass der Schnee hier schon so hoch ist.“
„Wie weit ist es denn noch?“
„Wir haben erst die Hälfte.“
Entmutigt setze ich mich in das noch warme Auto. Mein schlechtes Gewissen plagt mich. Ich hätte wissen müssen, dass er mir nichts abschlagen würde.
Er beugt sich zu mir, zieht den Reißverschluss meiner Jacke höher und setzt mir die Mütze auf. Wir warten, schweigen. In mir keimt ein Gefühl auf, das mir ein unangenehmes Gefühl in der Magengegend beschert.
Der Nebel nähert sich und umschließt uns. Die Dämmerung setzt viel früher ein, als ich es kenne, und ich sehe nur graue Schwaden, die langsam immer dunkler werden. Der Wind bläst die Flocken durcheinander, aber nach einiger Zeit legen sich die Böen, und der Schnee haftet an den Scheiben.
Ich höre nur das Rieseln der Flocken, das Rascheln von Ethan, als er im Rucksack etwas sucht. Diese besondere Stille ist mir unheimlich.
„Ethan?“
„Ja?“
„Erzähl mir was“, bitte ich ihn leise.
„Warum flüsterst du?“
„Ich weiß nicht.“
Er sucht meinen Blick. „Du hast Angst. Das verstehe ich. Mach dir keine Sorgen. Uns passiert nichts.“
„Es ist nur so ein komisches Gefühl. Sogar das Handynetz ist tot.“
„Hier oben konnte ich noch nie telefonieren, das ist normal. Komm, wir gehen nach hinten. Du isst was und schläfst ein bisschen. Ich passe auf. In Ordnung?“
„Okay.“
Als wir die Türen öffnen, rieselt Schnee ins Auto. Rasch steigen wir um. Der Motor ist nun aus, Ethan will ihn nur zwischendurch wegen der Heizung starten.
„Der Wind ist stärker geworden“, bemerke ich.
Ethan hält die Tür noch offen und schaut besorgt zum Himmel, wo dunkle Wolken aufziehen. Eine Bö zerrt regelrecht an dem Land Rover, ich spüre eine leichte Erschütterung und höre ein Pfeifen zwischen dem Rauschen.
„Ja, da bahnt sich tatsächlich ein Schneesturm an.“
Er schließt die Tür, lächelt, um mich aufzumuntern. Seine Gegenwart bewirkt, dass ich mich sicher fühle. Ich spüre dem Gefühl nach, denn bei Thomas habe ich nie etwas Derartiges empfunden.
Wir essen belegte Brote, trinken den mittlerweile lauwarmen Tee, sind uns einfach nur nah.
„Hast du dich je gefragt, ob es mit uns funktioniert hätte?“, fragt er unerwartet.
Mein Herzschlag stolpert regelrecht.
Er sieht mich an. „Ich meine, wir haben es nie versucht.“
Unsicherheit überspült mich. Warum reagiere ich so heftig auf eine einfache Frage? Ich möchte es abtun, meine Gefühle vor ihm geheim halten, aber ich kann es nicht, denn er durchschaut mich.
„Wenn ich mir dein leicht verzweifeltes Gesicht ansehe, vermute ich, dass du schon ähnliche Gedanken hattest.“
„Verzweifelt?“ Ich schaue überrascht, versuche meine Aufregung zu überspielen.
„Oh ja, du siehst aus, als möchtest du diesem Gespräch sofort entkommen und nähmst dafür auch den Sturm in Kauf.“
„Also so schlimm ist es nicht. Es ist nur …“
„Wir müssen nicht darüber reden, wenn du nicht magst.“
„Doch! Ich meine, wir können darüber reden.“ Ich atme tief durch. „Ich kenne dich schon fast mein ganzes Leben lang. Natürlich habe ich immer mal wieder solche Gedanken. Du bist der einzige Mann, dem ich vollständig vertraue.“
„Mehr als deinem Dad oder Fergus?“, neckt er.
„Ja“, antworte ich schlicht, was ihn sichtbar für einen Moment aus der Bahn wirft.
Wir kennen uns so unglaublich gut, dass wir sogar unsere unbewusste Körpersprache deuten können. In diesem Augenblick wird mir das bewusst, und die Erkenntnis erweckt einen kleinen Keim von Furcht. Ich werde ihm nichts verheimlichen können.
Aber was will ich ihm denn überhaupt verheimlichen?
Ethan knibbelt an seinen Fingernägeln, sein Blick ist gesenkt. „Du hast Angst, wir könnten unsere Freundschaft zerstören.“
„Ethan, ich würde für dich durchs Feuer gehen. Dich womöglich zu verlieren, das könnte ich nicht ertragen.“
Seine Finger verschränken sich ineinander. „Wir sind doch erwachsen, keine Teenager mehr.“
Noch nie haben wir darüber geredet, und seit langem sind wir beide wieder Single. Seine Beziehungen sind irgendwie immer wie ein flüchtiger Hauch im Wind. Leidenschaftlich und kurz. Ich frage mich auf einmal, warum das so ist. Früher redete ich mir ein, er bräuchte diesen Spaß, dann vermutete ich eine Beziehungsunfähigkeit. Doch was wäre, wenn …
Diesen Gedanken wage ich kaum zu Ende zu denken. Er lässt sich aber nicht verdrängen, sirrt in meinen Überlegungen herum wie eine Mücke.
Bin ich der Grund? Empfindet er mehr als nur Freundschaft für mich, und all die anderen Frauen waren eine Notlösung?
„Sínead? Alles in Ordnung?“
„Ja, ich hatte nur einen sehr surrealen Gedanken.“
„Surreal, mh. Verrätst du ihn mir?“
Ich schüttle den Kopf, wie ich es früher als Kind gemacht habe, und bringe ihn damit zum Lachen.
Wir lassen das heikle Thema fallen, schauen nun auf die Windschutzscheibe, die der Schnee immer mehr bedeckt. Hier draußen zu sein, so hilflos, nicht fähig, etwas von der Umgebung zu sehen, lässt das mulmige Gefühl in meinem Magen wieder aufkeimen. Noch ist es warm, weil die Lüftung das Auto aufheizt. Aber wie lange noch?
„Komm …“, raunt Ethan und zieht mich sachte in eine halb liegende Position.
Ich bette wie selbstverständlich meinen Kopf in seinen Schoß. Seine Wärme umhüllt mich, seine Nähe nimmt mir die Furcht. Ich zwinge mich, die Augen zu schließen, schlafen kann ich noch nicht.
Mir rieselt eine angenehme Gänsehaut über den Rücken, als Ethan beginnt, mir durchs Haar zu streicheln. Meine Gedanken driften ab. Ich lege mich bequemer hin, atme tief ein.
„Schlaf“, flüstert er.