Читать книгу Zarenblut - Ein Fall für Julia Wagner: Band 4 - Tanja Noy - Страница 12

7. KAPITEL

Оглавление

Der Professor

Susanne sah sich um und erblickte ein Mehrfamilienhaus aus Backstein. „Wo sind wir?“

„In Sicherheit.“ Ihr Entführer stieg aus dem Polo und öffnete die Beifahrertür. Ein eiskalter Wind zog augenblicklich in den Wagen und vertrieb die warme Heizungsluft. „Kommen Sie.“

„Ich denke nicht daran. Ich weiß ja noch nicht einmal, wo wir sind.“

„Nicht weit von Hannover entfernt. Genau genommen gerade mal siebzehn Kilometer.“

„Wirklich? Dafür sind wir aber ziemlich lange gefahren.“

„Es war nötig, einige Schleifen zu fahren, um unsere Verfolger auch wirklich abzuschütteln. Und jetzt kommen Sie. Oder trauen Sie mir etwa immer noch nicht?“

„Machen Sie Witze? Sie haben mich gerade entführt und dann gefühlte Stunden kreuz und quer durch die Gegend gefahren.“

„Ich habe Sie nicht entführt. Ich habe Sie vor einer Entführung bewahrt. Jetzt kommen Sie schon, steigen Sie aus.“

„Nein.“

„Ich bitte Sie.“

Susanne starrte den Mann mit dem struppigen Vollbart an. „Wer sind Sie überhaupt?“

„Mein Name ist Karl Dickfeld. Und wie heißen Sie?“

„Claudia Müller.“

„In Ordnung, Claudia. Sie werden wohl einsehen, dass ich, hätte ich Sie umbringen wollen, es längst getan hätte. Also kommen Sie. Es ist wirklich niemandem geholfen, wenn wir hier draußen erfrieren.“

Widerwillig stieg Susanne aus dem Polo. Der eisige Wind schnitt ihr sofort ins Gesicht.

„Kommen Sie“, sagte der Mann noch einmal, und als sie sich in Bewegung setzte, fügte er hinzu: „Ist alles in Ordnung? Sie hinken und entlasten Ihr rechtes Bein beim Gehen.“

„Tatsächlich? Das ist mir noch gar nicht aufgefallen. Sind Sie Arzt?“

„Nein. Journalist.“

„Wirklich? Darauf wäre ich nicht gekommen. Sie sehen aus wie mein Professor an der Uni.“

„Das ist nichts Neues, das sagen mir alle. Und vermutlich nennen mich deshalb auch alle so: Professor. Meinetwegen können Sie das ruhig auch tun.“

Sie gingen eilig auf das Backsteinhaus zu.

„Bei welcher Zeitung arbeiten Sie?“, fragte Susanne.

„Ich bin zurzeit ohne Job.“

Gleich darauf blieben sie vor der schäbigen Eingangstür des Hauses stehen. Der Professor schloss auf und sah sie an. „Herzlich willkommen in unserem vorläufigen Zufluchtsort.“

Kurz darauf stieß er eine Wohnungstür auf und sagte: „Treten Sie ein.“

Widerwillig betrat Susanne die Wohnung und blieb einen Moment stehen, um sich blinzelnd umzusehen. Hier herrschte ein Chaos, wie sie es noch nie zuvor gesehen hatte. Im Vergleich dazu war ihre eigene Wohnung, als sie noch eine gehabt hatte, ordentlich aufgeräumt gewesen. Die Möbel waren unter den Unmengen an Dingen, mit denen sie überhäuft waren, kaum noch auszumachen. Ein kleiner Fernseher drohte jeden Augenblick von einem Stapel Bücher herunterzupurzeln. Die Regale an der Wand quollen über vor Büchern, die sich unter einer dicken Staubschicht aneinanderdrängten. Eine Wand war von der Decke bis zum Boden mit Papierbogen bepflastert, auf denen dicht an dicht Spalten mit Zahlen standen. Tausende von Zahlen. Einige rot durchgestrichen, andere wiederum mit Blau oder Grün geschrieben.

„Wollen Sie sich setzen?“, fragte der Professor, der hinter ihr eingetreten war.

„Wohin?“, stellte Susanne die Gegenfrage und deutete auf den Krimskrams, der überall herumstand: Fotos, Statuen, Kugelschreiber, Tassen und ein ganzer Haufen Zeug, der auf den ersten Blick nicht zu identifizieren war. Überall lagerten Dinge über anderen Dingen, sodass es ein Wunder war, dass nichts umfiel.

„Oh, natürlich. Warten Sie, ich hole Ihnen einen Stuhl aus der Küche. Und etwas zu trinken.“

Bevor Susanne dazu kam, dankend abzulehnen, war er schon verschwunden.

Kurz darauf kam er mit einem Holzstuhl zurück, den er neben sie hinstellte. Dann verschwand er noch einmal und brachte ein Glas Wasser. Er riss ein Päckchen auf und schüttete ein Pulver hinein, ehe er es ihr reichte.

Skeptisch betrachtete Susanne das Glas. „Sie versuchen doch nicht etwa, mich zu vergiften, oder?“

„Das ist nur Aspirin. Wenn Sie wollen, koste ich davon, ehe Sie es trinken.“

„Nein, schon gut.“ Sie nahm das Glas und stürzte den Inhalt hinunter.

Inzwischen schaffte der Professor ein wenig Platz auf einem Sessel, auf den er sich erschöpft sinken ließ, zog einen Flachmann aus seiner Hosentasche, schraubte ihn auf und trank einen großen Schluck. „Nun ja“, sagte er dann. „Ich schätze, es ist offensichtlich, dass mein Freund nicht sonderlich gut im Aufräumen ist.“

Susanne blickte überrascht. „Das ist gar nicht Ihre Wohnung?“

„Nein. Sie gehört einem guten Freund von mir. Er ist Mathematiker und glücklicherweise gerade im Urlaub. In der Karibik, mit seiner neuen Freundin. Na ja, vermutlich wäre im Augenblick jeder Ort schöner als dieser hier.“ Der Professor nahm noch einen weiteren Schluck aus dem Flachmann. „Aber ich würde mich gerade nur sehr ungern in meiner eigenen Wohnung aufhalten wollen.“ Er streckte die Beine von sich, wobei sich sein Bauch rundlich über den Gürtel seiner Hose schob. „Und jetzt sagen Sie mir: Warum waren Sie im Haus der Anwältin?“

Susanne, deren Knie noch immer zitterten, ließ sich auf den Stuhl sinken, den er ihr gebracht hatte. „Ich wollte mit ihr reden.“

„Worüber?“

„Das ist eine lange Geschichte.“

„Ich schätze, wir haben Zeit. Also fangen Sie am besten ganz vorne an.“

Susanne seufzte leise. Dann holte sie tief Luft und erzählte dem Professor ihre Geschichte. Die Geschichte der letzten fünf Monate.

Als sie geendet hatte, starrte er sie entgeistert an. „Sie sind auf der Flucht vor der Polizei?“

„Ja. Aber ich habe eigentlich nichts getan. Nicht wirklich. Ich wurde in eine Falle gelockt.“

„Sie sind aus einer geschlossenen Psychiatrie … geflüchtet.“

„Ja, das stimmt. Ich bin geflohen. Aber ich sah keine andere Möglichkeit.“

„Sie sind tatsächlich auf der Flucht.“

„Sie haben es jetzt oft genug wiederholt“, bemerkte Susanne gereizt. „Worum es im Augenblick geht, ist ja wohl, dass die Anwältin mich in der Psychiatrie besucht und auf eine Mitpatientin gehetzt hat.“

„Wie war der Name dieser Mitpatientin?“

„Julia Wagner. Ich sollte sie … aushorchen.“

„Warum sollten Sie das tun?“

„Keine Ahnung.“ Susanne hob die Schultern in die Höhe. „Das hat sie mir leider nicht gesagt. Sie sagte nur, ich könne meine Freiheit wiederbekommen, wenn ich Julia ausspioniere.“

„Haben Sie noch Kontakt zu dieser Julia?“

„Nein. Ich habe sie seit meiner Flucht nicht mehr gesehen.“

Der Professor schwieg nachdenklich.

„Was hatten Sie eigentlich beim Haus der Anwältin zu suchen?“, wollte Susanne wissen.

Er sah sie an. „Oh, ich sollte eine Enthüllungsstory schreiben. Sie hat sich vor zwei Tagen bei mir gemeldet und meinte, sie würde mir etwas anbieten, was meine … nennen wir es: ins Stocken geratene … Journalistenkarriere wieder zum Laufen bringen würde.“

„Und haben Sie sich getroffen?“

„Oh ja.“

Der Professor sah auf, als die Frau an den Tisch trat. Eine beeindruckende Gestalt, schlank, gut aussehend, mit einem schwarzen Rock und einer roten Bluse. „Herr Dickfeld?“, fragte sie.

Er nickte, und Britta Stark nahm ihm gegenüber Platz. „Danke, dass Sie sich mit mir treffen.“

„Sehr gerne. Ich fürchte nur, dass das hier“, er deutete um sich, „mein Budget sprengen wird. In dieser Art Restaurants verkehre ich normalerweise nicht.“

„Machen Sie sich darum keine Sorgen. Sie sind eingeladen.“

Ein Kellner trat an den Tisch, die Anwältin bestellte lediglich ein großes Wasser, der Professor entschied sich für einen teuren Cognac.

„Sie dürfen auch gerne etwas essen“, sagte Britta Stark. „Das wäre sicher leberschonender.“

„Danke, ich bin zufrieden.“

Nachdem der Kellner die Getränke gebracht hatte und wieder verschwunden war, gönnte der Professor sich einen großen, wunderbaren Schluck Cognac. Dann noch einen – und gleich darauf war das Glas leer.

Britta Stark musterte ihn über den Tisch hinweg. „Sie hätten ihn mehr genießen sollen. Er kostet ein Vermögen.“

„Worum geht es?“, wollte er wissen.

Die Anwältin beugte sich etwas vor. „Wie ich bereits am Telefon sagte, habe ich eine Story für Sie. Eine, die Ihnen wieder zurück an die Spitze helfen wird.“ Ihr Blick streifte das leere Cognacglas. „Vorausgesetzt, Sie sind dafür nüchtern genug.“

„Das bin ich“, stellte der Professor fest. „Aber genau das bringt mich zu meiner dringlichsten Frage: Warum ausgerechnet ich? Ich meine, ich bin mir völlig im Klaren darüber, dass ich ein alternder Mann bin, der in der modernen, schnellen und knallharten Journalistenwelt eigentlich keine Chance mehr hat. Ich habe meinen Zenit längst überschritten, um es mal so auszudrücken.“

Britta Stark sah ihn herausfordernd an. „Wollen Sie hören, was ich Ihnen zu sagen habe, oder nicht?“

„Sicher will ich. Ich wollte es nur gesagt haben.“

„Gut.“ Sie trank einen kleinen Schluck von ihrem Wasser. Dann faltete sie die Hände wie zum Gebet, legte sie auf den Tisch, beugte sich noch weiter vor und sagte: „Haben Sie schon einmal etwas von den Kranichen gehört?“

Susanne fuhr in die Höhe. „Haben Sie gerade Kraniche gesagt?“

Der Professor nickte. „Sagt Ihnen der Name etwas?“

„Allerdings. Ich hatte in Norwegen die Gelegenheit, einen Ausschnitt einer Mail zu lesen, in der dieser Name fiel: Kraniche. In dieser Mail stand, dass sie mich schon lange im Visier haben.“

„Wie bitte?“ Der Professor blinzelte. „Sie?“

„Ja. Sie hätten mich schon lange im Visier. Mehr stand in der Mail leider nicht.“

„Um Himmels willen, was könnten Sie denn getan haben, um in deren Schussfeld zu geraten?“

„Ich habe keine Ahnung.“ Susanne machte eine kurze Pause. Dann fügte sie hinzu: „Ich habe tausend Fragen, aber nicht eine einzige Antwort.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Ich weiß nur, dass Britta Stark den Auftrag für den fingierten Vergewaltigungsversuch gegeben hat, das habe ich inzwischen herausgefunden. Ich hatte eine Menge Fragen an sie, aber leider war sie tot, bevor sie mir auch nur eine davon beantworten konnte.“

„Nun ja“, setzte der Professor an. „Britta Stark war ein Kranich.“

Susanne sah auf. „Jetzt im Nachhinein, wenn ich so darüber nachdenke, ergibt das natürlich Sinn …“ Sie brach ab und starrte einen Moment lang auf den Boden. Die ganze Situation fühlte sich so unwirklich an. Dann hob sie den Blick wieder und richtete ihn erneut auf den Professor. „Was sind das für Leute?“

„Sie haben wirklich keine Ahnung?“

„Nein.“

„Nun, dann werde ich Ihnen auf die Sprünge helfen.“ Der Professor nahm wieder einen großzügigen Schluck aus seinem Flachmann. „Mir sagte der Name Kranich bis vor einer Woche nämlich ebenfalls nichts. Dann aber, als Britta Stark mit ihren Erzählungen fertig war, war ich, gelinde gesagt, geschockt. Wie ich bereits gesagt habe, war sie ein Mitglied der Kraniche und wollte nun aussteigen.“ Noch ein Schluck aus dem Flachmann. „Ich gebe zu, ich habe gezweifelt, war mir nicht sicher, ob ich nicht auf den Arm genommen werde. Ich wusste es nicht. Ich wusste es wirklich nicht. Als wir auseinandergegangen sind, sagte sie, sie würde sich wieder bei mir melden, und das hat sie auch getan. Gestern Abend. Wir haben uns für heute Abend verabredet. Sie sagte, ich solle zu ihr kommen, dann würde sie mir Beweise liefern für alles, was sie mir erzählt hatte.“ Der Professor hob bedauernd die Hände und ließ sie dann zurück in den Schoß fallen. „Es kam nicht mehr dazu. Jetzt ist sie tot.“

Susanne überlegte, ob sie fragen oder es doch besser lassen sollte. Schließlich entschied sie sich dafür, zu fragen: „Was hat sie Ihnen denn erzählt?“

„Dass es sich bei den Kranichen um eine Organisation handelt, die schon sehr lange existiert, die in sehr schmutzige Geschäfte verwickelt ist und ein festes Ziel hat.“ Der Professor rutschte in seinem Sessel herum, um es sich ein wenig bequemer zu machen. „Damit Sie das alles verstehen, muss ich etwas weiter ausholen.“ Er legte wieder die Lippen an den Flachmann, trank einen Schluck, dann sprach er weiter: „Die Kraniche haben sich bereits in den frühen Zwanzigerjahren des vorigen Jahrhunderts formiert. Angeführt von einem Mann namens Elmer Nilson, einem Norweger. Bereits damals verfolgten sie ein Ziel. Sie bereiteten sich auf die neue Zeit vor, auch bekannt unter dem Namen: Tausendjähriges Reich.“

„Ach du Scheiße“, entfuhr es Susanne.

„Ja, so kann man es auch nennen“, bemerkte der Professor. „Sie fanden wohl, es sei ihre Aufgabe, dieses Tausendjährige Reich vorzubereiten, und so formierten sie sich, während sich gleichzeitig in Deutschland die ersten Nazis zusammentaten, die denselben bösen Traum hatten, wie Sie wissen.“ Wieder ein Schluck aus dem Flachmann. „Ich muss wohl nicht extra erwähnen, dass sich beide Seiten schon sehr bald zusammentaten. Doch auch nach dem Zweiten Weltkrieg zerfielen die Kraniche nicht, im Gegenteil, sie breiteten sich immer weiter in Deutschland aus, und ihr Einfluss wurde größer und größer. Sie verfügen über einen eigenen Geheimdienst und haben inzwischen überall Spione, die verdammt gut sind, sehr professionell. Äußerst effektiv, sehr verschwiegen und finanziell üppig ausgestattet. Die Leute fürs Grobe, sozusagen, für Schweinereien, die wir uns nicht einmal vorstellen können. Und wollen. Außerdem haben sie eine Menge Leute auf ihrer Gehaltsliste – Polizisten, Politiker, Journalisten, Akademiker … was immer Sie wollen. Diese Leute verstehen etwas von ihrem Handwerk, darauf können Sie sich verlassen. Und so … werden sie schon bald den Krieg führen können, den sie im Sinn haben. Und ihn gewinnen.“

„Mir gefällt das Wort Krieg nicht“, bemerkte Susanne.

„Aber genau genommen befinden wir uns schon mittendrin.“ Der Professor wirkte jetzt sichtlich angespannt. „Die Kraniche wollen den Untergang des Rechtsstaates, und sie setzen alles daran, um das auch zu erreichen.“

„Könnten Sie …“ Susanne schluckte. „Könnten Sie mir etwas davon abgeben?“ Sie deutete auf den Flachmann in der Hand des Professors.

„Aber natürlich. Verzeihen Sie. Ich bin ein schlechter Gastgeber.“ Er erhob sich.

„Ich brauche kein neues Glas“, sagte sie schnell. „Schütten Sie es einfach hier rein.“ Sie hielt ihm das Glas hin, in dem sich vor ein paar Minuten noch das Aspirin befunden hatte.

Der Professor goss es zur Hälfte voll.

„Danke.“ Susanne trank einen großen Schluck. „Wenn es stimmt, was Sie sagen“, setzte sie an, „dann ist das … angsteinflößend.“

„Ja, nicht wahr?“ Der Professor setzte sich wieder. „Der Punkt ist: Die Kraniche sind keine Ansammlung von einsamen Irren mit einer seltsamen Idee.“

„Das finde ich aber schon.“

„Ganz im Gegenteil. Wir reden von einer einflussreichen gesellschaftlichen Kraft. Sie haben eine Menge Anhänger, die neben allen Unterschieden ein gemeinsames Ziel haben. Und das macht sie so gefährlich.“

„Also, ich kann mir nicht vorstellen, dass Deutschland durchzogen ist von Nazis. Dass es ein paar vereinzelte Gruppierungen gibt, ist schlimm genug, aber …“

„Täuschen Sie sich nicht.“

Susanne nahm noch einen Schluck aus ihrem Glas. „Sie meinen das, was Sie sagen, ernst, oder?“, fragte sie dann.

Der Professor hielt ihrem Blick stand. „Ja.“

Sie schwiegen einen Moment.

Dann fragte sie: „Haben Sie einen Beweis für irgendetwas von dem, was Sie mir gerade erzählt haben?“

„Leider nein.“ Der Professor hob entschuldigend die Hände. „Wie gesagt, es kam nur zu dem einen Treffen mit Britta Stark. Bisher habe ich nichts, worauf man einen Finger legen könnte.“

„Vielleicht, weil alles nur erfunden ist. Weil Sie einem Schwindel aufgesessen sind.“ Susanne richtete sich etwas auf. „Ich meine, wie viel Verlass ist auf die Worte einer Anwältin, die nachweislich Dreck am Stecken hatte? Wie glaubhaft ist ihre Aussage über irgendwelche Kraniche, die das Tausendjährige Reich erschaffen wollen und bereits die halbe Regierung infiltriert haben?“ Sie sah ihn herausfordernd an. „Wie glaubwürdig ist das?“

„Sie haben absolut recht“, sagte der Professor. „Ich bin selbst nicht sehr leichtgläubig und habe auch schon darüber nachgedacht, ob das nur ein Schwindel ist. Aber die entscheidende Frage ist doch: Was hätte es Britta Stark gebracht, mir einen derartigen Bären aufzubinden?“

Susanne kniff die Augen zusammen. „Kannten Sie sie vielleicht von irgendwoher? Sind Sie ihr vorher schon einmal begegnet? Hatte sie aus irgendeinem Grund einen Hass auf Sie? Haben Sie vielleicht irgendwann einmal schlecht über sie geschrieben?“

„Nein, nein, nein und nein.“

Diesen Worten des Professors folgte ein weiterer langer Augenblick des Schweigens.

„Und was hat die Anwältin dazu bewogen, die Seiten wechseln zu wollen?“, fragte Susanne dann.

„Das habe ich sie auch gefragt. Sie hat mich angesehen und gesagt …“

„Wir alle müssen uns irgendwann für eine Seite entscheiden. Und ich habe mich entschieden.“

Der Professor stellte das Cognacglas auf den Tisch und schob es ein Stück von sich weg. „Wenn es stimmt, was Sie mir gerade erzählt haben, kann Sie ein Verrat das Leben kosten.“

„Dessen bin ich mir bewusst, aber wie ich gerade sagte, ich habe mich entschieden.“ Die Anwältin griff nach ihrem Mantel. „Irgendwann ist die Zeit reif, zu handeln. Und diese Zeit ist jetzt.“ Damit erhob sie sich, knöpfte den Mantel bis oben hin zu und verließ das Restaurant.

Eilig lief der Professor hinter ihr her. „Warten Sie!“

Vor dem Restaurant blieb sie noch einmal stehen und wandte sich zu ihm um.

„Ich bin mir nicht sicher, ob ich der Richtige dafür bin“, gestand er.

„Nun, dann denken Sie noch einmal darüber nach.“

„Es ist … gefährlich.“

Ernst sah Britta Stark dem Professor in die Augen. „Es ist Ihre Entscheidung. Sie können jetzt zurück in Ihr gemütliches Zuhause gehen, sich einen Schnaps nach dem anderen hinter die Binde kippen und die Sache vergessen. Wenn Sie jedoch weiter an der Geschichte interessiert sind, dann sehen wir uns wieder.“

Das Licht flackerte, ging für zwei Sekunden aus, dann wieder an.

„Ich habe darüber nachgedacht“, sagte der Professor. „Das Ganze gefiel mir nicht. Ich war immer nur ein einfacher Schmierenschreiber, wenn Sie verstehen, was ich meine. Aber dann … Als sie mich anrief, habe ich mich entschieden, mich doch noch einmal mit ihr zu treffen. Jetzt ist sie tot, und das ist das vorläufige Ende der Geschichte.“

Langsam schüttelte Susanne den Kopf. „Sie wollte also auspacken, und deshalb wurde sie umgebracht.“

„Ja.“ Der Professor hob den Blick und sah sie an. „Und ich glaube zu wissen, wer ihr Mörder ist.“

„Die Kraniche, das habe ich schon verstanden.“

„Nein, ich meine, ich glaube den Namen ihres Mörders zu kennen. Sein Name ist Schiller. Eduard Schiller.“

Wieder flackerte das Licht für einen kurzen Moment.

„Woher …?“, setzte Susanne an.

„Sie hat es mir gesagt.“

„Wer? Britta Stark?“

„Ja. Sie war nach unserem Treffen schon im Taxi, doch dann ist sie noch einmal ausgestiegen und zu mir zurückgekommen. Sie hat gesagt: ‚Wenn mir etwas zustößt, Herr Dickfeld, wenn ich nicht mehr dazu komme, noch einmal mit Ihnen zu sprechen, dann war Eduard Schiller mein Mörder. Merken Sie sich diesen Namen.‘“

Susanne hob die Augenbrauen. „Sind Sie ganz sicher, dass sie das gesagt hat?“

„Ganz sicher. Sie sagte klar und deutlich: Dann war Eduard Schiller mein Mörder.“

„Wer ist das? Was ist das für ein Mann?“

„Warten Sie.“ Der Professor erhob sich, verließ das Wohnzimmer und kam wenig später mit ein paar Papieren zurück. Er setzte sich wieder. „Nach dem Gespräch mit ihr habe ich mich zu Hause ein wenig mit dem Mann auseinandergesetzt, habe im Internet recherchiert und einige alte Zeitungsartikel gefunden.“ Er reichte Susanne ein DIN-A4-Blatt. „Das ist er. Ich hab das Foto im Netz gefunden und ausgedruckt.“

Susanne griff nach dem Papier und schaute ihn dann ungläubig an. „Der sieht ja aus wie George Clooney.“ Man hätte diesen Mann ohne Probleme in einem Lifestylemagazin zeigen können, es wäre kaum jemandem aufgefallen, dass er nicht der berühmte Schauspieler war.

„Ja“, bestätigte der Professor. „Ein schöner Mann, zweifellos.“

„Er sieht überhaupt nicht gefährlich aus.“

„Sagen Sie das Britta Stark. Leider ist der Mann nur nach außen hin schön, in seinem Inneren ist nicht sehr viel Schönes zu finden.“

Susanne ließ das Foto sinken. „Was wissen Sie über ihn?“

„Leider kaum etwas. Nur eine Sache: Vor zwölf Jahren wurde Schiller verhaftet und verurteilt. In den Gerichtsprotokollen war zu lesen, dass er nach einer Taxifahrt mit dem Fahrer in Streit geraten war, weil dieser ihm angeblich zu viel Fahrtkosten berechnet hatte. Es gab ein Handgemenge, bei dem Schiller den Kopf des Fahrers auf das Lenkrad schlug, was diesem das Genick gebrochen hat. Schiller verschwand, stellte sich aber zwei Tage später der Polizei. Und jetzt raten Sie, wer damals seine Anwältin war.“

„Britta Stark?“

„Exakt. Sie hat es geschafft, dass Schiller nur wegen fahrlässiger Tötung angeklagt wurde. Er saß zwei Jahre ab, der Rest wurde zur Bewährung ausgesetzt. Nach seiner Entlassung hat man dann nichts mehr von ihm gehört. Er ist nicht mehr aufgefallen, ist sozusagen scheu geworden wie ein Reh. Offiziell besitzt er ein Antiquitätengeschäft in der Altstadt, lebt dafür aber auf ziemlich großem Fuß. Auf zu großem Fuß, wie ich meine.“

„Aber wenn die Anwältin ihn rausgepaukt hat, dann sollte Schiller ihr doch ein Denkmal setzen und sie nicht umbringen.“

„Er ist ein Mörder.“

„Ja. Das haben Sie bereits gesagt, und der tote Taxifahrer würde das sicher bestätigen, aber es gibt keinen Beweis dafür, dass er Britta Stark umgebracht hat.“

„Er und sie arbeiteten für dieselbe Bande. Für die Kraniche.“

„Das sagen Sie. Ich meine, was diesen Schiller betrifft, ist das allein Ihre Behauptung – oder können Sie es beweisen?“

„Nein. Leider nicht.“

In die darauffolgende Stille drang nur das Rauschen des Windes vor dem Fenster.

„Wie auch immer“, sagte Susanne. „Das ist nicht gut. Das ist gar nicht gut.“

Der Professor stieß einen erleichterten Seufzer aus. „Gott sei Dank, Sie sehen es ein.“

Irritiert sah sie auf. „Wie bitte?“

„Sie sehen ein, dass wir uns gemeinsam darum kümmern müssen.“

„Uns darum kümmern? Wie stellen Sie sich das vor? Ist Ihnen eigentlich klar, wovon wir hier reden? Wir reden von einer verdammten Mafia!“

„Das ist keine Mafia.“ Der Professor rieb sich über die Stirn.

„Für mich schon. Sie sind mächtig, und sie morden kaltblütig. Und was das Schlimmste ist: Sie sind zudem noch verrückt.“ Susanne warf die Hände in die Luft. „Ich kann überhaupt nicht glauben, dass Sie hier sitzen wie Buddha persönlich und offenbar kein Stück Angst haben, während mir nach allem, was Sie mir gerade erzählt haben, die Knie nur so schlottern.“ Sie erhob sich und begann, im Zimmer hin und her zu gehen, weil sie nicht länger still sitzen konnte. Schließlich blieb sie wieder stehen und wandte sich zu ihm um. „Warum gehen Sie nicht zur Polizei? Dann können die sich darum kümmern, das ist schließlich deren Job.“

„Haben Sie mir gerade nicht zugehört?“, sagte der Professor. „Erstens habe ich überhaupt noch keine Beweise, und zweitens befinden sich Kraniche auch in den Reihen der Polizei. Niemand würde mir glauben, und niemand würde mir helfen. Eher würde man vermuten, ich hätte etwas mit der Ermordung der Anwältin zu tun.“

„Der Platz ist schon besetzt. Den habe ich.“

„Nein, es ist noch nicht der richtige Augenblick“, redete der Professor weiter, als hätte er Susannes Einwand nicht gehört. „Wir müssen uns erst einmal alleine darum kümmern. Wir …“

„Das können Sie sich sofort wieder aus dem Kopf schlagen“, fiel Susanne ihm ins Wort.

„So hören Sie mir doch …“

„Nein!“ Susanne wandte sich in Richtung Tür. „Ich bin raus.“

„Wo wollen Sie hin?“, fragte der Professor.

„Weg von hier. Weg von dem ganzen Scheiß.“

Und damit ließ sie die Tür hinter sich ins Schloss fallen.

Zarenblut - Ein Fall für Julia Wagner: Band 4

Подняться наверх