Читать книгу Zarenblut - Ein Fall für Julia Wagner: Band 4 - Tanja Noy - Страница 10
5. KAPITEL
ОглавлениеFehler zwei und drei
Das Taxi hielt, Susanne bezahlte den Fahrer, stieg aus, und sofort schlug ihr der Schnee wieder wie ein harter Besen ins Gesicht, was man als Omen hätte nehmen können, wenn man an Omen geglaubt hätte. Susanne hatte keine Zeit, in sich zu gehen und darüber nachzudenken. Vielleicht hätte sie es besser getan.
Als sie feststellte, dass sie ihre Fäustlinge im Wagen hatte liegen lassen, hatte der Fahrer bereits Gas gegeben und war davongefahren.
„Das darf doch nicht wahr sein!“, entfuhr es ihr.
Und da stand sie dann, wandte sich dem viereckigen Haus zu, und als sie sich endlich mit gesenktem Kopf darauf zubewegte, schien ihr das Donnern des Windes abnormal laut. Vor allem daran würde sie sich später noch gut erinnern.
Beim Haus angekommen, wollte sie gerade die Hand heben, um zu klingeln, als sie feststellte, dass die Tür offen stand.
Sofort läuteten in ihr alle Alarmglocken. Ein schreckliches Unbehagen setzte ein, ein ungutes Gefühl, wie ein unterschwelliger Juckreiz. Alles in ihr schrie: Lauf weg! Doch stattdessen sagte sie: „Hallo?“
Niemand antwortete.
Susanne legte die Finger gegen die Tür und schob sie etwas weiter auf.
Fehler Nummer zwei.
Im Inneren des Hauses war es stockfinster. Und totenstill. Sie machte zwei Schritte nach vorne und begann, ganz automatisch nach dem Lichtschalter zu suchen. Als sie ihn endlich fand, drückte sie darauf.
Fehler Nummer drei.
Licht strömte aus einem Kronleuchter in den Eingangsbereich. Sie sagte noch einmal: „Hallo? Frau Stark?“
Nichts.
Susanne machte einen weiteren Schritt in das Haus hinein und sah sich um. Auf dem Boden lag ein dunkler Teppich. Neben der Tür stand eine Truhe, die sicher antik war und viel Geld gekostet hatte. Der Spiegel darüber war bestimmt nicht viel billiger gewesen. Er hatte einen schweren Goldrahmen. Die Standuhr auf der gegenüberliegenden Seite tickte schwerfällig vor sich hin.
„Frau Stark?“ Noch zwei Schritte in das Haus hinein.
Zur Antwort bekam Susanne nur weitere Stille.
Rechts von ihr befand sich eine Tür. Sie ging darauf zu und blieb im Türrahmen stehen.
Mit der Hand wischte Susanne sich über die Augen, aber das Bild, das sie sah, verschwand nicht. Tief in ihrer Kehle blieb die Luft stecken, ehe sie wie eine Blase in ihrem Mund zerplatzte und sie sich selbst sagen hörte: „Guter Gott im Himmel.“
Später würde sie sich noch sehr genau an jedes Detail des Bildes erinnern, das sich ihren Augen bot. Sie würde sich an die Anwältin erinnern, die in einem Sessel saß wie eine gespenstische Mumie – mit einem Loch in der Brust.
In Susannes Kopf hämmerte es: Hau ab! Und sie wollte es tun, sie wollte weglaufen, so schnell und so weit wie möglich, doch dann stellte sie fest, dass die Frau noch atmete.
Offenbar war sie noch am Leben.
Oh verdammt! Susanne zwang sich zum Nachdenken. Ich bin gerade erst aus Norwegen gekommen. Die Polizei sucht mich. Vor mir sitzt eine Frau mit einem Loch in der Brust, und ich befinde mich am Tatort. Die werden mich sofort verdächtigen. Ich kann mich nicht darum kümmern. Ich muss hier weg. Ich muss … Ich kann nicht einfach abhauen. Ich kann nicht.
Bereits in der nächsten Sekunde eilte Susanne auf den Sessel zu und blickte auf die Anwältin hinunter. „Frau Stark?“
Die Antwort war ein schweres Atmen.
„Frau Stark? Können Sie mich verstehen? Halten Sie durch. Ich rufe einen Krankenwagen. Ich …“
Die Frau öffnete die Augen, hustete Blut und begann, am ganzen Körper zu zittern. Ihre Schultern hoben sich und fielen wieder herab.
„Halten Sie durch“, sagte Susanne noch einmal. „Ich rufe einen Krankenwagen.“
Verschleierte Augen fixierten sie. Dann sagte die Anwältin etwas. So leise, dass es kaum zu verstehen war. Sie sagte: „Die Kassette …“
Susanne hielt den Blick auf die Frau gerichtet, was sie große Mühe kostete, und fragte: „Wie bitte?“
Die Anwältin hustete erneut Blut. Tropfen rannen über ihre Lippen. „Du …“, sie brach ab, sammelte ihre letzten Kräfte, „… musst dich … darum … kümmern.“
Susanne blinzelte. „Worum?“
„Die … Kassette.“
„Was für eine Kassette?“
„Du musst … sie vor … ihnen … finden.“
„Vor wem?“
„Sie … werden dich … leiten …“
„Wer?“ Susanne war kurz davor, die Nerven zu verlieren. „Wovon reden Sie, um Himmels willen?“
„Die … Engel … werden dich … leiten … Nicht … öffnen.“
„Was?“
„Du darfst … die Kassette … nicht … öffnen.“
„Was soll ich damit, wenn ich sie nicht öffnen darf?“
„Nicht … öffnen.“ Ein weiteres blutiges Husten. „Die … Karte.“
„Was für eine Karte?“
„In meinem … BH.“
„Was?“
Die Anwältin schien noch etwas sagen zu wollen, schaffte es jedoch nicht mehr. Die Kräfte verließen sie. Sie schloss die Augen. Und gleich darauf war sie tot.
Tot.
Das Wort hämmerte in Susannes Kopf.
Sie machte einen Schritt zurück. Und noch einen.
Die Anwältin war tot.
Mausetot.
Obwohl sie sie nicht angefasst hatte, bildete Susanne sich ein, dass ihre eigene Kleidung nach Tod roch.
Einmal mehr schrie es in ihrem Kopf: Lauf weg! Und doch blieb sie nach den zwei Schritten stehen, wo sie war. Ein Augenblick nur, um eine Entscheidung zu treffen. Ein Wimpernschlag, der über alles Weitere entschied.
In meinem BH.
Der Wimpernschlag war vorbei. Susanne bewegte sich wieder auf die tote Frau zu. Ihre Beine überwanden die wenigen Meter ganz von selbst, wie es schien.
Vor dem Sessel blieb sie stehen.
Bitte nicht! Ich will das nicht tun!
Und doch begann sie kurz darauf, die Bluse der Frau aufzuknöpfen, was sie mit Ekel und Widerwillen erfüllte. Sie war überhaupt nicht vorbereitet auf das grausige Gefühl der Intimität, von dem ihr schleichend immer schlechter wurde, und da sie zu zittrig und viel zu aufgeregt war, um die Bluse Knopf für Knopf zu öffnen, riss sie sie auf. Die Knöpfe sprangen ab, einer flog Susanne ins Gesicht, die anderen kullerten über den Boden. Ihre Finger waren vom Schweiß ganz feucht, und fast glaubte sie, den Atem der toten Anwältin auf ihrer Stirn zu spüren. Schließlich schob sie die Bluse auseinander, wobei sie sich bemühte, nicht direkt auf die Schusswunde und das viele Blut zu blicken, was jedoch unmöglich war. Das Geschoss hatte die Brust der Frau direkt über dem Herzen durchbohrt.
Im BH der Toten steckte eine Visitenkarte. Mit Widerwillen zog Susanne sie heraus und stellte fest, dass sich nichts darauf befand außer einem Muster aus eingeprägten Punkten, die sie mit den Fingerspitzen ertasten und auch deutlich sehen konnte, wenn sie die Karte schräg ins Licht hielt. Es sah aus wie Blindenschrift.
Susanne konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, warum die Anwältin eine Karte mit Blindenschrift in ihrem BH versteckte. Aber da sie es getan hatte, schien es wichtig zu sein.
Sie steckte die Karte in ihre Manteltasche und schob die Bluse der Toten wieder notdürftig zusammen.
Und als das geschehen war, verließ sie so schnell sie konnte das Haus.
Vor der Tür atmete sie ein paarmal tief durch. Während sie in Richtung Bürgersteig ging, griff sie in die Manteltasche und zog ihr Handy hervor, wobei sie feststellte, dass Jo noch einmal angerufen hatte. Sie wusste, dass sie ihn zurückrufen musste, aber das war jetzt wirklich nicht der richtige Zeitpunkt dafür. Noch einmal spielte sie mit dem Gedanken, die 110 anzurufen, und verwarf ihn wieder.
Sie machte ein paar Schritte, rutschte aus, verlor den Halt und landete im Schnee.
Fluchend richtete sie sich wieder auf, wobei ein kurzer, aber heftiger Schmerz in ihrem Knöchel aufflammte. Noch einmal fluchte sie leise, richtete sich so vorsichtig wie möglich auf und bemerkte im selben Moment einen Wagen, der sich näherte. Sie wandte den Kopf und sah die grellen Lichter eines Scheinwerferpaares, die direkt auf sie gerichtet waren. Und die rasend schnell näher kamen.
Wie gelähmt stand Susanne da. Dann, endlich, machte es klick in ihrem Kopf. Sie wollte zur Seite springen – aber sie konnte sich nicht rühren.
Es heißt, das Gehirn eines Menschen besteht aus ungefähr hundert Milliarden Nervenzellen, die durch mehr als hundert Billionen Synapsen miteinander kommunizieren. Und jeder einzelne Gedanke entsteht dabei in so unglaublich hoher Geschwindigkeit, dass man ihn bereits verarbeitet hat, ehe er zu Worten geformt ist.
So hatte Susanne innerhalb des Bruchteils einer Sekunde realisiert, dass der Wagen sie erwischen würde. Trotzdem war es ihr nicht möglich, sich zu bewegen. Sie stand einfach nur da und starrte in die hellen Scheinwerfer wie ein Reh, das darauf wartete, dass der Kotflügel es erwischte und ihm das Genick brach.
Aber der Wagen, es handelte sich um einen dunklen Mercedes, wie sie am Rande wahrnahm, erwischte sie nicht. Er kam direkt neben ihr zum Stehen, und die hintere Tür flog auf.
Und dann ging alles ganz schnell.
In derselben Sekunde kam ein weiterer Wagen von hinten angefahren, ein roter Polo, der auf den letzten Metern ins Rutschen kam und unsanft mit dem Kotflügel der Limousine kollidierte.
Es knallte, und der Mercedes wurde einen guten Meter nach vorne geschoben. Die hintere Tür fiel wieder zu und klemmte offensichtlich das Bein des Mannes ein, der gerade hatte herausspringen wollen. Susanne hörte einen Aufschrei und ein heftiges Fluchen.
Der Polo stoppte nur wenige Zentimeter vor Susannes Füßen. Die Fahrertür flog auf, ein Mann stieg aus und packte sie. Zu Tode erschrocken, schrie sie auf.
Der Mann schob sie unsanft auf der Beifahrerseite in den Polo hinein. Sie wehrte sich und zappelte wie wild, aber er ließ nicht locker. Keine zwei Sekunden später waren alle Türen geschlossen, und er saß wieder hinter dem Lenkrad, gab Gas, und sie schossen davon. Und das so schnell, so halsbrecherisch, dass Susanne die Luft wegblieb.
„Halten Sie an! Lassen Sie mich sofort raus!“
„Das wäre keine gute Idee.“
Susanne wurde vor Angst ganz heiß. „Halten Sie sofort an!“ Sie wollte sich aufrichten, doch eine scharfe Kurve warf sie zurück in den Sitz. Der Polo kam gefährlich ins Schleudern. „Oh mein Gott! Passen Sie doch auf!“
„Bleiben Sie ruhig“, sagte der Mann.
Der Wagen schoss weiter durch die Straßen, und schon bald wusste Susanne nicht mehr, wo sie sich befanden. In diesem Viertel war sie noch nie gewesen, das stand fest. Heruntergekommene Häuser mit eingeschneiten Vorgärten reihten sich aneinander. Sie warf einen Blick zu ihrem Entführer und stellte fest, dass er nicht wie ein klassischer Verbrecher aussah. Nicht wie ein Entführer und schon gar nicht wie ein Mörder oder Vergewaltiger. Er schien nicht sehr groß zu sein, mochte die fünfzig schon eine Weile überschritten haben, trug einen hellen Trenchcoat, der so zerknittert war, als habe er die letzten Nächte darin geschlafen, das graue Haar stand wirr von seinem Kopf ab, und im Gesicht trug er einen struppigen Vollbart. „Haben Sie gesehen, wie viele es waren?“, wollte er wissen.
„Nein.“
„Es müssen in jedem Fall zwei gewesen sein. Einer ist gefahren, und ein anderer wollte Sie in den Wagen ziehen.“
Sie bogen in eine Seitenstraße ein, die zu Susannes Entsetzen noch enger war als die vorherige. Mit dem Heck rammte der Polo eine Straßenlaterne, und um ein Haar wären sie durch einen Bretterzaun gebrochen.
„Lieber Gott im Himmel! Wollen Sie uns umbringen?“
„Natürlich nicht. Ich gehöre doch zu den Guten.“
„Ach wirklich?“
„Was zum Teufel ist in dem Haus passiert?“
„Ich …“ Aus den Augenwinkeln sah Susanne schon wieder etwas auf den Polo zukommen. „Ach du Scheißeeee!“
Kurz vor der Stelle, wo die kleine Seitenstraße in eine Querstraße mündete, stand ein Transporter mit offener Heckklappe, aus der zwei Männer etwas heraushievten. Sie konnte nicht erkennen, was es war, aber die beiden Männer hielten es zwischen sich und starrten wie versteinert in Richtung des heranrasenden Polos.
„Bremsen!“, schrie Susanne.
Doch genau das tat der Mann nicht. Im Gegenteil. Er nahm Maß, trat das Gaspedal erst recht durch, und sie schossen haarscharf links an den beiden Männern vorbei.
Zitternd wischte Susanne sich den Schweiß von der Stirn. „Jesus Christus! Wenn Sie mich umbringen wollen, warum schießen Sie mir dann nicht einfach eine Kugel in den Kopf?“
Der Mann warf einen Blick in den Rückspiegel und sagte: „Sie scheinen verschwunden zu sein. Und jetzt frage ich Sie noch einmal: Was ist in dem Haus passiert?“
„Die Anwältin ist tot.“
„Was?“
„Sie wurde ermordet.“
„Oh, verdammt.“
„Ja, so kann man es auch sagen. Was waren das für Leute, und warum wollten sie mich entführen?“
„Vermutlich, weil Sie ihnen irgendwie in die Quere gekommen sind. Was haben Sie in dem Haus gemacht?“
Susanne kam nicht dazu, zu antworten. Urplötzlich bogen sie an einer völlig unscheinbaren Einmündung ab. Eine Einbahnstraße, die sie von der falschen Seite nahmen. Ein anderer Wagen kam ihnen entgegen, hupte erbost und ließ mehrmals die Scheinwerfer aufleuchten.
„Mein Gott, Sie sind ja völlig wahnsinnig!“
„Ich versuche, unser beider Leben zu retten. Also bleiben Sie ruhig und genießen Sie die Fahrt.“
„Das ist nicht witzig!“
„Nein, das ist es tatsächlich nicht.“ Der Mann warf einen weiteren Blick in den Rückspiegel. „Die Sache ist ernst. Verdammt ernst.“
Susanne überlegte, aus dem Wagen zu springen, zu fliehen. Aber natürlich ging das während der vollen Fahrt nicht. Im Augenblick hatte sie keine andere Wahl, als sitzen zu bleiben und abzuwarten.
Aber irgendwann mussten sie ja wieder stehen bleiben.
Dann konnte sie fliehen.
Hoffentlich bald.