Читать книгу Galway Girl Gesamtausgabe - Tanja Bern - Страница 9
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ОглавлениеWir rennen über die Wildblumenwiese, die Blüten und Gräser streichen uns um die Beine. Unser Lachen hallt über die sonnige Lichtung, und die Luft riecht nach Sommer. Meine Welt scheint völlig in Ordnung zu sein. Intakt. Als könne mich nichts erschüttern.
Mit geschlossenen Augen stehe ich in der Küche, träume vor mich hin und flüchte für einen Augenblick vor …
Ja, vor was eigentlich?
Dieser eine Tag meiner Kindheit ist so wunderschön gewesen. Wenn ich mich an solche Momente erinnere, wird alles ein bisschen leichter für mich.
„Sínead, hörst du mir überhaupt zu?“
Ich blinzle und bin abrupt wieder in der Wirklichkeit. Thomas steht mit genervtem Gesichtsausdruck vor mir.
„Ehrlich gesagt ...“
„Hast du nicht zugehört, schon klar. Ist ja nichts Neues.“ Er seufzt, dreht sich weg und verlässt die Küche wieder.
Irritiert folge ich ihm ins Wohnzimmer. „Ich war kurz in Gedanken. Was wolltest du denn?“
„Du hast also wirklich gar nichts mitbekommen? In welchen Sphären hast du geschwebt?“ Sein Tonfall ist hart. Ich spüre, dass er seine Wut mühsam unterdrückt.
„Tut mir leid.“
„Was? Dass du mir nicht zugehört hast? Oder dass du mich seit Wochen wie einen nervigen Bruder behandelst?“
„Bitte was?“
„Schon gut“, murmelt er und wendet sich ab.
Ich bin für einen Moment sprachlos, fange mich aber rasch wieder und gehe ihm nach. „Du machst es dir zu leicht, Thomas.“
„Ach ja?“
Wieder einmal wird mir bewusst, wie unglücklich ich mich in seiner Gegenwart fühle. Ich kann nicht sagen, warum sich dieser Schatten jedes Mal auf mich legt, wenn eine Beziehung ernst wird. Aber diese Dunkelheit ist immer da. Auch jetzt.
Thomas nähert sich mir, fährt sich durch sein kurzes Haar. „Wir sollten nicht streiten“, beschwichtigt er und nimmt meine Hand. Sachte schüttelt er den Kopf, als verstehe er uns nicht mehr. „Es war heute ein ziemlich übler Arbeitstag in der Firma. Tut mir leid, ich habe überreagiert.“
„Nein, hast du nicht“, widerspreche ich leise.
Er gibt sich zufrieden mit meiner Antwort, haucht mir einen Kuss auf den Mund und geht zurück in die Küche. Ich höre, wie er sich einen Kaffee macht, die Geräusche sind mir wohlvertraut.
Ich gehe ihm nach, beobachte ihn und fühle – nichts. So sollte es nicht sein! Wir sind verlobt, seit über einem Jahr, wir wollen den Rest unseres Lebens miteinander verbringen.
Aber Thomas scheint unseren Zwist vergessen zu haben, oder er verdrängt ihn. Ich glaube, er will es nicht sehen. Denn nun redet er von seinem Arbeitstag und beschwert sich über einen vorlauten Kunden.
„Thomas“, unterbreche ich ihn. Er verstummt. Langsam gehe ich auf ihn zu. „Etwas stimmt nicht.“
Kaffeeduft breitet sich aus und erfüllt den Raum.
„Was meinst du, Sínead?“
„Wir … wir sind beide nicht glücklich.“
Thomas stellt seine volle Tasse auf die Anrichte. „Wie meinst du das? Und sprich nicht für mich!“
Betroffen senke ich den Kopf. Mein Schweigen sagt ihm mehr als tausend Worte.
„Sínead, wir sind verlobt!“
„Aber wie soll es noch werden, wenn schon der Beginn nur aus Streitigkeiten besteht?“
„Was willst du mir sagen, Sínead?“
Mir wird die Tragweite dieser Unterhaltung bewusst, und ich bekomme Angst. Bin ich dabei, unser Leben zu zerstören?
Thomas baut sich vor mir auf. Er überragt mich um eine Kopflänge. „Willst du mich noch heiraten oder nicht?“
Ich zögere. Mein Herz klopft auf einmal so heftig, dass es mir unangenehm ist. In meinen Magen bohrt sich ein Gefühl, und mir wird übel.
Nein, ich will Thomas nicht heiraten.
Die Erkenntnis treibt mir die Tränen in die Augen. Ich kann ihn nicht mehr ansehen und senke den Blick. Wie soll ich ihm das erklären?
„Dann geh, Sínead.“
„Was?“, frage ich heiser.
„Ich gehe davon aus, dass dein Schweigen ein Nein bedeutet. Deshalb: geh.“
„Das ist nicht dein Ernst.“
Sein Gesicht bleibt unbewegt, jegliche Regung unterdrückt er. „Sínead, wenn du der Meinung bist, wir beide verplempern hier unsere Zeit, dann pack bitte deine Sachen und geh.“ Thomas atmet tief durch. „Oder bleibe, aber dann liebe und heirate mich aus tiefstem Herzen.“
Fassungslos sehe ich ihn an. Er wendet sich von mir ab, zieht sich seine Jacke an.
„Ich gehe jetzt in Jeffs Bar. Mach, was du für richtig hältst. Ich werde ja sehen, ob du noch da bist oder nicht, wenn ich wiederkomme.“
Seine letzten Worte versetzen mich in Wut. „Das ist es also? So einfach lässt du mich gehen? Du startest noch nicht einmal den Versuch, um mich zu kämpfen?“
„Kämpfst du denn um mich?“
Ich antworte nicht, starre ihn nur betroffen an.
Er nimmt seinen Wohnungsschlüssel vom Haken, geht aus der Haustür und zieht sie hinter sich zu.
*
Ich beuge mich zurück, um der Schaukel Schwung zu geben. Obwohl die rostigen Metallstreben knarren, erfüllt mich das Wiegen mit einem Zauber, der mich für den Moment in die Vergangenheit zurückkatapultiert.
Ich bin auf dem alten Spielplatz, an den sich kaum jemand erinnert, da er schon lange verfallen ist. Ich bin wieder acht Jahre alt und schaukle mit Ethan um die Wette. Meine Locken werden vom Wind zerzaust, und ich versuche, den Zipfel des Flusses zu sehen. Ich muss nur hoch genug kommen …
Feine Schneeflocken tanzen mir um die Nase, und eine eisige Bö trifft mich. Dieses Jahr ist der Winter in Irland alles andere als mild.
Seufzend halte ich die Schaukel an und knöpfe mir den Kragen meiner Jacke zu. Schritte lassen mich aufmerksam werden. Rasch wische ich mir die Tränenspuren fort und schaue hinter mich. Ethan kommt die Anhöhe hinauf.
Natürlich. Ethan kennt diesen geheimen Ort genauso gut wie ich – unseren Ort.
„War klar, dass du mich findest.“ Ich gebe der Schaukel wieder einen Schubs und lehne mich zurück. Vor und zurück.
„Deine Mum sagte mir, dass du bei Thomas ausgezogen bist.“ Ethan wirft mir einen ernsten Blick zu. „Mit all deinem Hab und Gut.“
„Was nicht besonders viel ist, wie ich jetzt weiß.“
Er setzt sich, wie so oft, auf den flachen Felsen vor mir. Die zweite Schaukel gibt es leider nicht mehr. Sein braunes Haar ist kurz und doch vom Wind zerzaust, der Dreitagebart, der so typisch für ihn ist, kommt mir ungewöhnlich lang vor.
„Was ist los, Sínead?“
Abrupt stoppe ich die Schaukel. „Ich bin wieder Single“, sage ich leise.
Ich versuche, in seinem Gesicht eine Regung zu lesen, aber Ethan ist ein Meister darin, seine wahren Gedanken nicht preiszugeben.
Mein Smartphone klingelt, wie schon fünfmal zuvor. Dazu gesellen sich in kurzen Abständen mehrere Kurznachrichten.
„Willst du nicht rangehen?“
Ich schüttle den Kopf, nehme einen tiefen Atemzug. „Ich habe unsere Beziehung angezweifelt, und er stellte mich vor die Wahl.“ Ich stocke, mir sitzt ein Kloß im Hals, der mich am Weiterreden hindert.
„Vor welche Wahl?“, fragt Ethan schlicht.
Ich blinzle die aufkeimenden Tränen fort und begegne seinem Blick. „Heiraten oder gehen.“
Nun zeigt sich Überraschung in seinem Gesicht.
„Deshalb bin ich … na ja …“
„Gegangen.“
„Ja.“
Erneut ertönt mein Handyklingelton, den ich ignoriere.
„Trotzdem ruft er immer wieder an?“
„Telefonterror trifft es wohl eher. Thomas hat geschrieben, er hätte das nicht ernst gemeint. Angeblich wollte er mich nur aufrütteln. Ich glaube, er sucht mich.“ Mir huscht ein Lächeln übers Gesicht. „Aber unseren alten Spielplatz kennt er nicht.“
Ethan antwortet nicht, betrachtet nur still die Umgebung. Auch ich sehe mich um.
Himbeersträucher überwuchern den Weg zu den Häusern. Um das Dickicht zu überwinden, müssen wir auf die Eiche klettern, deren Eichel Ethan und ich eingepflanzt haben, als wir sechs waren. Der Baum ist über zwanzig Jahre alt. Auf den kahlen, knorrigen Ästen verfangen sich feine Schneeflocken.
Ich stehe auf und geh die Anhöhe hinauf. Ethan folgt mir wortlos.
Die Wolken hängen so tief, sie scheinen den Boden berühren zu wollen. Dunst schleicht über die Wiese, die nur von einer Trockenmauer begrenzt ist. Ansonsten sehe ich die Häuser Galways, die sich eng aneinanderschmiegen. Von hier oben kann ich ein Stück weit dem Lauf des Flusses folgen, der vom Lough Corrib bis in die Galway Bay mündet. Der See und das Meer sind untrennbar durch den kürzesten Fluss Europas miteinander verbunden.
Als Ethan meine Hand nimmt, spüre ich unsere Verbindung. Er ist mein bester Freund und etwas Besonderes. Egal, wer an meiner Seite ist, wen ich küsse, neben wem ich aufwache. Die Welt wird ein bisschen heller, wenn Ethan anruft, auf mich zukommt, mit mir lacht. Ich kann einfach nichts dafür, es war schon immer so.
„Warum bist du gegangen, Sínead?“, fragt Ethan leise, ohne mich anzusehen.
„Ich … ich war unglücklich. Die Vorstellung, mit Thomas ein Leben lang zusammenzubleiben … kam mir so falsch vor.“ Ich suche seinen Blick, und er schaut mir in die Augen. „Ich hatte gar nicht vor, Schluss zu machen. Ich wollte mit ihm darüber reden, aber er …“
„Stellte dich vor die Wahl.“
„Vielleicht war das ja gut so. Als er einfach aus der Wohnung ging, mich aufgelöst stehen ließ, da wusste ich, mein Platz ist woanders, nicht bei ihm.“
Wieder klingelt das Handy.
„Magst du nicht doch mal rangehen?“
Ich schüttle stur den Kopf und schalte das Gerät aus. „Höchstwahrscheinlich wird er nachher bei meinen Eltern aufkreuzen.“
„Du hättest auch zu mir flüchten können.“
Ich lache leise. „Du wohnst in einer winzigen Wohnung, mit einem Einzelbett, und hast nicht mal eine Couch.“
„Ich habe zwei sehr gemütliche Sessel.“
„Thomas hasst dich. Du weißt, wie eifersüchtig er auf dich ist.“
„Oh ja, das weiß ich. Aber deswegen hättest du bei mir ganz sicher deine Ruhe vor ihm. Falls du das möchtest.“
Ethan lebt in dieser kleinen Wohnung, weil er sich scheut, in sein Elternhaus zu ziehen. Seine Mutter ist schon länger tot, aber der Verlust seines Vaters ist noch zu frisch.
„Thomas würde die falschen Schlüsse ziehen, wenn ich bei dir unterkäme.“
„Du ziehst also wieder in dein altes Kinderzimmer.“
„Es bleibt mir vorerst nichts anderes übrig.“ Ich fahre mir durch die hellbraunen Haare. „Das heißt also: herzlich willkommen im Chaos.“
„So schlimm sind sie nicht.“
„Ach nein?“, erwidere ich amüsiert. „Meine Mum ist die größte Tratschtante Irlands, ich habe einen Hippie als Dad, und meine Schwester hat jede Woche eine andere Haarfarbe. Nicht zu vergessen meinen kleinen Bruder, der den Mann fürs Leben sucht und von einem Desaster ins nächste rasselt.“
„Wusstest du, dass Fergus mich mal gefragt hat, ob ich bi bin?“
„Was? Ist nicht dein Ernst!“
„Doch. Ist aber schon zwei Jahre her“, antwortet Ethan mit einem Schmunzeln.
Mein Bruder hat sich für Ethan interessiert? Wie kommt er nur darauf, dass mein bester Freund Männern zugeneigt sein könnte? Ich werfe Ethan einen Seitenblick zu, doch der scheint mit den Gedanken schon woanders zu sein.
Die Flocken gehen in Schneeregen über, auf der Böschung wird es ungemütlich. Wir flüchten bis zu unserer Eiche, wo wir uns notdürftig unterstellen. Ich bemerke, dass Ethan meinem Blick ausweicht.
„Erwägst du denn, zu Thomas zurückzugehen? Trotz allem?“, will er plötzlich wissen.
Ich seufze leise. „Ich habe überlegt, ob ich noch einen Versuch wage. Immerhin sind wir vier Jahre zusammen gewesen. Aber ich bin ehrlich. Ich hätte lieber eine Auszeit.“
„Das kann ich gut verstehen.“
„Und was ist mit dir?“, wechsle ich bewusst das Thema, weil ich diesem grad sehr gerne ausweichen will. „Wen hast du dieses Mal an der Angel? Immer noch die hübsche Megan?“, frage ich betont flapsig, obwohl in mir ein komisches Gefühl aufkeimt, das ich nicht recht einordnen kann.
„Nein, die geht schon seit Wochen ihre eigenen Wege.“
„Wieso weiß ich das nicht?“
„War nicht wichtig.“
Ethan ist ein Mann, der nur schwer alleine bleiben kann. Dennoch hält er es nie sehr lange mit einer Frau aus.
„Vielleicht solltest du es doch mal mit Fergus versuchen.“
Für einen Wimpernschlag sieht er mich entsetzt an, dann schnauft er belustigt. „Sicher nicht. Ich stehe nicht so auf Jungs.“ Aber dann wird er ernst. „Sínead, ich werde bald für eine Weile nicht zu Hause sein.“ Er sagt das mit einem seltsamen Unterton, und irgendwie zwickt mich das direkt.
„Wo gehst du denn hin?“
„Ich muss für Sylvie eine Tour ausprobieren. Sie will im Sommer mal was Abenteuerliches anbieten, weil da wohl öfter nach gefragt wird.“
Sylvie Tenner ist Ethans Chefin und arbeitet in der Touristikbranche. Ich frage mich, was diese Frau nun wieder ausheckt. Sie hat die wildesten Ideen, und Ethan muss als Reiseleiter austesten, ob ihre Pläne überhaupt Sinn machen. Er arbeitet in Galway in einer Travel Agency, die mit ausländischen Reisebüros kooperiert.
„Und wo wird es dich hinführen?“
„Runter nach Kerry und weiter in den Osten, den Abschluss der Tour muss ich noch austüfteln. Sylvies Vorstellungen sind mir etwas zu … na ja … chaotisch.“
„Na, das ist ja nichts Neues.“
Es hat aufgehört zu regnen, also schlendern wir über die verwilderte Wiese, klettern über einen verfallenen Zaun und laufen durch einen Hinterhof voller Gerümpel, um zurück zum Fluss zu kommen. Wir überqueren die Brücke des Corrib und sind nach einigen Minuten in der mir so vertrauten Gegend.
Mum und Dad wohnen direkt auf einer der kleineren Einkaufsstraßen von Galway. Ihr Souvenirgeschäft befindet sich im Erdgeschoss des Gebäudes aus grauem Backstein, welches sich eng an die anderen Reihenhäuser schmiegt. Die Fensterläden und die Tür hat Dad karminrot angestrichen. Damit wir auch gesehen werden, hat er damals meiner Mum erklärt, die entsetzt von der knalligen Farbe war. Seitdem fügt sich mein altes Zuhause – nein, mein aktuelles Zuhause – viel besser in die Umgebung ein, denn die Fassadenfarben der Nachbarn reichen von Giftgrün bis hin zu Violett oder Hellblau. Nicht zu vergessen das Haus der O’Riordans, die ihre zitronengelbe Wand mit einer Efeuzeichnung verziert haben.
Vor dem Haus meiner Eltern werde ich von unserem lockeren Gespräch wieder in die Wirklichkeit gerissen, denn ich höre Thomas’ Stimme aus dem gekippten Küchenfenster im ersten Stock. Mein Herz klopft mir bis zum Hals. Was soll ich ihm sagen?
„Ich glaube, es ist besser, wenn ich gehe“, sagt Ethan leise.
„Okay“, flüstere ich.
Ich zwinge mich, Ethan nicht nachzuschauen, schließe die Eingangstür auf und gehe in den Flur. Der Duft nach irischem Apfelkuchen weht mir entgegen, und für einen Moment überkommt mich Wehmut. Meine Familie mag chaotisch sein, aber es sind die liebenswertesten Menschen auf der Welt.