Читать книгу Galway Girl Gesamtausgabe - Tanja Bern - Страница 18
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ОглавлениеDie offizielle Besuchszeit ist längst vorbei, die Schwestern tolerieren dennoch, dass wir nacheinander zu Fergus gehen. Nun stehe ich im Eingang seines Zimmers und schaue geschockt auf die blasse Gestalt in dem schmalen Bett. Eine Kompresse befindet sich auf seiner Stirn, seine linke Hand steckt in einer Schiene. Eine Infusion ist mit seiner rechten Hand verbunden, und an seiner Seite sehe ich zwei Schläuche unter der Bettdecke liegen. Als mir klar wird, dass sie in seinen Körper führen, überkommt mich ein flaues Gefühl, das sich von meiner Brust bis tief in den Bauch bohrt.
Ich eile zu ihm, setze mich vorsichtig auf die Bettkante. „Hallo Brüderchen“, begrüße ich ihn sanft.
„Hey“, flüstert er rau, „ich dachte, du bist mit Ethan auf dieser Tour.“
Vorsichtig nehme ich seine rechte Hand, ordne den Infusionsschlauch, damit der Zugang nicht blockiert wird.
„Als wir gehört haben, was passiert ist, sind wir sofort nach Hause gekommen.“
„Das ist lieb. Wie war es denn?“
„Wirklich schön und sehr abenteuerlich.“ Mir huscht ein Lächeln übers Gesicht.
Fergus fallen die Augen zu, er kämpft anscheinend noch mit den Nachwirkungen der Narkose. Ich streiche ihm sachte das Haar zurück.
„Ich bin so froh, dass du lebst, kleiner Bruder“, wispere ich und blinzle meine Tränen weg.
Er zwingt die Lider auf, sieht mich an. „Sag mir, was passiert ist.“
Seine Frage verwirrt mich. Weiß er das nicht mehr? Sorge überfällt mich. Ist seine Kopfverletzung doch schlimmer? Ich muss das dem Arzt sagen!
„Du hattest einen Autounfall, Fergus.“
„Ach, das weiß ich doch. Bei dir … meine ich. Was ist … bei dir passiert?“ Mein Bruder versucht sich tatsächlich an einem kleinen Lächeln.
„Du hattest recht.“
„Womit?“
„Dass da mehr zwischen uns ist.“ Ich knabbere auf meiner Unterlippe, fühle mich verlegen, obwohl Fergus wirklich einer meiner Vertrauten ist.
„Sag bloß … ihr seid zusammen?“ Er lallt ein wenig und muss zwischendurch Luft holen, das Sprechen fällt ihm schwer.
„Ich … ich glaube schon.“
„Endlich! Mann! Hat das gedauert.“
Ich lache leise auf. „Ich erzähl dir später alles, jetzt ruh dich aus. Ich bleib noch ein bisschen bei dir.“
„Okay.“ Er dreht den Kopf zur Tür, als wolle er sich vergewissern, dass niemand zuhört. „Habt ihr …?“ Er lässt die Frage offen, aber sein Blick sagt mehr als Worte.
„Fergus! Du liegst im Krankenhaus, und das beschäftigt dich?“
„Ist besser, als an den Unfall zu denken.“
Ich seufze leise auf. „Ja“, antworte ich lächelnd.
Er nickt zufrieden. Wieder kämpft er gegen den Schlaf an, ich sehe es ihm an.
„Fergus, du solltest jetzt wirklich …“
Er drückt meine Hand, und ich halte inne. „Sínead, Thomas hat noch nicht … aufgegeben. Er war bei uns zu Hause, ist fast ausgerastet, als er hörte …, dass du mit Ethan gegangen bist.“
„Danke, dass du mich warnst.“
So erschöpft und entkräftet habe ich ihn noch nie gesehen. Ich streichle sachte über seine kupferroten Locken, so wie früher, wenn er als Kind nicht schlafen konnte.
Ich kann mich kaum von ihm trennen, obwohl ich weiß, dass meine Schwester ebenfalls nach ihm sehen möchte. Nur mit Mühe reiße ich mich los. Als ich die Tür öffne, schlüpft Maeve zu unserem Bruder in den Raum, und ich falle in Ethans Arme. Mir kommen die Tränen, ich kann es einfach nicht verhindern. Er hält mich fest, versenkt seine Hand in meiner Lockenflut und küsst mich auf die Stirn.
Ich frage mich plötzlich, ob Mum und Dad merken, dass sich etwas zwischen uns verändert hat.
„Jetzt ist mir alles klar“, höre ich eine mir vertraute Stimme, die mich eiskalt überrascht.
Ethan und ich fahren auseinander, völlig ertappt, obwohl wir eigentlich nichts verheimlichen wollten. Thomas steht neben meinen Eltern und starrt uns fassungslos an.
„Mir war das ja schon immer klar. Aber du hättest es mir sagen müssen!“
In diesem Augenblick würde ich am liebsten alles leugnen, um diese Situation zu entschärfen. Aber ich kann es nicht. Es wäre purer Verrat an Ethan. Also sehe ich Thomas einfach nur an.
Mein Ex-Verlobter kommt auf uns zu und fixiert Ethan mit wütendem Blick. „Du bist ein Arschloch, Ethan Clarke, ich würde dir echt am liebsten eine reinhauen.“
„Und du hast völlig ignoriert, wie unglücklich Sínead war“, kontert Ethan.
„Ja, weil sie wahrscheinlich die ganze Zeit nur dir hinterhergehechelt hat.“
„Thomas!“, mische ich mich ein, aber er wirft mir nur einen bösen Blick zu, als hätte ich mit all dem gar nichts zu tun. Doch ich lasse mich nicht länger so von ihm behandeln. „Es geht doch um viel mehr!“
„Um was denn? Heißen Sex? Ist er im Bett so viel besser als ich?“
Pure Wut quillt in mir auf. Er wagt es, hier vor Fergus’ Krankenzimmer eine Szene zu machen und mir so etwas vorzuwerfen? Vor meinen Eltern? Ich kann nicht denken, mir rutscht einfach die Hand aus, und ich verpasse ihm eine schallende Ohrfeige.
Zuerst sieht Thomas mich völlig entsetzt an, doch dann funkelt etwas Böses in seinem Blick auf. Ich weiche erschrocken zurück. Er hebt seine Rechte, und ich sehe wie in Zeitlupe, dass er es mir mit gleicher Münze heimzahlen will.
Ethan handelt so schnell, dass ich nur eine verschwommene Bewegung vor mir sehe. Er fängt Thomas’ Hieb ab.
„Wage es nicht!“, knurrt er und hält Thomas’ Arm zurück.
Der scheint sich nun in seinen Zorn hineinzusteigern. Sein Gesicht ist rot angelaufen und völlig verzerrt. „Sag du mir nicht, was ich tun soll!“
„Du willst sie schlagen? Hast du den Verstand verloren?!“
Gott, wie kann ich das hier beschwichtigen? Ich werfe meinen Eltern einen hilflosen Blick zu, doch die stehen ebenfalls total fassungslos da.
„Nimm dir einen ebenbürtigen Gegner“, verlangt Ethan mit dunkler Stimme. „Na, los!“
Thomas’ Reaktion folgt auf dem Fuße, als hätte er nur darauf gewartet, das endlich tun zu können, und wahrscheinlich hat er das sogar. Seine Faust trifft hart auf Ethans Gesicht. Ich schreie auf, denn Ethan geht zu Boden, und werfe mich schützend vor ihn, weil Thomas ihn in die Seite treten will. Doch dann greift Dad ein und hält ihn eisern fest. Er wehrt sich gegen den Griff, hat aber keine Chance.
„Ist gut jetzt. Hör auf!“, zischt Dad und zerrt ihn weg von uns.
Thomas reißt sich von meinem Vater los und atmet schwer, er blinzelt verstört, als er zu begreifen scheint, was er getan hat. Seine Gefühle stehen ihm ins Gesicht geschrieben.
„Entschuldige“, murmelt er zu meinem Dad und flüchtet zum Treppenhaus.
Mit klopfendem Herzen wende ich mich wieder Ethan zu. Er sitzt vorgebeugt und versucht mit der Hand, das laufende Blut aufzufangen.
„Oh Gott, Ethan!“
Mum holt ein Taschentuch hervor und drückt es ihm in die Hand. Vorsichtig presst Ethan es auf seine Lippe.
„Alles in Ordnung“, sagt er mühsam. „Das hat er gebraucht.“
„Du hast dich absichtlich schlagen lassen?“, frage ich bestürzt.
Er zuckt mit den Schultern.
„Manchmal verstehe ich euch Männer nicht.“
„Ich erklärs dir später.“
Ich helfe ihm auf und bringe ihn zu einem der Stühle im Wartebereich.
Mum hat derweil eine Schwester geholt.
Die schaut ungläubig von einem zum anderen. „Eine Schlägerei? Hier?“
„Nein, nein, keine Schlägerei. Nur ein Schlag“, sagt Mum gewohnt pragmatisch. „Aber der hatte es in sich.“
Ich sitze neben Ethan auf der Pritsche und beobachte mit Argusaugen, wie die Assistenzärztin die Wunde an seiner Lippe näht. Die junge Frau macht das wirklich gut, sie ist geübt, das sehe ich. Trotzdem kann ich nicht wegsehen. Ich linse auf ihr Namensschild.
Ethan sitzt gelassen da und zwinkert mir sogar zu. Ich schüttle unwillig den Kopf. Jetzt gerade merkt er nichts, weil die Ärztin ihn örtlich betäubt hat. Morgen wird die Sache sicher anders aussehen.
Dr. Farrell schmunzelt, weil ihr unsere Blicke nicht entgehen. „Sie haben also den Helden gemimt, hm?“
„Er ist eben der Adventure Man“, sage ich mit einem schiefen Lächeln.
Ethan muss sich mühsam ein Lachen verkneifen, was ihm einen bösen Blick der Ärztin einbringt.
„Das müssen Sie mir näher erklären.“
Und so erzähle ich Dr. Farrell, dass wir als Kinder überzeugt waren, Superhelden zu sein.
„Wie hießen Sie?“, fragt sie neugierig.
Ich kann mir ein Grinsen nicht verkneifen. „Oh, ich bin Galway Girl.“
„Na, wenn das Ed Sheeran wüsste.“
Ethan muss sich so sehr zusammenreißen, nicht laut zu lachen, dass sein Körper förmlich bebt.
„Mr Clarke, ein Lachanfall wäre jetzt wirklich nicht ratsam.“
„Denk an irgendwas anderes“, sage ich rasch zu ihm.
„Vielleicht an Ihre Buchhaltung“, schlägt Dr. Farrell vor.
„Auf jeden Fall an etwas, dass dich ganz bestimmt nicht zum Lachen bringt.“
Meine Worte zeigen Wirkung. Abrupt ändert sich seine Stimmung, und er wirkt geistesabwesend.
Die Ärztin beendet ihre Arbeit und gibt Ethan einige Verhaltensregeln mit auf den Weg. Dann verabschiedet sie sich und eilt aus dem Raum. Ethan befühlt vorsichtig seine Naht, doch ich ziehe sanft seine Hand weg.
„Du sollst nicht daran herumfummeln.“
Er hebt den Kopf, schaut mich von der Untersuchungsliege aus an. „Sieht es schlimm aus?“
„Jetzt nicht mehr. Allerdings brauchst du einen neuen Pullover.“
Er sieht an sich herunter. „So ein Mist“, murmelt er. Sein Oberteil ist voller Blutflecke.
„Komm, lass uns gehen. Mum und Dad warten sicher auf uns.“
„Dann bekomme ich jetzt eine Standpauke“, sagt Ethan zerknirscht.
„Du? Warum?“
„Weil Thomas recht hat, Sínead.“
„Aber ich hatte mich doch schon von ihm getrennt!“
„Wir wissen mittlerweile beide, dass deine Trennung durchaus was mit mir zu tun hat. Außerdem hätte ich alles getan, um dich zu überzeugen, dass er der Falsche für dich ist, wenn du dich jetzt nicht bald getrennt hättest.“ Er seufzt. „Außerdem mag deine Mum Thomas wirklich gern.“
„Ob das jetzt immer noch der Fall ist?“
Ich bleibe vor der Tür stehen, mit der Klinke in der Hand. Erst jetzt realisiere ich, dass er zwar Ethan geschlagen hat, dies aber eigentlich mir galt.
„Ethan, er wollte mich schlagen“, flüstere ich.
„Ja, verdammt!“
„Ich hab ihn aber auch geohrfeigt.“
„Mag sein, aber das sollte ein Mann wegstecken können.“
„Nein, Ethan, das wäre zu einfach.“
Ethan fasst mich sachte an den Schultern und dreht mich zu sich herum. „Sínead, deine Ohrfeige hat bei ihm nicht mal ein Wanken ausgelöst. Sein Schlag hätte dich wahrscheinlich mit dem Kopf gegen die Wand geschmettert. Egal, ob es im Affekt war oder nicht. Das ist ein No-Go!“
„Er war rasend vor Wut. So hab ich ihn noch nie gesehen.“ Ich streiche mir durchs Gesicht, fahre mir durch mein Haar. Ich merke, wie aufgelöst ich bin. „Ich wollte ihn nicht ohrfeigen. Es … es überkam mich einfach. Sein Kommentar war so unverschämt! Vor meinen Eltern, hier im Krankenhaus! Als ob es mir nur um Sex geht.“
Ethan weicht meinem Blick aus. „War der wenigstens gut bei ihm?“
„Nein.“
Er atmet tief durch. Ich suche seinen Blick, weil er nun zu Boden starrt. Zärtlich umfasse ich sein Gesicht, bringe ihn dazu, mir in die Augen zu sehen. Meine Antwort hat sichtbar Erleichterung in ihm ausgelöst, und ich kann mir ein kleines Lächeln nicht verwehren. „Ethan, du bist wirklich in allem so viel besser für mich.“
Er nimmt meine Hand von seiner Wange, küsst sie hauchzart. „Du sagst mir doch, wenn dir irgendwas unangenehm ist, oder?“
„Du sollst doch nicht küssen“, wispere ich.
Er nimmt mich in den Arm und presst mich an seine Brust. „Versprich es mir.“
„Was denn?“
„Dass du immer offen bist und mir sagst, wenn ich etwas tue, dass dir nicht gefällt.“
„Das habe ich doch immer getan, Ethan.“
„Wir sind in einer neuen Situation.“
„Das ist wohl wahr.“ Ich schmiege mich an ihn. „Ich verspreche es.“ Für einen Moment genießen wir die Zweisamkeit, doch dann müssen wir uns meinen Eltern stellen.
Wir gehen aus dem Behandlungsraum und halten inne, wappnen uns für jegliche Vorwürfe. Mum erspäht uns als erstes. Sie eilt zu uns, nimmt Ethan unter die Lupe. Er lässt es sich gefallen, dass sie nach seinem Kinn greift und sich die verletzte Lippe sehr genau anschaut.
„Mum, es hat sich einfach so ergeben“, sage ich kleinlaut.
Sie wirft mir einen kurzen Blick zu, fixiert dann wieder Ethan, der sich mit einem tiefen Durchatmen aufrichtet, als erwarte er, erneut geschlagen zu werden.
„Ich bin Thomas nicht fremdgegangen, es kam erst danach …“, versuche ich es erneut.
„Sínead, dein Liebesleben ist ganz allein deine Sache. Du musst dich nicht vor mir rechtfertigen.“
„Wir würden es aber gerne erklären, damit ihr keine falschen Schlüsse zieht“, hakt Ethan ein.
Mum neigt den Kopf, wechselt einen Blick mit Dad, der auf mich fast amüsiert wirkt. Das Verhalten meiner Eltern verwirrt mich. Auch Maeve schnauft belustigt auf.
„Sag du es ihnen“, verlangt Mum und zieht Dad am Ärmel näher heran.
Dad schaut uns wohlwollend an. „Ihr beide seht euch nicht selbst, nur deshalb versteht ihr es nicht“, sagt er. „Wenn ihr zusammen seid, strahlt ihr regelrecht. Ihr benehmt euch, als sei der andere euer fehlende Teil, ohne den ihr nicht lange existieren könnt. Wir haben uns alle schon seit Jahren gewundert, warum ihr das nicht bemerkt. Jeder hat es gesehen, nur ihr nicht.“
Ethan und ich starren Dad fassungslos an. Dann schaue ich Mum an.
„Aber Mum! Du wolltest, dass Ethan mich zur Vernunft bringt, was nichts anderes hieß, als dass er mich dazu bringen sollte, meine Entscheidung wegen Thomas zu überdenken.“
„Kind, du warst lange mit Thomas zusammen. In der letzten Zeit war ich mir eurer Gefühle keineswegs mehr sicher. Außerdem hast du so überstürzt gehandelt. Ich wollte, dass du dich damit auseinandersetzt. Und das kann nur Ethan bei dir bewirken.“ Mum lächelt milde. „Außerdem wollte ich testen, wie Ethan reagiert. Und da er ziemlich entrüstet war, wusste ich zumindest, wie es um ihn steht.“
„Mum, du bist wirklich ein Fuchs“, grummle ich.
„Und das merkst du erst jetzt?“, fragt Maeve mit hochgezogenen Brauen.
Ethan beginnt zu lachen, bereut es aber sofort und verzieht schmerzhaft das Gesicht.
„Du weißt doch, Ethan. Nicht lachen, den Mund nicht zu weit aufmachen, keine scharfen Lebensmittel oder Zitrusfrüchte …“
„Ja, ja, ich weiß. Und keine Küsse“, murmelt er.
*
Fergus’ Unfall ist nun drei Tage her. Heute Morgen wurde seine Hand operiert. Obwohl sein Bettnachbar telefoniert und der Regen heftig ans Fenster prasselt, hält der Schlaf ihn gefangen. Als Mum vor einer halben Stunde nach Hause ging, konnte er seine Augen wegen der Narkose nicht mehr offenhalten.
Nun wache ich über ihn. Keiner von uns möchte, dass er allein ist. Wir wissen, wie sehr Fergus es hasst, von fremden Menschen umgeben zu sein, in einer fremden Umgebung. Dazu kommt die Hilflosigkeit nach solchen Vorfällen.
Sein rotes Haar bildet einen starken Kontrast zum weißen Laken. Er wirkt in diesem Moment so jung, obwohl er schon über zwanzig ist. Ich reiße meinen Blick von ihm los und greife nach der Illustrierten, die Mum mir dagelassen hat. Fergus’ rechte Hand lasse ich nicht los, die gebrochene liegt noch in einer Schiene. Man hat ihm eine Metallplatte eingesetzt, um den Bruch zu stabilisieren.
Die Klatschzeitung langweilt mich nach einer Weile. Ich lege sie mit einem Seufzen weg und denke stattdessen über meine derzeitige Lage nach.
Ethan hat mit Sylvie gesprochen, und seine Chefin hat ihm einen Aufschub gewährt. Ich kann meine Familie jetzt nicht alleinlassen, und er möchte bei mir bleiben. Die Tour wird er im neuen Jahr ohne mich beenden, denn noch mehr Urlaubstage meinerseits kann ich Mum vorerst nicht zumuten, sie braucht mich im Geschäft. Ich verdränge die Tatsache, dass ich Ethan dann mindestens eine Woche nicht zu Gesicht bekomme.
Von Thomas habe ich nichts mehr gehört, er hat sich vorerst zurückgezogen. Was hat er überhaupt im Krankenhaus gemacht? Die Frage konnte mir bisher niemand beantworten. Wollte er meiner Familie beistehen oder war es reiner Zufall, dass er in der Klinik war? Es ärgert mich, dass ich nicht einschätzen kann, was er vorhat. Ich fürchte zudem, dass Thomas mich nicht so schnell aufgeben wird. Er ist in manchen Dingen wie ein Pitbull. Hat er sich erst einmal festgebissen …
„Bin ich eingeschlafen?“, fragt Fergus schlaftrunken und blinzelt mich an.
Ich streiche ihm eine Locke nach hinten. „Ja, ist aber nicht schlimm. Wie fühlst du dich?“
„Ich weiß nicht so genau. Benommen, und ich habe Hunger.“
Ein Blick auf die Uhr sagt mir, dass die Mittagszeit längst vorbei ist.“
„Soll ich dir ein Stück Kuchen oder so holen?“
Fergus nickt, versucht sich an einem Lächeln.
„Bin sofort wieder da.“
Ich hauche ihm einen Kuss auf die Wange und verlasse das Zimmer, gehe runter in die Cafeteria. Dort befindet sich nur ein weiterer Gast, eine alte Frau, die in Zeitlupentempo einen Donut isst. Ich suche für Fergus ein Stück Kuchen aus und eile zurück zu ihm.
Als ich die Tür öffne, vollführt mein Herz einen unangenehmen Stolperer. Thomas steht an Fergus’ Bett, und ich sehe, dass mein Bruder sichtlich irritiert darüber ist.
Beide wenden sich mir zu. Ich reiße mich zusammen und gehe zu Fergus, reiche ihm das Stück Kuchen, ignoriere Thomas zunächst. Fergus richtet sich mühsam auf. Ich möchte ihm helfen, aber er wehrt mich mit einer kurzen Geste ab. „Das schaff ich schon.“
Thomas bietet mir meinen Platz von vorhin an, aber ich setze mich lieber auf die Bettkante.
„Was machst du hier?“, frage ich ihn.
„Darf ich Fergus nicht besuchen?“
Mein Bruder schnauft leise, denn in den fast vier Jahren, die ich mit Thomas zusammen war, hat er sich nie sonderlich um meine Familie bemüht.
„Doch, natürlich“, antworte ich betont neutral.
„Woher weißt du überhaupt von meinem Unfall?“ Fergus schaufelt sich ein Stück von dem Kuchen in den Mund und sieht Thomas fragend an.
„Margaret O’Riordan erzählte es mir, nachdem ihr Mann deine Eltern zur Klinik gefahren hat.“
Margaret und Jeff sind die Nachbarn meiner Eltern. Thomas kennt vor allem Jeff sehr gut, weil der seinen Lieblingspub betreibt.
Thomas versucht sich an Smalltalk mit meinem Bruder, doch Fergus geht nicht wirklich darauf ein. Mein Bruder mochte ihn noch nie sonderlich. Ich sehe, dass es Fergus anstrengt, gleichzeitig zu essen und auf Thomas einzugehen.
„Kommst du mal bitte mit vor die Tür, Thomas?“
Er unterbricht das einseitige Gespräch und folgt mir in den Flur. Als sich die Tür hinter uns schließt, sehe ich ihn ernst an. „Was soll das?“
„Ich wollte dich sehen.“
„Dann habe den Mumm und komme direkt zu mir, belästige nicht meinen Bruder.“
„Belästigen?“
„Du hattest noch nie viel für ihn übrig. Und jetzt machst du einen auf besorgten Freund? Er hatte einen Unfall, und es geht ihm noch nicht gut. Ziehe ihn nicht in unsere Angelegenheiten rein.“
„Das tue ich doch gar nicht. Ich habe ihm nur ein paar Kokoskekse gebracht.“
„Fergus hasst alles, was mit Kokosnuss zu tun hat.“
„Aber …“
„Maeve ist der Kokos-Junkie. Thomas, lass es einfach gut sein.“
Er streicht sich über den Nacken, eine wohlvertraute Geste, die mir sagt, wie nervös er ist. Mit einem tiefen Durchatmen zieht er an seinem Hemdkragen, um den Schlips zu lockern. Mir fällt auf, dass ihm der graue Anzug hervorragend steht, er muss direkt von der Arbeit ins Krankenhaus gekommen sein.
„Ich habe wirklich nicht die geringste Chance, Sínead?“
In dem Neonlicht leuchten seine Augen hellblau. Er kommt einen Schritt auf mich zu, streckt fragend die Hand nach mir aus. Ich weiche instinktiv zurück.
Er seufzt leise. „Das hab ich wohl verdient. Ich weiß auch nicht, wie ich das entschuldigen soll. Ich … war einfach so furchtbar wütend, als ich euch beide gesehen habe.“
„Thomas, es ist nicht so, dass ich mich wegen Ethan von dir getrennt habe. Er spielt eine Rolle, aber …“ Wie soll ich es ihm bloß erklären? „Ich glaube, ich habe Ethan schon immer geliebt, wollte es mir aber nie eingestehen.“
Seine Miene verfinstert sich.
„Getrennt habe ich mich aber, weil ich todunglücklich war, schon sehr lange, und du wolltest es nicht wahrhaben.“
„Wieso, Sínead? Was habe ich falsch gemacht?“
„Das ist nicht die richtige Bezeichnung dafür. Es ist eher so, dass du in mir jemanden gesehen hast, der ich nicht bin. Anfangs habe ich mich dagegen gewehrt, doch du wusstest, wie du mich formen kannst.“
„Das verstehe ich nicht.“
„Die kleinen Sticheleien, die indirekten Vorwürfe, deine Unzufriedenheit, wenn ich etwas tat, was dir nicht in den Kram passte. All das hat mich dazu gebracht, so zu werden, wie du es dir wünscht. Ich wollte Harmonie, und das war die einzige Möglichkeit. Ich selbst blieb auf der Strecke, aber wir hatten Frieden.“
„Das ist doch alles nicht wahr!“
„Selbst jetzt siehst du es nicht ein. Thomas, ich mache dir keinen Vorwurf. Es passt nur einfach nicht mit uns.“
„Es tut mir leid, aber für mich ist und bleibt Ethan der Grund. Wäre er nicht immer so präsent und hätte dir Flausen in den Kopf gesetzt, würdest du ganz anderen Dingen Priorität geben. Es mag sein, dass du dich mir angepasst hast. Meinst du, ich habe das nicht? Ethan jedoch vermag es wirklich, dich zu formen.“
„Nein, bei Ethan bin ich die, die ich sein möchte“, beharre ich. „In einem hast du recht. Dein Hass auf ihn war nicht unbegründet, wie ich es dir immer einreden wollte. Ich … ich wusste selbst nicht, wie ich wirklich für ihn fühle.“
Thomas schüttelt den Kopf. „Das kommt mir alles an den Haaren herbeigezogen vor. Die Trennung, dann diese Tour, und plötzlich ist es die große Liebe?“ Er schnauft abfällig auf.
Er versteht es nicht. Das war das größte Manko in unserer Beziehung. Dieses Unverständnis, wenn ich ihm gesagt habe, was in mir vorgeht. Stets wusste er es besser und berichtigte mich, selbst wenn es um meine eigenen Gefühle ging.
Ich wage es, meine Hand auf seinen Arm zu legen, um ihn zu beschwichtigen, ziehe sie jedoch rasch wieder zurück, um keinerlei Hoffnungen in ihm zu wecken. „Es hilft doch keinem von uns, wenn du mich bedrängst oder überall scheinbar zufällig auf mich wartest.“
„Wo bedränge ich dich?“
„Du hast dieses Treffen erzwungen, hast meinen frisch operierten Bruder dafür benutzt, um mich zu sehen. Wie würdest du das nennen?“
Er hebt abwehrend die Hände. „Wenn du es so siehst …“ Für einen Moment betrachtet er mich und wägt sehr genau seine nächsten Worte ab. „Es wird nicht gut gehen mit euch. Du glaubst, ich kenne dich nicht.“ Er lacht leise. „Du ahnst nicht einmal, wie gut ich dich einschätzen kann. Es wird nicht gut gehen“, wiederholt er. „Und am Schluss stehst du alleine da.“
Er dreht sich um, lässt mich einfach stehen. Mich friert es plötzlich, und mir wird übel. Es fühlt sich an, als habe er mich verflucht.
„Was ist denn los, Sínead?“
Ich zucke zusammen und sehe, dass Fergus mich besorgt mustert, weil ich minutenlang aus dem Fenster gestarrt habe.
„Es ist alles in Ordnung.“
„Das sieht mir aber nicht danach aus. Du gehst mit deinem Ex vor die Tür, kommst alleine wieder und bist kalkweiß. Was hat er gesagt?“
Am liebsten möchte ich jedes von Thomas’ Worten in die hinterste Ecke meines Bewusstseins verdrängen. „Ach, das Übliche“, antworte ich ausweichend.
Mein Bruder zieht skeptisch die Augenbrauen zusammen. „Irgendwie glaube ich dir das nicht.“
„Fergus, lass es gut sein. Du hast nichts damit zu tun. Du liegst hier frisch operiert im Krankenhaus.“
„Erinner mich bloß nicht daran“, murmelt er.
„Hast du Schmerzen? Soll ich die Schwester rufen?“
„Nein, es geht. Sie haben mich mit Schmerzmitteln vollgepumpt. Ich … ach, scheiße.“
„Was denn, Fergus?“
Er schaut an die Decke, seine Augen sind in dem gedämpften Licht so dunkelgrün wie ein Moor. „Ich musste gerade an meine Geige denken“, sagt er mit heiserer Stimme und hebt den gebrochenen Arm mit der Schiene kurz an. „Aber damit?“
„Das müssen wir doch erstmal abwarten.“
Er schüttelt mit entmutigtem Ausdruck den Kopf. „Wenn es die rechte Hand wäre, wo ich den Bogen führe, ginge es ja. Doch es ist die linke. Ich brauche voll bewegliche Finger, sonst kann ich es vergessen.“
„Fergus …“
„Sie sind fast steif, Sínead, und wenn ich mich zwinge, sie zu bewegen, tut es weh.“
„Du wirst jetzt am Tag deiner OP schon ungeduldig?“
„Tschuldigung.“
„Gib dir etwas mehr Zeit. Du bist doch heute erst operiert worden, hast Metall im Gelenk, und das Gewebe ist verletzt. Von deiner geflickten Milz rede ich gar nicht erst.“
Er schenkt mir ein schiefes Lächeln. „Oder von meiner Kopfwunde. Fünf Stiche!“
Ich nehme seine gesunde Hand in meine. „Lass uns von was anderem reden. Hast du über diese App schon jemanden kennengelernt?“
Er lässt sich ablenken. Seine Augen leuchten. „Fast.“
„Was heißt denn das?“
„Als ich den Unfall hatte, wollte ich Maeve nur bei ihrer Freundin absetzen. Eigentlich hatte ich eine Verabredung.“
„Weiß er, dass du einen schweren Unfall hattest?“
Fergus schüttelt betrübt den Kopf. „Er denkt wohl, ich hätte ihn sitzen gelassen.“
„Dann müssen wir ihm Bescheid geben, Fergus!“
„Ich weiß nicht …“
Mein Blick spricht offensichtlich Bände, denn Fergus sieht sofort, dass ich eine Erklärung für seine Einwände will. Mein Bruder konnte mich schon immer gut lesen, was zwar gewisse Dinge vereinfachte, aber auch heißt, dass ich ihm nie viel verheimlichen konnte. Da ist er wohl Ethans heimlicher Verbündeter.
„Er wollte mich unbedingt treffen, wir haben uns auch wirklich gut verstanden. Aber ich kann ihn doch nicht von Anfang an mit diesem Scheiß hier belasten!“ Er zeigt auf die Schläuche und auf seine gebrochene Hand.
„Dir ist es also lieber, er denkt, du hättest ihn verarscht?“
„Nein!“
„Dann klär ihn auf. Was er daraus macht, ist seine Sache.“
Er schmiegt sich in die Kissen und starrt an die kalkweiße Decke. „Du hast ja recht. Aber er hat mich bei Tinder schon blockiert. Ist wohl sauer.“
„Hast du keine andere Möglichkeit, ihn zu erreichen?“
„Ich kenne sein Facebook-Profil. Ob ich da noch in seiner Liste stehe, weiß ich nicht. Hab mich nicht getraut, nachzusehen.“
„Dann sieh jetzt nach!“
„Ob er mir glauben wird?“
„Mit einem Selfie aus dem Krankenhaus bestimmt.“
„Ich hasse Selfies“, brummelt er.
„Ich weiß, da sind wir uns einig. In diesem Fall ist es aber nötig, fürchte ich. Was denkst du?“
„Okay. Kannst du es mir mal rausgeben?“
Ich wühle in dem Nachttisch nach seinem Smartphone und reiche es ihm. Er öffnet die App, gibt in die Suchfunktion den Namen Dean Hayes ein und öffnet das Profil.
„Wir sind noch befreundet, er hat mich hier nicht rausgeworfen.“
„Na, also.“
Wir tüfteln eine Nachricht aus, erklären Dean die Situation und hängen noch ein Foto an, wo wir beide zu sehen sind.
Meinem Bruder huscht ein Lächeln übers Gesicht. „Du machst das jetzt alles nur, um von deinen eigenen Problemen abzulenken, oder?“
Nachdenklich kratze ich mich an der Stirn. Trifft er den Nagel auf den Kopf?
Nein, nur teilweise. „Ich gebe zu, ich lasse mich gerade gerne ablenken. Aber hier geht es um dich, Brüderchen. Es wäre schade, jemanden zu verlieren, nur weil er nicht weiß, was passiert ist. Und vielleicht ist er es, auf den du gewartet hast.“
Inständig hoffe ich, dass dieser Dean es wirklich wert ist.