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4. KAPITEL

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Fehler Nummer eins

Hannover

Susanne rannte, Schutz vor Wind und Schnee suchend, auf ein grün-weiß gestrichenes Haus zu, zu dem von der Straße aus eine Treppe hinaufführte. Sie stieg eilig hinauf und schüttelte sich oben angekommen erst einmal wie ein nasser Hund. Dann fixierte sie die Klingelschilder, drückte kurz entschlossen einmal auf jeden Knopf und wartete. Jemand öffnete, ohne nachzufragen, sie betrat das Haus und stieg weitere Treppen nach oben.

Vor dem richtigen Namensschild angekommen, blieb sie stehen und murmelte: „Es geht los. Zeit für die Wahrheit.“ Und drückte auf den Klingelknopf.

Eine junge Frau in blauer Jogginghose und einem einfachen Sweatshirt öffnete die Tür. Ihr blondes Haar war im Nacken zusammengebunden, und das hübsche, ungeschminkte Gesicht blickte Susanne verwirrt an. „Ja?“

„Hallo, Lisa.“

Es dauerte einen Moment, doch dann flackerte Erkenntnis in Lisa Vollraths Gesicht auf. Sie wollte die Tür wieder zuschlagen, doch Susanne schob reaktionsschnell ihre Schuhspitze in den Spalt. Das hatte sie schon tausendmal in Filmen gesehen, aber nie selbst ausprobiert. Es funktionierte.

„Ich kann mir vorstellen, dass du einigermaßen überrascht bist über meinen Besuch“, sagte sie. „Aber ich dachte, es würde dich bestimmt freuen. Immerhin haben wir uns lange nicht mehr gesehen. Und – da bin ich.“

„Was willst du?“, fragte Lisa, ohne den Druck von der Tür zu nehmen.

„Mit dir reden.“

„Ich will aber nicht mit dir reden.“

„Tja, das tut mir leid für dich, aber das wird sich nicht vermeiden lassen.“ Mit einer einzigen Bewegung drückte Susanne die Tür auf und Lisa beiseite und betrat die Wohnung.

Im Wohnzimmer blieb sie stehen und sah sich um. Der Teppich war weiß, die Couchgarnitur stahlblau mit Zierkissen in Gelb. Einige glänzende Grünpflanzen schmückten den Raum. Ein schwacher Duft von Äpfeln und Mandarinen hing in der Luft.

„Nette Wohnung. Sicher nicht billig.“

„Ich habe dir nichts zu sagen.“ Mit verschränkten Armen stand Lisa in der Tür. „Ich bitte dich, sofort wieder zu gehen. Oder ich rufe die Polizei.“

Susanne wandte sich zu ihr um. „Siehst du, und ich weiß, dass du genau das nicht tun wirst.“ Sie machte zwei Schritte auf Lisa zu. „Du wirst die Polizei nicht rufen, denn wenn du das tätest, dann müsstest du denen erklären, warum du – gemeinsam mit dem Schwein Egert – einen Vergewaltigungsversuch vorgetäuscht und anschließend eine Falschaussage bei der Polizei gemacht hast.“

Lisa wurde blass, senkte den Blick und starrte zu Boden.

„Eine Falschaussage, wegen der ich in der geschlossenen Psychiatrie gelandet bin“, fügte Susanne mit Eiseskälte in der Stimme hinzu.

Da Lisa immer noch nichts sagte, sprach sie weiter: „Ich war viel zu lange davon überzeugt, dass du ein guter Mensch bist. Aber das bist du nicht. Ich weiß nicht, was du bist, Lisa, aber gut bist du nicht. Egert und du, ihr wusstet beide sehr genau, dass ich nicht tatenlos zusehen würde, wie er dich vergewaltigt. Ihr wusstet beide, dass ich dazwischengehen würde. Und genau das war der Plan.“

„Es hat dich niemand gezwungen, ihm eine Glasscherbe in den Rücken zu rammen“, begehrte Lisa jetzt auf.

„Ihr habt mich reingelegt!“, giftete Susanne zurück. „Und das habt ihr verdammt überzeugend getan.“ Sie atmete tief durch und zwang sich zur Ruhe. Dann sagte sie etwas leiser: „Ihr habt den Vergewaltigungsversuch vorgetäuscht, das ist ein Fakt. Und ich würde jetzt gerne wissen, warum ihr das getan habt. Deshalb bin ich hier.“

Keine Antwort von Lisa, kein Kommentar.

„Ich bin hier“, fuhr Susanne fort, „weil ich mein Leben wiederhaben möchte.“

Nichts.

„Weil niemand gerne von der Polizei gejagt wird.“

Lisa drängte sich an Susanne vorbei, ging zum Wohnzimmertisch und griff dort nach einer Schachtel Zigaretten.

„Was würdest du an meiner Stelle tun?“, fragte Susanne an ihren Rücken gewandt. „Was würdest du tun, um dein Leben zurückzubekommen?“

Der Wind rüttelte am Fenster. Das war das einzige Geräusch, das im Zimmer zu hören war. Sonst nichts.

Susanne trat zu Lisa und drehte sie zu sich herum. „Ich bin bereit, bis zum Äußersten dafür zu gehen. Ich habe nichts mehr zu verlieren.“

„Wir haben den Vergewaltigungsversuch nicht vorgetäuscht“, sagte Lisa. „Das ist Unsinn. Lächerlich.“

„Du kannst aufhören, zu lügen.“ Susanne griff in ihre Handtasche. „Du hast ja sicher mitbekommen, dass mir vor fünf Monaten die Flucht aus der geschlossenen Psychiatrie gelungen ist. Ich war die ganze Zeit in Norwegen, und dort wäre ich sicher auch noch eine Weile geblieben, aber dann bekam ich plötzlich ein paar E-Mails, und die Lage änderte sich. Es handelte sich allerdings nicht nur um reine Textnachrichten, es waren auch ein paar schöne Fotos dabei.“ Sie zog einige Farbausdrucke heraus, faltete sie auseinander und warf sie auf den Tisch. „Du hast bei der Polizei ausgesagt, du hättest Egert an jenem Abend zum ersten Mal gesehen, aber das war eine Lüge. Ihr habt euch schon lange vorher gekannt. Sieh dir die Fotos an, die euch so wunderbar vereint zeigen, und dann guck dir an, wann sie gemacht wurden.“

Lisa warf nur einen kurzen Blick auf die Ausdrucke, aber der genügte, um sie erneut blass werden zu lassen. Sie sagte jedoch nichts, sondern schwieg wieder.

„Darf ich raten?“, blieb Susanne am Ball. „Es ging um Geld. Ich meine, diese Wohnung hier …“, sie deutete um sich, „muss ja irgendwie bezahlt werden, und du bist Studentin. Also, ich hätte mir eine solche Wohnung nicht leisten können, als ich noch studiert habe. Wie viel hast du dafür bekommen?“

Es dauerte noch einen Moment, dann, endlich, sackte Lisa in sich zusammen. Ihre Nase wurde rot, und um ihren Mund und ihr Kinn bildete sich ein feuriges Dreieck. „Ich hab es nicht gewusst, okay? Ich war pleite und hatte keine Ahnung, worum es ging.“

„Na, da wären wir doch endlich beim springenden Punkt: Worum ging es denn?“

Mit zitternden Fingern zündete Lisa die Zigarette an, die sie die ganze Zeit in der Hand gehalten hatte. Sie inhalierte einmal tief und stieß den Rauch in Richtung Decke aus. Dann sagte sie: „Ich hatte jede Menge Schulden. Das Leben ist teuer. Ich wollte schon immer schöne Dinge haben, wollte diese Wohnung nicht aufgeben. Aber ich konnte mir all das nicht leisten. Ohne einen schnellen Job wäre ich auf der Straße gelandet.“ Sie brach ab.

„Und dann macht man schon mal so etwas. Willst du das damit sagen?“

„Ich bin zu weit gegangen. Es tut mir leid.“

„Wie viel hast du dafür bekommen?“

Eine kurze Pause.

Dann sagte Lisa: „Fünfzehntausend.“

Fünfzehntausend, das war ihr Leben also wert. Susannes unterdrückte Wut schien den ganzen Raum auszufüllen. „Wer hat dir das Geld gegeben?“, wollte sie wissen.

„Eine Frau. Sie kam zu mir. Ein paar Wochen vor … der Geschichte. Sie wusste genau, dass ich Probleme hatte, Geldprobleme, und sie bot mir an, mir aus der Klemme zu helfen.“

„Wie war der Name der Frau?“

„Es handelte sich um eine Anwältin.“

„Der Name.“

„Britta Stark.“

Zischend sog Susanne die Luft ein. Stieß sie dann wieder aus. Einen Moment lang stand sie vollkommen bewegungslos in der Mitte des Zimmers. Dann fragte sie: „Hat sie einen Grund für diese Schmierenkomödie genannt?“

„Nein.“ Lisa zog wieder an ihrer Zigarette. „Sie nannte es einen schnellen Auftrag, der mir Geld bringt. Und ich habe … Ja gesagt.“

Wieder stand Susanne ein paar Sekunden lang vollkommen reglos da, dann nickte sie langsam und wandte sich in Richtung Tür.

„Was hast du vor?“, fragte Lisa hinter ihr.

„Was wohl? Ich werde der sauberen Frau Anwältin einen Besuch abstatten und mich mit ihr ebenso nett unterhalten wie mit dir.“

Sofort war Lisa bei Susanne und hielt sie am Arm fest. „Lass das. Mach keine Dummheiten.“

„Warum nicht?“ Susanne funkelte Lisa an. „Ich bin aus der geschlossenen Psychiatrie geflohen und seitdem auf der Flucht vor der Polizei. Ich musste meinen Namen und mein Aussehen ändern, und das Wort ‚Angst‘ hat seitdem eine ganz neue Bedeutung für mich. Also, viel schlimmer kann es für mich ja wohl kaum noch werden.“ Damit riss sie sich los und verließ die Wohnung.

Pass auf, du Schlampe, dachte sie, ich komme.

Und das war Fehler Nummer eins.

Zarenblut - Ein Fall für Julia Wagner: Band 4

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