Читать книгу Zarenblut - Ein Fall für Julia Wagner: Band 4 - Tanja Noy - Страница 8
3. KAPITEL
ОглавлениеEin merkwürdiges Paar
20:37 Uhr
Mainz
Die mächtige Betonburg, vor der Julia und Eva standen, war zwölf oder noch mehr Stockwerke hoch.
Julia begutachtete die zahlreichen Klingelschilder, die den schmutzigen, abblätternden Beton an der Eingangstür überwucherten. „108“, las sie auf einem davon und drückte auf den Knopf.
Als daraufhin nichts geschah, drückte sie nacheinander auf alle Knöpfe. Eine Frauenstimme meldete sich und sagte: „Ja?“
„Polizei“, sagte Julia.
Einen Moment lang geschah gar nichts, dann ertönte ein lautes Summen, sie drückte die Tür auf, und sie traten ein.
„Der sieht nicht sehr vertrauenswürdig aus“, bemerkte Eva und deutete auf den Fahrstuhl.
„Möchtest du bis in den sechsten Stock laufen?“, fragte Julia.
„Nein.“
Sie traten hinein und stellten fest, dass die Spiegel aus ihren Fassungen herausgebrochen waren. Die Metallverkleidung der Fahrstuhlkabine war mit leuchtend roter Schrift besprüht. Die Sprache war nicht zu identifizieren. Auf dem Fußboden allerdings stand deutlich zu lesen: Beate bläst dir einen.Wähle 0157 – 8894 … Die Nummer endete an der sich schließenden Tür, die restlichen Ziffern fand man offenbar auf einem anderen Stockwerk.
„Immerhin“, murmelte Eva. „Fehlerfrei geschrieben.“
Im sechsten Stock stiegen sie aus und stellten erleichtert fest, dass sich Edi Kerns Wohnung genau gegenüber dem Fahrstuhl befand.
Sie gingen auf die Tür zu, und obwohl sie nichts anderes erwartet hatte, veränderte ihr Anblick Julias Stimmung. Die Anspannung wich Ernüchterung. War das hier wirklich der richtige Ansatzpunkt? Was hoffte sie hier zu erfahren? Und was immer es war, würde es ihr helfen, Zander näher zu kommen?
Ihr Blick fiel auf die Klingel.
Irgendwo müssen wir schließlich anfangen.
Sie drückte auf den Knopf, und wieder öffnete niemand.
Sie klingelte noch einmal, nachdrücklicher, aber es schien tatsächlich niemand zu Hause zu sein. Wahrscheinlich hatte Edi Kern längst die Flucht ergriffen. Denkbar war allerdings auch, dass ihm etwas zugestoßen war. Dass die Menschen, vor denen er solche Angst hatte, ihn zum Schweigen gebracht hatten. Die Kraniche.
„Was machen wir jetzt?“, fragte Eva.
„Noch nicht aufgeben.“ Julia ging zur Nachbartür und drückte dort auf den Klingelknopf. Die Tür wurde fast sofort geöffnet, und eine junge Frau irgendwo in den Zwanzigern, mit einem eng anliegenden T-Shirt und einer bunten Leggins, schaute sie fragend an. „Ja?“
„Entschuldigen Sie“, sagte Julia. „Wir sind auf der Suche nach Edi Kern.“
Die Antwort kam etwas versetzt: „Oh, den habe ich schon eine ganze Weile nicht mehr gesehen.“
„Erinnern Sie sich, wann Sie ihn das letzte Mal gesehen haben?“
„Wer ist das?“, schrie eine Stimme aus dem Inneren der Wohnung.
„Eine Frau!“, schrie das Mädchen zurück. Dann wieder an Julia gewandt: „Vor zwei Tagen, glaube ich.“
„Glauben Sie oder wissen Sie?“
Die junge Frau zögerte. „Ja, ich bin mir sicher. Vor zwei Tagen. Abends, so gegen sechs. Ich kam gerade nach Hause, und er kam aus seiner Wohnung.“
„Können Sie sich noch daran erinnern, in welcher Verfassung er war?“
„Na ja, ein bisschen aufgeregt war er, glaube ich. Aber das war er ja meistens.“
„Wer sucht nach Edi Kern?“, kam es wieder von drinnen. „Ist das die Polizei?“
„Hör auf zu schreien, Oma! Wir hören dich sehr gut!“
„Was?“
„Wir hören dich sehr gut!“
„Dann sag doch, was die von Edi Kern wollen? Wird er jetzt endlich verhaftet, dieser notorische Kriminelle?“
„Ich erklär es dir später!“
„Was?“
„Ich sagte, später!“
„Ich will es aber jetzt wissen!“ Eine alte Frau kam an die Tür. Eine Hand auf einen Stock gestützt, sah sie Julia fragend an. „Oder kommen Sie wegen der Miete? Er soll ja ständig damit im Rückstand sein.“
„Oma!“
„Arbeitet nix und …“
„Oma!“ Die junge Frau machte eine knappe Handbewegung in Richtung Julia. „Hören Sie nicht auf sie.“ Dann schob sie die Alte zurück in die Wohnung, vermutlich ins Wohnzimmer, und schloss die Tür. Eine Minute später kam sie mit einem entschuldigenden Lächeln zurück. „Meine Oma meint es nicht so. Edi ist ein netter Kerl. Eine harmlosere Type als ihn kann man sich kaum vorstellen – vorausgesetzt, man behält das Silberbesteck im Auge. Haben Sie nebenan geklingelt?“
„Ja.“
„Und es hat niemand aufgemacht?“
„Nein.“
„Dann versuchen Sie es noch einmal. Seine Schwester muss da sein.“
„Er hat eine Schwester?“
„Ja. Und ich bin mir ziemlich sicher, dass sie zu Hause ist.“
Julia bedankte sich und machte sich erneut auf den Weg zur Nachbartür. Dort legte sie den Finger auf die Klingel, und dieses Mal nahm sie ihn nicht mehr vom Knopf, bis die Tür geöffnet wurde.
Eine Frau in einem zerschlissenen Bademantel, deren blondiertes Haar strähnig war und aussah, als wäre es seit Tagen nicht mehr gewaschen worden, sah sie missmutig und mit abweisendem Blick an. „Was wollen Sie?“
„Wir sind auf der Suche nach Edi Kern“, sagte Julia. „Das ist doch seine Wohnung, oder nicht?“
„Das ist seine Wohnung“, gab die Frau zurück. „Aber Edi ist nicht hier.“
„Und wer sind Sie?“
„Ich bin seine Schwester. Leonie.“
„Wir müssen mit Ihrem Bruder sprechen“, beharrte Julia. „Es ist sehr wichtig.“
„Wer sind Sie noch mal?“
„Julia Wagner. Das hier ist Eva Haack.“
„Sind Sie von der Polizei?“
„Ja.“ Erneut benötigte es nur wenig Überwindung für diese Lüge.
Und Leonie wollte glücklicherweise keinen Ausweis sehen. Stattdessen huschte ein weiterer Schatten des Unmuts über ihr Gesicht. „Ich hab doch Ihren Kollegen schon gesagt, dass ich nichts weiß. Ich hab Edi seit zwei Tagen nicht mehr gesehen.“ Es schien ihr noch eine spitze Bemerkung auf der Zunge zu liegen, doch sie klappte den Mund zu und schluckte sie herunter.
Julia blickte überrascht. „Wann waren die Kollegen denn bei Ihnen?“
„Gestern.“
„Und in welcher Angelegenheit?“
„Da ist in einen Kiosk eingebrochen worden“, erklärte Leonie knapp. „Und wie immer, wenn irgendwo eingebrochen wurde, kommen sie zuerst zu Edi. Und dann hat noch einer angerufen, der war bestimmt nicht von der Polizei.“
„Wer?“
„Na, so ein Typ. Er fragte auch nach Edi, und als ich ihm gesagt habe, dass er nicht da ist und ich nicht weiß, wo er steckt, hat er gesagt, ich soll ihm ausrichten, dass er ihn finden und ihm das Gehirn aus dem Kopf dreschen würde, bevor er ihm das Herz aus der Brust schneidet.“
Eva schluckte.
„Hat der Mann seinen Namen genannt?“, wollte Julia wissen.
„Nein.“
„Hat er sonst noch etwas gesagt?“
„Nein. Ich war total erschrocken und hab sofort wieder aufgelegt.“
„Ist Ihnen an der Stimme des Mannes etwas Besonderes ausgefallen?“
Leonie überlegte einen Moment. „Es war eine tiefe Stimme, irgendwie grollend. Und heiser. Als hätte er Kieselsteine geschluckt. Mehr weiß ich wirklich nicht.“ Es schien, als wolle sie die Tür wieder schließen.
„Wir sind nicht wegen des Einbruchs hier“, sagte Julia schnell. „Wir sind von der Mordkommission.“
„Mordkommission“ war einfach ein magisches Wort. Alle zuckten zusammen, wenn sie es hörten. Leonie auch. „Mordkommission?“, entfuhr es ihr.
Julia nickte. „Wir benötigen die Hilfe Ihres Bruders. Als Zeuge.“
„Ja, aber … Wie gesagt …“
„Wie lange wohnen Sie denn schon bei Edi?“
„Schon ein paar Monate.“ Leonie zuckte mit den Schultern. „Er hat ja nie Geld, ist immer pleite. Da war er ganz glücklich, dass ich die Hälfte der Miete beisteuere.“
„Und Sie haben wirklich keine Ahnung, wo er jetzt stecken könnte?“
„Nein. Ich wüsste es selbst gern, er schuldet mir nämlich noch seinen Anteil für diesen Monat.“
„Gibt es Leute, die ihn regelmäßig besuchten?“, fragte Julia weiter.
„Edi hat keine Freunde. Hatte er noch nie. Er ist der Typ, den die anderen in der Schule in die Mülltonne gesteckt haben. Und mehr kann ich Ihnen wirklich nicht sagen.“ Leonie wollte jetzt endgültig die Tür schließen.
„Eine Frage noch“, blieb Julia am Ball. „Hat er Ihnen erzählt, wo er zuletzt gearbeitet hat?“
„Nein. Von sich aus hat er mir nie was erzählt, und ich hab es mir abgewöhnt, Fragen zu stellen.“
„Wie hat er sich verhalten, ehe er verschwunden ist?“
„Komplett irre. Hat ständig von irgendwelchen Vögeln gesprochen.“
Julia horchte auf. „Kraniche?“
„Keine Ahnung, kann sein.“ Leonie winkte ab. „Ich erinnere mich nur, dass es Vögel waren und dass er gesagt hat, sie würden ihn umbringen wollen. War völlig irre, der Kerl. Also, wenn Sie ihn finden, dann sagen Sie ihm, dass ich die volle Miete für den Monat bezahlt hab, und das war so nicht ausgemacht. Und wenn Sie ihm das gesagt haben, dann können Sie ihn meinetwegen dahin bringen, wo er hingehört.“
„Und das wäre?“
„In die Klapsmühle natürlich. Wäre wirklich gut, wenn sich mal jemand um seinen Geisteszustand kümmert.“
„Dafür sind wir nicht zuständig. Aber es würde vielleicht helfen, wenn wir mal mit ihm sprechen könnten.“ Julia hielt Leonies Blick fest und hakte noch einmal nach: „Sie wissen wirklich nicht, wo er ist?“
„Nein, wenn ich’s doch sage. Allerdings …“
„Ja?“
„Früher hatte Edi oft Drogenprobleme. Und zu viel getankt hat er auch gerne. Es gibt da eine Anlaufstelle, wo die Süchtigen hingehen, wenn’s ihnen richtig dreckig geht. Den Sozialarbeitern dort hat er immer vertraut. Vielleicht finden Sie ihn ja dort, ist keine zwei Kilometer von hier.“
„Würden Sie uns die Adresse geben, bitte?“
Leonie seufzte, verschwand im Inneren der Wohnung und kam kurz darauf mit einem kleinen gelben Zettel zurück. „Hier. Und wenn Sie ihn finden, dann sagen Sie ihm das mit der Miete.“
Das war’s. Nun wurde die Tür endgültig vor ihnen zugeschlagen.
„Merkwürdige Person“, sagte Eva.
„Merkwürdiges Paar“, gab Julia zurück.
„Ja, sehr merkwürdig.“
Anstatt sich dem altersschwachen Aufzug ein weiteres Mal anzuvertrauen, zogen sie es vor, die sechs Stockwerke zu Fuß nach unten zu gehen. Das Treppenhaus war düster – in einigen Etagen baumelten nur nackte Glühbirnen von der Decke.
„Da dreht der Bruder offenbar halb durch vor Angst und taucht unter“, sprach Eva weiter, während sie den Blick konzentriert auf die einzelnen Stufen gerichtet hielt. „Die Polizei sucht nach ihm, andere furchterregende Gestalten bedrohen ihn am Telefon, und sie macht sich nur Sorgen um die Miete?“ Kurz hob sie den Blick und sah Julia an. „Was meinst du? Glaubst du ihr? Oder weiß sie nicht doch mehr, als sie sagt?“
„Ich glaube ihr. Wie du gerade selbst feststelltest, hat Leonie ein großes Interesse daran, dass Edi wieder auftaucht – wegen der Miete.“
Als sie schließlich auf den Bürgersteig traten, erfasste sie ein heftiger Windstoß. Sie eilten durch die dichten Schneeflocken zum Wagen und stiegen ein.
„Na ja“, sagte Eva, während sie sich anschnallte. „Der Hinweis auf diese Anlaufstelle ist wenigstens nicht schlecht.“
„Ja.“ Julia startete den Motor. „Er ist immerhin ein Anfang.“