Читать книгу Zarenblut - Ein Fall für Julia Wagner: Band 4 - Tanja Noy - Страница 4
PROLOG
ОглавлениеNovember 1989
Mainz
Als Max Laurus sich das letzte Mal von dem alten Mann verabschiedet hatte, hatte er keinen Moment daran gedacht, dass er nicht noch einmal dazu kommen könnte, mit ihm zu sprechen. Er zog die Schultern hoch und steckte die Hände in die Taschen seiner Jacke. Schon die ganze Zeit hatte er ein sonderbares Gefühl. So, als ob irgendetwas Ungutes bevorstand. Etwas wirklich Ungutes.
Der Wind schlug ihm kühl entgegen, während er auf das Haus zuging.
In der ersten Zeit ihrer Freundschaft war der alte Mann noch freundlich gewesen. Nicht besonders redselig, er hatte sich stets nur auf das Wesentliche beschränkt, aber er war immer nett gewesen. Ab und zu ein kurzes, aufmunterndes Lächeln, mehr nicht. Sie hatten sich auch ohne viele Worte verstanden.
Dann aber hatte der alte Mann plötzlich angefangen, sich zu verändern. Immer häufiger hatte er ungeduldig die Stimme erhoben, wenn Max seine Worte nicht sofort verstand. Vor allem in letzter Zeit. Er lebte immer mehr in seiner eigenen Welt, war immer öfter in Gedanken versunken. Aber er war nie gemein. Er wurde auch nie wirklich wütend. Und er war nicht nachtragend. Doch wenn eine Frage zu einem besonders ungünstigen Zeitpunkt gestellt wurde, dann bekam er diesen Ausdruck im Gesicht …
Max seufzte leise und hob den Kopf. Links und rechts des Weges war der Wald schwarz, nackte Bäume zeichneten sich vor dem dunklen Himmel ab und wogten im Wind. In der Ferne bellte ein Hund. Dann fiel ihm ein heller Lieferwagen auf, der ein paar Meter entfernt an der Straße parkte. Er blieb stehen und musterte das Auto genauer: Die Scheiben waren verspiegelt, das Nummernschild nicht zu erkennen. Und doch bildete er sich ein, den Wagen vor ein paar Tagen schon einmal gesehen zu haben. Er erinnerte sich nur nicht mehr daran, wo das gewesen war.
Vielleicht war es aber auch nur Einbildung. Max setzte sich wieder in Bewegung, und gleich darauf erreichte er das Haus des alten Mannes.
Auf dem Boden entdeckte er etwas Glänzendes. Er stutzte, hob es auf und stellte fest, dass es sich um ein Bonbonpapier handelte. Es roch süß, irgendwie außergewöhnlich.
Als Max sich wieder aufrichtete und zum Fenster sah, verschlug es ihm den Atem.
Max Laurus war zwar erst achtzehn Jahre alt, aber er hatte schon immer schlechte Augen gehabt. Jetzt schob er seine Brille auf der Nase etwas höher und starrte noch einmal durch das Fenster.
Er verstand nicht sogleich, was er da sah. Dann jedoch bohrte sich die Erkenntnis, das Verstehen wie eine glühende Nadel in sein Bewusstsein.
Max blinzelte, schluckte. Sein Herz begann zu rasen.
Durch das Fenster sah er, dass der alte Mann in der Mitte des Wohnzimmers auf einem Stuhl festgebunden war. Sein Gesicht war voller Blut und seine Miene von Schmerzen gezeichnet. Ein Auge war zugeschwollen. Sein Bauch hob und senkte sich mit jedem gequälten Atemzug.
Ihm gegenüber stand eine Gestalt, ein Mann, der aussah wie ein Geist. Die Haare waren schneeweiß, und seinem Gesicht fehlte jegliche Farbe. Es schien vollkommen blutleer zu sein. In der Hand hielt er ein Schwert mit einer glänzenden Klinge.
Max konnte die Worte nicht verstehen, glaubte aber, sie von den Lippen des merkwürdigen Mannes ablesen zu können.
„ Wo ist der Schlüssel?“
Mit dem gesunden Auge starrte der alte Mann auf ein Kreuz an der Wand und antwortete so etwas wie: „Ihr werdet ihn nicht finden.“
„ Weißt du, wer wir sind?“
Nicken.
„ Sag es.“
„ Ihr seid die Kraniche.“
„ Dann weißt du auch, dass du das hier nicht überleben wirst, nicht wahr?“
Wieder ein Nicken.
„ Dann mach es dir doch nicht noch schwerer. Sag, wo er ist, und es wird ganz schnell gehen. Ich verspreche es dir.“
Der alte Mann begann leise zu beten: „Vater unser, der du bist im Himmel …“
„ Meinetwegen. Du hast es so gewollt.“
Der Weißhaarige legte die Spitze des Schwertes an den Hals des alten Mannes, und dann, in einer einzigen fließenden Bewegung, wurde ihm der Kopf von der Kehle getrennt.
Ein, zwei, drei Sekunden lang war Max völlig gelähmt. Die Scheibe, durch die er starrte, verwandelte sich in eine Wolke aus einer Million kleiner Kristalle. Er schrie nicht, obwohl der Schrei ihm in der Kehle steckte. Aber er bewegte sich auch nicht. In diesem Moment war er davon überzeugt, dass er sich nie wieder würde bewegen können. Er war durchdrungen von Schock und Angst. Lediglich in seinem Gehirn arbeitete es. Ein regelrechter Sturm stob durch seinen Kopf.
Der alte Mann war tot.
Geköpft.
Geköpft!
In der nächsten Sekunde wandte der farblose Mann den Blick in Richtung Fenster, und Max schrak zusammen.
Sie sahen sich direkt in die Augen. Und jetzt, endlich, machte etwas in Max’ Kopf „klick“, und er begann zu laufen.
Er hatte soeben einen kurzen Einblick in die Hölle bekommen, und dieser Hölle, das wusste er, würde auch er nicht lebend entkommen. Sie würden auch ihn schon sehr bald in ihren Klauen haben.
Und deshalb rannte Max jetzt.
Und rannte und rannte.
Und drehte sich nicht mehr um.
Zwanzig Minuten später stand er zitternd in einer Telefonzelle, hielt den Telefonhörer an die Wange gepresst und wählte aus dem Gedächtnis eine lange Reihe von Zahlen. Während kurz darauf der Wählton in seinem Ohr dröhnte, glühten die Gedanken in seinem Kopf wie heiße Nadeln. Der Schmerz war fast unerträglich. Verzweifelt versuchte er, klar zu denken, aber er verspürte nichts als fürchterliche Angst.
Sie lassen niemanden davonkommen, dachte er. Sie sind nicht erfüllt von grenzenloser, göttlicher Liebe, im Gegenteil, sie sind die Teufel, von denen der alte Mann immer erzählt und vor denen er gewarnt hat.
Schweiß rann über Max’ Gesicht, tropfte von seiner Nasenspitze und ließ den Hörer in seiner Hand glitschig werden. Er blinzelte, während es am anderen Ende klingelte. Und noch einmal klingelte. Und zum dritten Mal. Und zum vierten Mal, bevor endlich abgenommen wurde.
„Was ist passiert?“
Es wurden keine Begrüßungsworte ausgetauscht. Es würden auch keine Namen fallen. So war es viele Male einstudiert worden.
„Er ist tot. Sie haben ihm mit einem Schwert den Kopf …“ Max brach ab, hatte das Gefühl, zu fallen. Ein endloser Fall, schwindelerregend und ohne Ende.
Am anderen Ende herrschte ein paar Sekunden lang Schweigen. Dann: „Somit ist es jetzt deine Aufgabe.“
„Aber ich … Ich bin doch nur …“ Verzweifelt zwang Max sich dazu, zu denken, gegen die Panik anzukämpfen. „Wie soll ich das anstellen?“
„Du weißt, was zu tun ist, du bist der Richtige.“
Die Worte verstärkten die Anspannung in Max nur noch zusätzlich. „Sie wissen selbst, dass das nicht stimmt. Und wer sagt mir überhaupt, dass sie mich finden wird? Dass sie überlebt? Und dass ich überlebe.“
Wieder rauschte einen Moment lang das Schweigen in der Leitung, als der Angerufene offenbar über das Gesagte nachdachte. Dann: „Niemand.“
„Das erfüllt mich nicht gerade mit Zuversicht.“
„Sie wird geleitet werden. Pastor Jordan ist ein guter Lehrer. Ihr verstorbener Vater hat ihn wegen genau dieser Qualitäten dafür ausgewählt.“
„Aber wie soll sie mich finden?“
„Wie ich gerade sagte, sie wird geleitet werden.“
„Sie kann dabei sterben. Wir können alle dabei sterben.“
„Ja. Aber wir haben keine andere Wahl. Ich weiß es, und du weißt es auch. Möge Gott mit dir sein.“
Einen Moment später war die Leitung tot.
Ganz langsam legte Max den Hörer auf die Gabel zurück und verließ die Telefonzelle. Er spürte, wie schon wieder Übelkeit in ihm aufstieg. „Keine Wahl“, sagte er leise, rang nach Luft und verharrte in der Bewegung. Dann wirbelte er herum und starrte gebannt den farblosen Mann an, der langsam näher kam. War das wirklich ein Mensch? Max blinzelte. Es musste ein Mensch sein, aber er sah nicht so aus. Kälte kroch sein Rückgrat hinauf, als er in die kalten, durchsichtigen Augen blickte. Nein, das war kein Mensch, das war ein Dämon. Ein Dämon mit einem blutigen Schwert in der Hand.
Genau in dem Moment, in dem Max sich in Bewegung setzte, um davonzulaufen, durchbrach die lange Klinge des Schwertes die Dunkelheit und verfehlte seinen Hals nur um Haaresbreite.
Gott im Himmel, hilf mir!
Max rannte, und die bleiche Gestalt folgte ihm, jedoch ohne Eile. „Du kannst mir nicht entkommen! Das weißt du doch.“
Todesangst pulsierte schmerzhaft durch Max’ Adern.
„Du weißt, wo der Schlüssel ist, nicht wahr?“ Als würde er es ihm direkt ins Ohr flüstern. „Und du weißt, dass wir ihn haben wollen.“
Weiter!
In Max’ Kopf pochte es, sein Atem ging rasselnd. Gab es hier noch mehr, die auf ihn warteten?
Dort drüben! Eine Bewegung!
Kaltes Entsetzen presste Max die Luft aus den Lungen, aber er wollte auch nicht aufgeben und sich dem Unabwendbaren fügen, also rannte er in die andere Richtung. Er stolperte und fiel, schrammte sich das Gesicht auf, verlor die Brille, suchte sie verzweifelt mit den Händen, fand sie, stand wieder auf und rannte weiter. Sein Herzschlag dröhnte wie eine Glocke. Plötzlich wusste er nicht mehr, wo er war. Schatten verwandelten sich in Bäume und Bäume in Schatten.
Max stolperte erneut und fiel hin. Ein heftiger Schmerz fuhr in seinen linken Arm. Mit dem gesunden Arm hielt er ihn fest und rannte weiter.
Mit letzter Kraft erreichte er die Hauptstraße, schluchzend vor Todesangst.
Er sah die Scheinwerfer eines Autos auf sich zukommen. Hell und gleißend.
Ohne noch einmal darüber nachzudenken, warf Max sich auf die Straße.
Hannover
Langsam ließ Walter Wendt sich in seinen Sessel sinken. Dann legte er die Kassette in seinen Schoß und faltete die Hände darüber. Er zerbrach sich den Kopf, wie er die ihm übertragene Aufgabe lösen sollte, eine Aufgabe, für deren Lösung er eigentlich gar nicht die Mittel besaß. Vermutlich auch nicht den Verstand. Er war doch nur ein einfacher Mann.
Nachdenklich starrte er aus dem Fenster.
Es gab keine Alternative, das wusste er. Dies war seine Aufgabe auf Erden.
Man hatte ihm gesagt, dass die Kassette alles enthalte, was sie irgendwann bräuchte, um die Gegner ein für alle Mal zu besiegen. Wendt sah auf den silbernen Kasten hinab, betrachtete die eingravierten Zeichen und Symbole, deren Bedeutung niemand verstand, der die Sprache nicht kannte. Er selbst verstand sie auch nicht. Aber er wusste, dass sie alles verstehen würde, wenn die Zeit gekommen war.
Wenn die Zeit gekommen war.
Wendt seufzte leise. Die Aufgabe würde alles von ihm fordern, und er hoffte von ganzem Herzen, dass er den Mut und die Kraft finden würde, bis zum Ende durchzuhalten.
Während er seine eigenen Augen betrachtete, die sich im Fenster spiegelten, nickte er leicht.
Dann erhob er sich wieder und machte sich daran, die Kassette vor den Feinden zu verstecken. So, wie es ihm aufgetragen worden war.
Wittenrode
Nach dem Abendbrot und dem Gebet, wenn die Kinder des Waisenhauses in ihren Betten lagen und eingeschlafen waren, wenn endlich alles still war, dann saßen sie in Pastor Jordans Büro. Er trug selbst zu dieser späten Stunde immer noch seinen schwarzen Anzug, und vor ihm auf dem Tisch lag ein ebenso schwarzes Notizbuch.
„Erzählen Sie mir von ihm“, bat Julia, während feine Staubteilchen wie aufgewirbelter Goldstaub in der Luft schimmerten. „Erzählen Sie mir von meinem Vater.“
Jordan sah sie einen Moment lang an, dann sagte er mit ruhiger und ernster Stimme: „Er war ein guter Mann. Ein tapferer Mann.“
„Ein Held.“
„Ja. Ein Held, der sich vor keinem Kampf scheute.“
Julias Augen schimmerten im dämmrigen Licht. „Er hatte keine Angst.“
„Oh doch“, sagte Pastor Jordan. „Er hatte Angst. Aber man kann auch ein Held sein, obwohl man Angst hat. Vielleicht gerade dann. Verstehst du, was ich meine?“
„Dass man weitermacht, auch wenn man Angst hat?“
„Richtig. Und genau das hat dein Vater getan. Er tat, was er für richtig hielt, obwohl er sehr viel Angst hatte. Und das macht ihn zu einem wahren Helden.“
Für einen kurzen Moment sah Julia aus dem Fenster, suchte nach den Sternen am Himmel, die kaum zu sehen waren. Dann wandte sie sich Jordan wieder zu. „Er hat gesagt, dass ich ein Engel bin. Ein guter Engel.“
„Oh ja, das bist du“, antwortete Jordan. „Du bist ein guter Engel. Dein Vater hat dich sehr geliebt, und deshalb tat er das Tapferste, was es gibt. Und er tat es für dich.“
„Und was war das?“
„Das wirst du erfahren, wenn du etwas älter bist.“
Es war Julia anzusehen, dass sie mit dieser Antwort nicht zufrieden war, und so fügte Jordan hinzu: „Was wir hier tun, ist ein Geschenk deines Vaters an dich. Was du später damit machen wirst, ist dein Gegengeschenk an ihn.“
„Das verstehe ich nicht.“
„Ein Jegliches hat seine Zeit, Julia. Und alles Vorhaben unter dem Himmel hat seine Stunde. Es ist noch nicht so weit, aber wenn es so weit ist, wirst du vorbereitet sein.“
„Aber …“
„Lass uns anfangen.“ Jordan schlug das Notizbuch auf.
Auf den ersten Seiten war die einst schwarze Tinte im Laufe der Jahre zu einem trüben Braun verblasst, und es war eine schwierige Aufgabe, die Kreise, Striche, Kreuze und Punkte zu erkennen. Die Schrift war krakelig und völlig fremd, geschrieben in einer Sprache, die man nicht in der Schule lernte. Nicht Griechisch, nicht Hebräisch, nicht Arabisch.
Es war schwer, sich alles zu merken. „Warum müssen die anderen Kinder das nicht lernen?“, fragte Julia. „Warum nur ich?“
Jordan war einen Moment lang verblüfft. Nicht über die Frage selbst, die stellte sie fast jeden Abend, nein, er war überrascht über den Tonfall ihrer Stimme.
„Weil es wichtig ist“, sagte er. „Das habe ich dir doch gerade erklärt. Es ist sehr wichtig für das, was noch kommen wird.“ Seine Augen machten klar, dass er mehr dazu nicht sagen würde, und so lernten sie wieder, wie sie es jeden Abend taten.
Schließlich kamen sie zu den Symbolen.
„Weißt du, was das hier bedeutet?“, fragte Jordan und deutete auf einen Kreis in einem zweiten Kreis.
Julia nickte. „Es bedeutet Licht.“
„Richtig. Es ist das Zeichen der Engel.“
Und so ging es weiter, Symbol für Symbol. Und es waren nicht wenige, die es zu lernen galt.
„Die Wahrheit verbirgt sich im Rätsel.“ Das sagte Jordan oft. „Sie ist nie das, was sie vorgibt zu sein. Deshalb müssen wir lernen, sie zu erkennen und zu entziffern. Verlasse dich niemals nur auf deine Augen. Du musst hiermit sehen.“ Er deutete zuerst auf seine Stirn und dann auf sein Herz. „Wenn du das tust, wirst du die Wahrheit erkennen. Du wirst sie sehen.“ Er beugte sich etwas vor und sah Julia tief in die Augen. „Das darfst du niemals vergessen, hast du das verstanden?“
Sie nickte langsam.
„Du musst immer genau hinsehen“, fügte Jordan ernst hinzu. „Versprichst du mir das?“
Sie nickte noch einmal, und dann entließ er sie.
Bis zum nächsten Abend.