Читать книгу Galway Girl Gesamtausgabe - Tanja Bern - Страница 16

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Unser Weg führt uns auf und ab, durch tiefe Wälder und gerodete Baumflächen. Die Strecke ist kein Vergleich zu dem Aufstieg vom letzten Tag, aber die ungefähr vierzehn Kilometer lange Strecke verlangt mir einiges ab, weil mein Knie nicht so mitmacht, wie ich es mir wünsche.

Wir tauchen in einen Laubwald ein. Ich rieche das umliegende Torfmoor, genieße die Ruhe des winterlichen Waldes. Mir fehlt das Blattwerk in den Kronen, deshalb richte ich meinen Blick auf die glitzernden Steine, die zwischen dem Laub liegen. Einige besonders schöne nehme ich als Andenken mit.

Der Wind schiebt nur vereinzelte Wolken nach Westen, dazwischen erinnert der Himmel an einen Aquamarin. Die Sonne erhellt unseren Weg, lässt die eigentlich braunen Blätter am Boden rotgolden aufflammen. Trotz der leichten Schmerzen im Knie genieße ich die Wanderung.

Ethan weicht nun vom Weg ab und führt mich auf einen unscheinbaren Trampelpfad, der mir gar nicht aufgefallen wäre. Dieser Pfad schlängelt sich um die Bäume, führt eine Anhöhe hinauf. Eine Lichtung öffnet sich vor uns, und die Oberfläche des darin liegenden Sees funkelt silbern im Tageslicht. Große Felsen säumen das Wasser. Ob das der Lower Lake von Glendalough ist? Wir laufen am Ufer entlang, bis sich das Gewässer zu einem Flusslauf verengt.

Der berühmte Rundturm taucht vor uns auf. Ich verharre kurz, schaue mit einer gewissen Ehrfurcht zu der Sehenswürdigkeit. Als die Wikinger Irland immer wieder überfielen, wurden die religiösen Reliquien von den Mönchen in solchen Türmen verborgen, denn der Eingang ist an die drei Meter hoch und nur mit einer Leiter zu erreichen. Manchmal mochten diese Gebäude zudem sicher auch einen Schutz geboten haben. Ich stelle mir vor, wie die blonden Hünen ärgerlich vor dem Turm stehen und ihnen der Weg zu den Schätzen verwehrt bleibt.

„Kommst du, Sínead?“

Ich bin in Gedanken immer noch bei den Wikingern, wir nähern wir uns der St. Kevin’s Church. Die alte Kirche erscheint mir wie ein Ruhepol, eine Bewahrerin dieses Ortes, ganz anders als der Turm, der für mich etwas Kriegerisches ausstrahlt. Vielleicht geht auch nur meine Fantasie mit mir durch. Die Nachmittagssonne beleuchtet das steinerne Kirchengebäude von der Rückseite, sodass die Vorderseite in Schatten getaucht ist. In den Strahlen bildet sich leichter Dunst, der von den Wiesen aufsteigt.

Als kämst du gerade aus einer anderen Zeit.

Obwohl das Licht mit einem warmen Goldton scheint, blendet es mich. Ich trete näher, berühre die kalten Mauern, ertaste das Moos in den Spalten. Ich fröstle ein wenig und nehme wieder Abstand.

Wir gehen langsam an den schief stehenden Grabsteinen vorbei. Vor einem keltischen Hochkreuz bleibe ich stehen. Ich muss zu ihm aufsehen, blinzle gegen die Sonne an. Das steinerne Monument strahlt etwas aus, das mich innehalten lässt. Zögerlich lege ich meine Hand auf die verschlungenen Verzierungen. Die Kühle des Steins durchdringt meine Haut. Ich schließe die Augen, bin der Vergangenheit dieses Ortes plötzlich ganz nah.

„Kennst du das Märchen?“, fragt Ethan leise.

Eine Empfindung, die wie eine kleine Flamme in mir emporschießt, erfasst mich. „Das Märchen von Aeslin?“, antworte ich ergriffen.

„Von Aeslin, dem Waldgeist ...“

„Verbunden mit Wurzel und Blatt …“

„Verborgen im lebenden Stamm …“, raunt er.

„Schimmernd im Mondlicht, inmitten des Lebens …“

Ich spüre, wie er seine Hand auf meine legt. Mir rieselt ein Schauer über die Haut, als er mit samtener Stimme weitererzählt.

„Ich kenne sie eine Ewigkeit, sehe sie von Baum zu Baum springen, in ihrem weißen Kleid. Nur der vermag sie zu sehen, der reinen Herzens ist. Kein Tier ist in Furcht, wenn ihr sanfter Windzug es erfasst. Was spürst du, wenn sie an dir vorbeizieht?“

Ethan ist so nah, dass ich seine Wärme spüre. Ich lehne mich mit dem Rücken an ihn. „Was fühle ich in ihrer Nähe?“, frage ich und führe unser Märchen fort. „Sie berührt mein Herz wie mit einem zarten Kuss. Ich rufe sie bei ihrem Namen, doch sie hält niemals inne, bewahrt den Wald mit ihrem geheimen Zauber, der niemals erlischt.“

Ich öffne die Augen, Tränen verschleiern meine Sicht. Ich drehe mich um, schmiege mich in Ethans Arme. „Du kennst es noch“, wispere ich.

„Sínead, aber natürlich.“

Es war ein Schulprojekt in der zehnten Klasse gewesen. Ein poetisches Märchen sollten wir uns ausdenken, und wir erschufen Aeslin, den Waldgeist. So wie jetzt lasen wir abwechselnd vor, und als wir endeten, hörte man keinen Laut in der Klasse, es herrschte Totenstille. Die anderen sahen uns an, als seien wir selbst zu Geistern geworden. Unser Lehrer brachte anfangs kein Wort hervor.

Hier im Tal der zwei Seen rezitierten wir nur den Beginn einer Abenteuerreise, in der Aeslin verzweifelt darum kämpft, den Wald in Irland zu retten. In dem Märchen sind Ethan und ich ein Teil dieser Geschichte. Von jeher ist sie etwas Besonderes für mich, ein Leitstern, der mich früher immer daran glauben ließ, dass hinter dem Sichtbaren noch mehr wartet. Hier am Hochkreuz von Glendalough, in Ethans Armen, spüre ich es wieder, als sei ein Funken in mir wiedererweckt worden.

„Ich liebe dich auch, Ethan … schon immer“, gestehe ich endlich.

*

Wir sind in einer kleinen Pension in der Nähe des Flusses eingekehrt. Unser Zimmer ist wunderschön. Besonders geformte Holzbalken zieren die weiße Decke, die Einrichtung wirkt antik. Gedämpftes Licht beleuchtet das Zimmer.

Jegliche Furcht ist verschwunden, ich verstehe endlich, was all die Jahre in mir vorgegangen ist.

Ich habe immer nur Ethan geliebt.

Ich ziehe ihn an mich und küsse ihn. Zum ersten Mal verspüre ich keinerlei Scheu, nur eine Sehnsucht, die ich kaum bändigen kann. Wir werfen unsere Winterjacken über einen Stuhl, können kaum die Finger voneinander lassen.

„So viel Kleidung“, murmelt er, als wir uns nacheinander aus unseren dicken Sachen schälen.

Ich lache befreit auf.

Endlich spüre ich seine warme Haut unter meinen Händen. Nie zuvor habe ich mich derart entfacht gefühlt. Unser Kuss lässt mich die Beherrschung verlieren. Ich möchte ihm näherkommen, denn Küsse genügen nicht! Atemlos sehe ich ihn an, weiß nicht, wie ich es ihm sagen soll.

Doch Ethan lächelt nur und fasst sanft in mein Haar, zieht mich zurück an seine Lippen. Ich begreife, dass ich keine Worte brauche. Als ich die Bettkante an meinen Beinen spüre, lasse ich mich nach hinten fallen, nehme Ethan einfach mit mir.

Sein Atem lässt mich erschaudern, als seine Lippen tiefer wandern. Ich lasse meine Hände über seinen Rücken streichen, wölbe mich ihm entgegen. Ethan hält inne, sieht mich mit einem Lächeln an. Ich frage mich, was dieser Blick bedeutet …

Er fasst mich an der Taille, wirbelt mich mit Schwung herum. Überrascht sehe ich nun zu ihm herunter, denn er hat mich kurzerhand auf seinen Schoß gehoben. Das gefällt mir!

„Du bist nicht der Typ, der brav unten liegt, oder?“, fragt er schelmisch.

Ich kann mir ein Schmunzeln nicht verkneifen und lege besitzergreifend meine Hände auf seine Brust. „Nicht wirklich.“

Er richtet seinen Oberkörper auf, kommt mit mir in eine sitzende Position. Ich greife in sein Haar, nehme mir einen wilden Kuss. Seine Hände umfassen meinen Po, er zieht mich auf dem Schoß noch näher zu sich heran. Mit beiden Armen umschlinge ich ihn, und er vergräbt sein Gesicht zwischen meinen Brüsten.

Ethan lässt eine Flamme in mir emporlodern, und das allererste Mal dämpfe ich sie nicht. Ich vertraue ihm so sehr, dass ich mich völlig fallenlasse.

So sehr fürchtete ich, eine echte Beziehung könnte unsere Freundschaft zerstören. Nun erkenne ich, dass wir in jeder Hinsicht zusammengehören.

Unsere Berührungen werden intensiver, und ich kann mich nicht mehr zurückhalten, möchte einfach nur mit ihm vereint sein.

Ethan umfasst zärtlich mein Gesicht, küsst mich innig … und erfüllt mir meinen Wunsch.

„Ich habe jetzt keine Angst mehr“, flüstere ich.

Ich liege in Ethans Armen, den Kopf auf seiner Brust gebettet. Sein Herzschlag pocht gegen meine Handfläche.

Sachte hebt er mein Gesicht an, damit ich ihn ansehen kann. „Ich wusste nicht, dass du Angst davor hattest.“

„Nicht davor. Sondern was es auslösen könnte.“

Er fährt mir durchs Haar. „Und was hat es in dir ausgelöst?“

Ich lache leise. „Wenn ich das nur in Worte fassen könnte.“ Langsam richte ich mich auf. „Eines weiß ich jetzt. Ich möchte nie wieder ohne dich und diese Nähe sein.“

Ethan nimmt die Hand aus meinen Locken, streicht mir über die Wange. „Das musst du nicht, Sínead. Ich bin da, wenn du mich nur willst.“

Ich hauche ihm einen Kuss auf die Lippen.

„Vor dieser Reise … hattest du da immer die Hoffnung, mit mir zusammenzukommen?“

„Früher ja. Aber nicht mehr seit Thomas und eurer Verlobung. Erst als du dich getrennt hast.“

„Du hast nie auch nur eine Andeutung gemacht! Ich fühlte mich manchmal so … zerrissen. Aber woher es kam, konnte ich nicht ergründen. Ich … ich hatte es so tief vergraben.“

„Aber warum?“

„Weil ich immer annahm, wir sind beste Freunde auf ewig, aber nicht mehr.“

„Du ahnst kaum, wie sehr es mich erleichtert, dass es nicht nur das ist.“

Ich lege meine Hand auf seine nackte Brust, seufze leise. „Thomas wird toben, wenn er das erfährt.“

„Er beeinflusst dich immer noch“, murmelt Ethan.

Ich hebe den Kopf, suche seinen Blick. „Nein, das tut er nicht.“

„Wieso würde es dich dann stören?“

„Weil er in ganz Galway rumerzählen wird, dass ich ihn wegen dir verlassen habe.“

„Aber stimmt das denn nicht?“

„Du weißt, wie sie die Geschichte in den Pubs weiterspinnen würden. Als nächstes spricht sich herum, ich wäre fremdgegangen und …“ Ich realisiere plötzlich, was er gesagt hat und verliere völlig den Faden. Seine Frage wirft mich aus der Bahn. Sprachlos starre ich ihn an. Habe ich Thomas wirklich für Ethan verlassen? Dass ich Ethan auf diese Art liebe, ist mir doch erst auf dieser Reise klar geworden.

Er sieht mich an, Unsicherheit spiegelt sich in seinem Gesicht wider. Er verdient die Wahrheit, aber ich brauche einen Augenblick, um sie in vernünftige Worte zu fassen.

„Da waren noch andere Gründe, die mich zu der Trennung veranlasst haben. Ich habe mich manchmal unterdrückt gefühlt, und wir hatten so unterschiedliche Ansichten. Vieles, was ich getan habe, missfiel ihm, weil er es nicht verstehen konnte. Das tat mir weh, weil ich mich dadurch nicht geschätzt gefühlt habe und mich innerlich immer mehr von ihm entfernte.“

Meine Erklärung trifft ihn, ich sehe es ihm an, und seine Enttäuschung sticht mir wie ein Stachel ins Herz.

„Aber du hast auch recht“, fahre ich fort. „Unbewusst habe ich den Schritt auch wegen dir gewagt, denn Thomas konnte die leere Stelle in meinem Herzen einfach nicht ausfüllen, im Gegenteil, sie vergrößerte sich in unserer Beziehung. Denn dieser Teil gehörte immer nur dir. Zumindest das kann ich jetzt mit Sicherheit sagen. Es wäre trotzdem zu einfach, ihn glauben zu lassen, er wäre völlig schuldlos an unserem Scheitern. Verstehst du, wie ich das meine?“

Ethans Gesicht ist ein offenes Buch für mich. Er begreift es. „Diese leere Stelle“, sagt er leise, „die kenne ich auch.“

Mit meinem Zeigefinger fahre ich liebevoll seine Gesichtszüge nach. „Und wie fühlt sie sich gerade an?“

Er zieht mich zu sich und küsst mich, bis ich mich von ihm löse, weil ich eine Antwort verlange.

„Sie ist das erste Mal ausgefüllt.“

„So geht es mir auch.“

Ethan schnauft belustigt auf. „Du schaffst es sogar, dass ich romantisches Zeug rede.“

„Was wirklich ungewöhnlich ist für den Adventure Man.“

Er seufzt leise, verschränkt die Arme hinter den Kopf.

„Woran denkst du?“

„Dass wir unsere Beziehung vorerst verbergen müssen, damit Thomas keine falschen Schlüsse zieht.“

„Sei mir bitte nicht böse deswegen.“

„Bin ich nicht. Aber ich …“ Er verzieht das Gesicht. „Es tut mir leid, aber ich hasse diesen Kerl.“

„Glaub mir, das beruht auf Gegenseitigkeit.“

„Alles andere hätte ich auch nicht ertragen“, grummelt Ethan. „Man stelle sich vor, ich hätte mit ihm Fußball gucken müssen oder so.“

Diese Vorstellung ist tatsächlich undenkbar.

Ich erlebe Ethan das erste Mal offen eifersüchtig. Ich bin ein wenig verwundert, doch seine Reaktion belebt ein seltsames Gefühl in mir, das ich nicht recht einordnen kann. Eine Empfindung, die mir zuflüstert, dass es mir gefällt, weil es zeigt, wie wichtig ich ihm bin.

Ich glaube, es ist besser, wenn wir das Thema wechseln. Aktuell möchte ich vor allem Thomas aus meinen Gedanken wieder verbannen.

„Reden wir von unserer Tour. Wo führst du mich als nächstes hin?“

„Ich denke, wir machen morgen einen Abstecher zum Lough Tay.“

„Und welchen Weg wählst du? Gehen wir den Wicklow Way entlang?“

„Ach, das wäre ja nichts Besonderes. Querfeldein ist meine Devise.“

„Das dachte ich mir schon.“

„Moment. Du versuchst mich abzulenken.“

Ich versuche mich an einem süßen Lächeln. „Klappt doch, oder?“

„Nur bedingt.“

„Soll ich was anderes versuchen.“

„Ja, bitte.“

Wir kichern wie früher als Kinder. Ich stehle mir einen Kuss und lasse meine Hand tiefer wandern, bis er kurz nach Luft schnappt.

„Wäre das … eine angemessene Ablenkung?“

*

Der See liegt wie ein dunkelblauer Spiegel vor uns. Jede Wolke am Himmel besitzt ein Ebenbild auf der ruhigen Oberfläche des Gewässers. Fasziniert betrachte ich die klaren Bilder auf dem Wasser.

„Als gäbe es einen zweiten Himmel im See“, sage ich zu Ethan, der neben mir steht.

Ich wende mich ihm zu. Er beobachtet mich, die wunderschöne Landschaft scheint er nicht wirklich wahrzunehmen.

„An was denkst du, wenn du mich so ansiehst?“

Ethan lächelt auf eine besondere Art, und ich kann ausnahmsweise nicht sagen, was in ihm vorgeht. Diesen Gesichtsausdruck kenne ich nicht von ihm. Unsere neue Beziehung bewirkt, dass wir emotional alle Hüllen fallen lassen. Ich entdecke Seiten an ihm, die ich nie erwartet hätte, und diese Erkenntnis lässt mein Herz höherschlagen.

Sein Blick schweift über den Lough Tay, den man auch Guinness-Lake nennt, weil der Talbereich das Eigentum der Guinness Familie ist. Ich glaube, der See wird aber aus einem anderen Grund so genannt. Denn wie das irische Bier ist das Gewässer außergewöhnlich dunkel, und der helle Strandbereich im Norden stellt die Schaumkrone dar.

„Ich denke gerade“, beginnt Ethan, „wie passend es wäre, jetzt ein kühles Guinness zu trinken.“

„Das hat also der versonnene Gesichtsausdruck bedeutet“, sage ich amüsiert.

„Naja, um ehrlich zu sein, hab ich mir vorgestellt, wie wir in zwanzig Jahren wieder hier stehen, mit einem Guinness in der Hand.“

„Und was feiern wir dann?“

„Diese Reise …“

„… die uns zusammengeführt hat“, erkenne ich.

Ethan nimmt meine Hand, und wir lauschen gemeinsam dem Wind, der über die Wicklow Mountains weht. Die Brise zerstört das Spiegelbild des Lough Tay und lässt seichte Wellen ans Ufer plätschern.

„Magst du heute Abend in einen Pub gehen?“

„In Enniskerry?“

Ethan bejaht meine Frage, und ich stimme erfreut zu. Ich bin so lange nicht mehr abends in einem Pub gewesen.

Wir wandern am See entlang, bis wir auf den Wicklow Way gelangen. Die Strecke ist wesentlich leichter als die Bergtour, meinem Knie geht es besser, und ich überlege, wo uns Ethans Tour noch hinbringen wird. Diese Winterreise ist etwas Besonderes. Immer mehr fühlt es sich wie mein eigener Pilgerweg an, dessen Strecke ich mir gedanklich so oft ausgemalt habe. Auch wenn ich die Wanderungen damals sehr glorifiziert und die Strapazen der Bergwege völlig unterschätzt habe, heute genieße ich die Tour, obwohl sie mich manches Mal an meine Grenzen bringt. Diese Zeit mit Ethan wird mir unvergesslich bleiben.

Am Powerscourt Wasserfall machen wir eine Pause, um unsere Vesper zu essen. Das Gefälle ist wegen der regnerischen Tage gewaltig. Auf den meisten Fotos sieht man das Wasser immer geteilt über den Felshang fließen. Jetzt rauscht ein breiter Strom wie ein Sturzbach über das Gestein. Gischt spritzt in alle Himmelsrichtungen. Wir müssen gebührenden Abstand halten, um nicht nass zu werden.

Lange halten wir uns nicht auf, denn wir wollen vor Einbruch der Dunkelheit in Enniskerry sein.

Als die Dämmerung naht, kommen die ersten Häuser in Sicht. Ich atme erleichtert auf.

„In den nächsten Tagen kannst du dich etwas ausruhen. Wir werden mit dem Land Rover gen Norden fahren.“

„Ich kann nicht sagen, dass ich darüber unglücklich bin.“

Ethan lacht leise und fängt mich auf, als ich im Zwielicht über eine unebene Stelle stolpere.

„Wo übernachten wir heute?“, frage ich, um schon mal zu wissen, worauf ich mich einstellen kann.

„Ich habe für uns eine eher familiäre Unterkunft ausgesucht. Die alte Betty und ich kennen uns recht gut, und sie weiß, dass wir heute kommen. Es sei denn, du möchtest lieber ins Summerhill House Hotel, um ein bisschen im Luxus zu schwelgen.“

„Luxus, hm. Erzähl mir mehr.“

„Wir kommen gleich dran vorbei, du kannst es dir ansehen.“

„Und Betty?“

„Wird es verstehen. Ich ruf sie einfach noch mal an.“

„Okay. Aber bevor wir in den Pub gehen, brauche ich auf jeden Fall eine Dusche, ich rieche wie eine Stinkmorchel.“

„Ach, das stimmt doch gar nicht, Sínead.“

„Du merkst es nur nicht, weil du genauso riechst.“

„Komm her, ich muss das nachprüfen.“

Ethan zieht mich an der Hand zu sich heran und küsst mich, verweilt aber nicht auf meinem Mund. Seine Lippen wandern zu meinem Ohr, und ich kichere wie ein kleines Mädchen, weil ich dort furchtbar kitzelig bin.

„Ich finde, du duftest wunderbar.“

„Aber nur am Ohr.“

„Ich muss meine Nase also woanders reinstecken?“

Seine Wortwahl lässt mich belustigt auflachen. Ich knuffe ihn gegen den Oberarm. „Du verrückter Kerl.“

„Mit mir wird es auf jeden Fall nie langweilig“, erwidert er und raubt mir noch einen wilden Kuss.

Nach einem ausgiebigen Moment der Zärtlichkeiten führt Ethan mich wieder querfeldein und ignoriert die Straßen, bis wir vor einem offenen Eisentor stehen, das idyllisch zwischen Bäumen eingerahmt ist.

Das Summerhill House Hotel wirkt mit seinen hohen Fenstern, der hellen Fassade und dem turmähnlichen Vorbau wie ein wunderschönes Herrenhaus. Wir gehen hinein, und ich schaue auf ein elegantes Foyer, das einer Prinzessin würdig wäre. Ich bleibe stehen und tauche in die Atmosphäre des Hauses ein. Manchmal brauche ich dieses besondere Erspüren von Orten. Es hilft mir zu entscheiden, ob ich mich wohl fühlen werde.

Sachte schüttle ich den Kopf. Mit meinen Wandersachen fühle ich mich hier fehl am Platz, so sehr mich eine Übernachtung in diesem Hotel auch lockt.

„Irgendwann möchte ich von dir noch mal hierher entführt werden. Aber nicht heute. Bring mich zu Betty.“

Ethan nimmt wortlos meine Hand, und wir verlassen das Hotel wieder.

Enniskerry ist eher dörflich, nicht mit Galway zu vergleichen, ich mag es jedoch sofort. Ich hätte gedacht, wir treffen im Dezember auf menschenleere Straßen. Stattdessen finden wir einen Ort voller Lichter und freundlichen Menschen vor, die uns grüßen, als seien wir Freunde. Weihnachtsbeleuchtung funkelt in fast jedem Fenster der kleinen Einkaufsstraße, und das erste Mal in diesem Winter kommt bei mir festliche Stimmung auf.

Ich lächle versonnen, denke an das bevorstehende Weihnachten. Ohne Thomas, aber mit Ethan. Der Gedanke erfüllt mich mit einer unbändigen Freude.

Unsere Unterkunft entpuppt sich als ein familiäres Bauernhaus, das scheinbar kein offizielles B&B ist. Die Haustür ist nicht verschlossen, also gehen wir in die Stube.

Der Duft von süßen Pfannkuchen strömt mir entgegen. Ich schnuppere genießerisch.

„Man könnte ja meinen, die Hausherrin weiß genau, was du liebst“, sagt Ethan mit einem verschwörerischen Lächeln und zwinkert mir zu.

„Jetzt sag bloß, du hast ihr gesagt, sie soll die Pfannkuchen deiner Mum machen?“

„Es ist eher so, dass meine Mum das Rezept damals von Betty hatte. Und ja, ich habe mal erwähnt, wie gern du sie früher gegessen hast.“

„Wer ist Betty wirklich? Und warum kenne ich sie nicht?“

Ethan lacht vergnügt auf. „Du denkst, du kennst meine ganze Verwandtschaft? Die Clarkes sind überall verstreut, ich habe sogar einen Onkel in Schottland.“

„Ja, von dem hab ich gehört, aber nicht von Betty.“

„Sie ist meine Großtante. Mein Dad und sie hatten sich überworfen, ich weiß gar nicht mehr, was da vorgefallen ist. Ich habe wieder Kontakt zu ihr, seit … na ja … seit Dads Tod.“

Ich halte ihn zurück, schaue ihm in die Augen. „Ethan, wie lange planst du schon, diese Tour mit mir zu machen?“

„Ach, eine Weile schon.“

„Also war es nicht die Idee deiner Chefin?“

„Doch, aber Sylvie lässt mir freie Hand. Und ich dachte, ich könnte die Arbeit mit etwas Angenehmem verknüpfen … Zeit mit dir zu verbringen.“

„Was hättest du getan, wenn ich noch mit Thomas zusammen gewesen wäre?“

Er überlegt nur kurz. „Ich hätte dich trotzdem gebeten, mitzukommen.“

„Aber ...“

„Sínead, ich beobachte seit Monaten, wie du immer stiller wirst. Nie zuvor habe ich dich so unglücklich erlebt, und es ist mir ein Rätsel, wie Thomas das ignorieren konnte.“

„Er hat es nicht mal bemerkt“, antworte ich leise. Es tut weh. Wir stehen hier im Flur von Tante Betty, und ich muss wirklich darum kämpfen, die Fassung zu wahren. Ethans Blick scheint mich zu durchdringen, als könne er jedes Gefühl mitempfinden. Er streift sich den Rucksack ab, nimmt mir meinen von den Schultern und zieht mich in seine Arme. Ich verberge das Gesicht an seiner Brust und schluchze unterdrückt auf.

„Ich hatte vor, dich auf dieser Reise wieder etwas aufzuwecken. Wenn ich ehrlich bin, habe ich schon vor deiner Trennung gehofft, ich könne dich irgendwie für mich gewinnen.“

Ich hebe das Gesicht an, umfasse seins mit den Händen und küsse ihn sanft.

„Du bist mir nicht böse, wegen meines perfiden Plans?“

„Weil du mich aus einer lieblosen Beziehung retten wolltest?“

„Wenn du es so sagst, hört es sich eher heldenhaft an.“ Er streicht mir übers Haar. „Aber gerettet hast du dich schließlich ganz allein.“

Tante Bettys Pfannkuchen schmecken wunderbar und wecken Erinnerungen an früher. Ich fühle mich in meine Kindheit zurückversetzt, wie ich bei Ethan zu Hause zu Mittag gegessen habe. Zuerst albern wir herum, sehr zum Vergnügen von Ethans Großtante, die unseren Besuch zu genießen scheint.

Doch nun ist Ethan sehr still. Ich sehe, dass er tief in Gedanken versunken ist. Traurigkeit zeichnet seine Züge, während er ohne hinzuschauen den Pfannkuchen isst, den seine Mum uns früher so oft zubereitet hat. Ich weiß, dass er an sie und seinen Dad denkt. Ethan ist der jüngste von vier Geschwistern, und seine Eltern waren wesentlich älter als meine. Als seine Mum vor vier Jahren an Krebs starb, stürzte Ethan in ein tiefes Loch, aus dem ich ihm nur mit Mühe wieder heraushelfen konnte. Den kürzlichen Tod seines Vaters jedoch hat er noch nicht verarbeitet. Er verdrängt es, weigert sich sogar, sein Elternhaus zu betreten, um nicht mit der Einsamkeit konfrontiert zu werden.

Tante Betty kommt zurück in die Küche geschlurft und setzt sich zu uns. Sie muss an die achtzig Jahre alt sein, und ich verstehe, warum Ethan mich gerade hierher geführt hat. Ihr Lächeln wärmt mir das Herz. Sie schafft es, dass ich mich ohne viele Worte an diesem Ort zu Hause fühle.

„Schmeckt es dir, Kind?“, fragt sie mich mit ihrer heiseren Stimme.

„Die Pfannkuchen sind wunderbar!“

Das sind sie wirklich. Tante Betty hat sie mit Apfelschnitzen gemacht, und ich schmecke einen ordentlichen Schuss Baileys heraus.

„Und ihr seid wirklich oben am Healy Pass im Schnee steckengeblieben?“

„Man konnte nichts mehr sehen“, erzähle ich. „Da war nur noch Schnee und Nebel. Die ganze Nacht steckten wir dort fest. Bist du schon mal mit der Seilbahn nach Dursey Island gefahren?“

Betty lächelt verschmitzt. „Das ist schon ein paar Jahrzehnte her. Doch ich weiß noch, dass ich zusammen mit einer Kuh rübergefahren bin. Das störrische Vieh wollte mich immer treten.“

Ich lache vergnügt auf, weil ich mir Betty und die Kuh regelrecht vorstellen kann. Mein fröhlicher Laut holt Ethan aus seinen düsteren Gedanken. Er sieht auf, ein Lächeln huscht über seine Lippen.

Betty steht auf, klopft Ethan sachte auf die Schulter, als wisse sie genau, was ihn quält. Sie öffnet den Küchenschrank und holt eine Flasche Whiskey hervor, gießt ihm einen großen Schluck in seinen Tee. Sie hält mir die Flasche hin, aber ich verneine. Ich möchte vermeiden, dass Ethan mich später vom Pub nach Hause tragen muss. Besonders viel Alkohol vertrage ich nämlich nicht.

Ethan jedoch nimmt den Whiskey gerne an und leert seinen Tee in einem Zug.

„Ich glaube, du brauchst eine kleine Aufmunterung“, flüstere ich ihm zu.

„Was schwebt dir vor?“

Ich beuge mich zu ihm, küsse ihn auf die unrasierte Wange. „Du hast was von Pub gesagt, und ich glaube, ein bisschen Musik und Bier könntest du jetzt gut vertragen.“

„Dann lass uns gehen.“ Ethan steht auf, rückt seinen Stuhl nach hinten. „Tante Betty, warte nicht auf uns. Wir gehen ein bisschen feiern.“

„Ey. Ich esse erst meinen Pfannkuchen auf“, protestiere ich.

Betty lacht lauthals auf. „Das Mädchen gefällt mir!“

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