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1. Arbeit ist unser Leben Ich arbeite, also bin ich

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Unser Beruf steht nicht mehr nur auf unserer Visitenkarte.

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hristian Wulff hat es geschafft. Als Bundespräsident a.D. erhält er nun bis ans Ende seiner Tage 199.000 Euro Ehrensold im Jahr, braucht dafür aber, bitte schön, nicht (mehr) zu arbeiten. Wer von uns hat davon noch nicht geträumt?

Geträumt, nicht mehr arbeiten zu müssen, in den Tag hineinzuleben und den lieben Gott einen guten Mann sein zu lassen?! Und jeden Monat schickt uns ein „big spender", in Wulffs Fall Vater Staat, einen schönen, dicken Scheck. Gegenleistung? Bitte keine, außer vielleicht die Erwartung, dass wir uns nicht völlig danebenbenehmen.

Aber ich sage Ihnen: Sie und ich, die meisten von uns, wären nach spätestens einem halben Jahr total unglücklich. Denn: Ohne Arbeit kann der moderne Mensch nicht leben. Kurzum: Arbeit ist geil.

In der Aufklärung hieß es einst: Ich denke, also bin ich. Anders als damals reicht uns das stille Selbstgespräch nicht mehr. Wir wollen schaffen und schöpfen, tätig sein. Leerlauf, Zeit, um in der Nase zu bohren, wie wir gerne abfällig bemerken, ist uns ein Graus. Arbeit ist unser Leben.

Die in der Industrialisierung von Karl Marx einst kritisierte Entfremdung von der Arbeit haben wir nicht nur überwunden, wir haben sie umgekehrt: Heute identifizieren wir uns mit unserer Arbeit. Wir gehen wie freischaffende Künstler und Genies vollkommen in ihr auf, sie ist ein Teil von uns, und wir sind ein Teil von ihr. Und dabei ist es ganz egal, ob wir angestellt oder selbstständig sind.

Heute heißt es: Ich arbeite, also bin ich. Schauen Sie sich mal um, und seien Sie ehrlich zu sich selbst.

Unserem Arbeits- und Schaffenstrieb ordnen wir vieles, wenn nicht gar alles unter. Wir verbringen nicht nur viele, viele Stunden im Büro, auf Geschäftsreisen und in Meetings, nein, selbst in unserer Freizeit, wenn wir privat sein wollen und sollen, checken wir E-Mails, lesen Fachzeitschriften, kaufen wir uns einen neuen Nadelstreifenanzug, polieren die Lacklederschuhe für den Neujahrsempfang. Zu guter Letzt stählen, straffen, optimieren wir unseren Körper auf dem Laufband, an der Hantelbank, im Schwimmbecken. Denn, und das weiß jedes Karrierekind: Wer gut, im Sinne von gepflegt und selbstbewusst aussieht, ist erfolgreicher. Erfolg macht sexy – und andersherum.

Wir lassen auch keine Chance aus, um aufzusteigen. Schnell und teuer wird ein MBA gemacht, eine neue Sprache gelernt, eine Zweitwohnung genommen – und die (eigentlich) große Liebe und Familie im Stich gelassen. Es zählt nur eines: Top-Performance im Job. Alles andere wird gut und gerne ausgeblendet - und zwar längst nicht mehr nur Montag bis Freitag und von neun bis 17 Uhr.

Unsere Arbeit ist unser ein und alles, unser Ich. Unser Beruf steht längst nicht nur auf unserer Visitenkarte. Selbst im Privatleben, auf der Gartenparty des Nachbarn, Schwiegermutters Geburtstag, der Elternpflegschaftssitzung steht er schnell im Mittelpunkt. Die Frage nach Name und Herkunft ist abgelöst worden durch die Erkundigung: „Was machen Sie eigentlich beruflich?" Das geht so weit, dass, wenn wir auf neue Bekanntschaften angesprochen werden, wir weder Gesicht noch Name vor Augen haben, wohl aber wissen, ob derjenige Jurist, Arzt oder Pilot ist.

Diese Absolutsetzung von Arbeit und Arbeitseuphorie ist gefährlich. Es ist ja nicht nur so, dass Arbeit krank machen kann, wie die vielen Fälle von Burn-out in jüngster Zeit zeigen. Die größte Angst in modernen Leistungsgesellschaften wie der unseren ist ja: arbeits- und damit wertlos zu sein. Ja, es ist für viele schlimmer, den Job zu verlieren als Frau oder Mann und Haus. Überlegen Sie sich das mal. Ist das nicht Wahnsinn?

Tja, was ist nun also Herrn Wulff zu wünschen? Dass er es schafft, unser aller Traum zu leben und guten Gewissens nichts mehr zu tun? Oder dass er bald eine neue Betätigung findet?

Aber vielleicht brauchen wir uns darüber unseren Kopf nicht zu zerbrechen. Unser Bundespräsident a. D. hat genug gute Freunde, die ihm sicher auch jetzt beistehen werden. Mit Rat und Job.

Erschienen am 02.03.2012 im Handelsblatt

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